Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, blickt mir eine alte Frau entgegen. Ich sehe meine grauen Haare, jede einzelne Falte in meinem Gesicht und frage mich: Wie alt bin ich eigentlich?
Ich weiß es nicht.
Ich habe es vergessen – und es ist mir gleichgültig.
Das Haus verlasse ich kaum noch. Die meisten Lebensmittel lasse ich mir bringen, immer die gleichen - daran hat sich seit Jahren nichts geändert. Außer, dass die Anzahl der Portweinflaschen gestiegen ist.
Deutlich.
Das Haus ist groß und kalt. Ich heize nicht. Dafür gibt es keinen besonderen Grund, bis auf die Tatsache, dass es immer so war. Ich liebe Gewohnheiten. Deswegen bin ich auch geblieben. Hier … allein mit ihr. Lange habe ich mir eingeredet, dass es Pflichtbewusstsein wäre, weil es sich edel und gut anhört. Die Wahrheit hingegen ist einfach nur bieder, glanzlos, nüchtern und gerade Letzteres passt nicht zu mir.
Meine Geschwister sind längst geflüchtet. Wie ich sie verflucht habe, damals, als sie mich nacheinander im Stich ließen! “Keine Sorge“, meinten sie. „Du bist nicht allein. Es wird immer jemand nach dir schauen.“ Und, nach einer kleinen Pause: “Natürlich auch nach ihr, sie ist schließlich unsere Mutter!“ Noch heute warte ich darauf!
Als Jüngste brauchte ich noch jemanden, der sich um mich kümmerte, wenn auch mehr schlecht als recht.
Als auch ich endlich hätte verschwinden können, bin ich geblieben. Aus Gewohnheit.
War das nicht ebenso feige, wie die Flucht zu ergreifen?
Doch ich denke nicht mehr oft darüber nach.
Mein Tagesablauf ändert sich nie: Er ist zwar öde und trist aber immer gleich, das gibt mir Sicherheit.
Ich versorge sie, so gut ich kann. Da sie nie zufrieden ist, spielt es keine Rolle, ob ich mir Mühe gebe oder nicht.
Seit Jahren hat sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen, ist auf mich angewiesen. Inzwischen ist sie eine Greisin, ihre Augen sind getrübt - aber wenn sie mich anschaut, da verändern sie sich und ich habe immer noch Angst. Wenn sie mich mit ihrem teuflischen, funkelnden Blick durchbohrt, schaudert es mich.
Dennoch betreue ich sie, weil ich das immer getan habe. Es wäre wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit so weitergegangen, wäre da nicht eine schleichende Veränderung in mein Leben getreten.
Zuerst handelte es sich nur um einen leichten Duft. Viele hätten ihn gar nicht wahrgenommen. Wer aber jahrelang, Tag für Tag, das gleiche, eintönige Leben führt, reagiert auf die winzigste Abweichung.
Woher kam der Geruch, was hatte er zu bedeuten? Fragen, unerträgliche Fragen, sie brachten die Angst mit sich.
Angst. Viele benützen das Wort zu Unrecht, weil sie damit eine unangenehme Empfindung, ein leichtes Unbehagen meinen. Davon rede ich nicht!
Wovon ich spreche, ist dieses lähmende, ungeheuerliche Gefühl, das alles verschlingt und einem die Kehle zuschnürt. Eine Beklemmung, die aus den Tiefen der Seele kommt, sich ihren Weg bahnt, langsam und stetig, bevor sie sich wie dicke, schwarze Tinte, über das gesamte Wesen ergießt. Die plötzliche Gewissheit, dass man sich hilflos in den Fängen unsichtbarer und grausamer Dämonen befindet.
Stundenlang saß ich reglos da, traute mich kaum zu atmen, während der Geruch intensiver wurde, richtig aufdringlich.
Ob sie es auch riechen konnte?
Es hätte mich beruhigt, denn es wäre ein Hinweis darauf gewesen, dass ich nicht verrückt war. Aber ich mochte sie nicht fragen. Jahrelanges Schweigen hatte mich vergessen lassen, wie man spricht. Meine Stimme funktionierte noch, ich konnte sie manchmal hören, nachts in meinen Albträumen, doch es war nur noch ein Schreien.
Lange grübelte ich darüber nach, woher der Duft kam, bis ich zu jener erschreckende Erkenntnis gelangte: Er strömte aus mir.
Ich weiß nicht mehr, wann es mir klar wurde. Durch den Alkoholkonsum schrumpfte mein Erinnerungsvermögen immer schneller und drastischer. Ironischerweise war es ein Rausch, dem ich die nächste, noch grauenvollere Einsicht verdankte. Die Botschaft, die ich in meinem Delirium empfing schaffte Gewissheit:
Diese süßliche, unerträgliche und doch betörende Wolke: Es handelte sich um die Fährte des Todes.
Klarheit gelangte in meinen Kopf, endlich. Obwohl ich zuvor einzig und allein durch die Ungewissheit zerfressen wurde, fühlte ich mich nun keineswegs besser.
Der Tod konnte mir keine Angst einjagen. Wer ein miserables Dasein fristet, fürchtet sich nicht davor zu sterben, und ein elenderes Leben als meines war kaum vorstellbar. Mich quälte etwas anderes: Das nicht Voraussehbare.
„Wann“, fragte ich, „wann und auf welche Art gedenkst du zu kommen schwarzer Engel des Todes? Wirst du mich treffen wie ein Schlag oder mich leiden lassen? Woran werde ich dich erkennen?“
Mein Portweinkonsum hatte seinen Höhepunkt überschritten. Irgendwann sträubt sich der Magen, dagegen kann man nichts tun.
Ich versorgte Mutter nicht mehr so gut. Glaube ich.
Jedenfalls beschwerte sie sich zunehmend und ihre glühenden Augen suchten sich Wege in mein Innerstes, um dort ein Feuer zu entfachen, das mich unter höllischen Qualen verbrennen ließ. Doch im nächsten Moment wurde ihr Blick frostig und das Blut in meinen Adern verwandelte sich in Eiswasser.
Mehr und mehr wurde sie unzufrieden. Das wollte ich eigentlich nicht, doch unerbittlich löste der Alkohol mein Hirn auf.
Hatte ich ihr das Essen gebracht, oder nicht? War ich überhaupt in ihrem Zimmer gewesen, oder lag ich schon den ganzen Tag im Bett und erbrach, zumindest einen Teil, des überschüssigen Portweins?
Was für ein Gedanke plagte mich neulich?
Verdiente es überhaupt noch den Namen von Denken, dieses kümmerliche, mühsame Aneinandersetzen von Ideen? Einfälle einer Verrückten - denn ich fühlte mich dem Wahnsinn nahe. Geräusche ließen mich erstarren. Schritte. Ich fragte mich, ob sie es war.
Beobachtete sie mich? Folgten mir ihre missbilligenden Blicke?
Erinnerungen schlugen auf mich ein, wie eine von unsichtbarer Hand geführte Peitsche.
Oder war es ihre Hand?
Unmöglich! Dazu ist sie längst zu schwach! Und ich bin schließlich kein Kind mehr. Das ist vorbei. Oder?
Wurde die Zeit zurückgedreht? Wer hatte es gewagt das zu tun?
„Zeig dich, du Schurke!“ schrie ich in die Nacht. „Zeig dich, wenn du kein Feigling bist!“ Zuerst wurde es ganz still. Dann hörte ich ein Flüstern, ganz dicht an meinem Ohr:
„Du bist tot, meine Liebe“, zischte eine bösartige Stimme. „Längst gestorben, wusstest du das nicht?“ Ich schüttelte den Kopf, immer und immer wieder.
Nein.
Nein!!
Aber was, wenn es stimmte? Wenn ER schon da gewesen war ohne dass ich es bemerkt hatte?
Wer lachte da?
„Hör auf mit deinem höhnischen Lachen, wer immer du bist.“
Ich konnte den Lichtschalter nicht finden. Da! In der Dunkelheit verfolgten mich ihre bösen Augen. Sie funkelten, suchten nach mir. Es konnte kein Entrinnen geben.
Der Tod, ich sah seine leuchtende Gestalt. Es war der Tod, nicht zwangsläufig mein Tod. Vielleicht musste sie sterben?
Stille.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, es sind nur ungeordnete Bilder in meinem Kopf. Menschen, ja, jetzt sehe ich sie, kann sie sogar hören. Sie sagen, dass früher fünf Kinder mit ihrer geisteskranken Mutter hier gewohnt hätten.
Der Vater sei irgendwann verschwunden.
Man vernahm oft Schreie, die Kinder seien verstört gewesen, doch man wollte sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen. So was bringt nur Ärger. Später sind sie ohnehin weggezogen. Alle.
Bis auf die Jüngste. Die war geblieben. Es konnte also gar nicht so schlimm gewesen sein, mit der Alten.
Früher wollte niemand dieses Haus betreten und nun sind auf einmal so viele da. Sie zeigen auf mich.
Entsetzt.
Ich schaue an mir hinunter und traue meinen Augen nicht. Alles ist voll Blut, klebriges, dickes, Blut. Mein Nachthemd ist davon übersät.
Einer der Menschen ist ganz nah bei mir.
„Ich bin Arzt“, sagt er. „Sie brauchen keine Angst zu haben, niemand wird ihnen etwas tun, ich verspreche es Ihnen. Mein Name ist Dr. Berner. Ich bin Psychiater.“
Er scheint sehr sanft zu sein, aber vielleicht ist es ein Trick? Möglicherweise gehört er zu den Dämonen.
„Was halten Sie in Ihren Händen?“, fragt er. „Würden Sie es mir zeigen?“
Ich schaue auf meine Hände, hatte gar nicht bemerkt, dass sie zu Fäusten geballt sind.
Er öffnet sie vorsichtig, doch bestimmt.
Es durchfährt mich wie ein Blitz. Mein ganzer Körper zittert. Angst, Ekel, und Entsetzen überkommen mich.
In meinen Händen, in meinen blutverschmierten Händen, liegen zwei furchterregende Augen.
Sie müssten tot sein - doch sie starren mich an.
Und für einen Augenblick kann ich es ganz deutlich erkennen: dieses böse, teuflische Funkeln.
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.42 Uhr Dieser Text enthält 8648 Zeichen.