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März 2006
Mitternachtskind
von Claudia Göpel

Eine wunderbare Schwangerschaft. Von der gefürchteten Morgenübelkeit bleibe ich verschont. Ich kann essen was ich will, ohne unnötige Fettpölsterchen anzulegen. Ich fühle mich fantastisch und sehe auch so aus.



Jetzt, kurz vor dem Ende, kann ich die Geburt kaum erwarten. Fasziniert streiche ich über meinen prallen Bauch, der keinerlei Risse aufweist und berühre zärtlich die kleinen Beulen, die sich mal rechts mal links vom Nabel zuckend wölben. Ein Beinchen oder ein Arm? Au, das war ein ziemlich kräftiger Tritt. Also doch ein Bein. Magst Du meine Berührungen nicht oder übst Du schon für später, mein Schatz? Die Antwort ist ein ziehender Schmerz in der Nierengegend. Geht es etwa schon los? Beruhigend lege ich beide Hände dahin, wo ich das Köpfchen vermute. Es fühlt sich an, als zöge sich mein Bauch nach innen. Gleichzeitig hören die Kindsbewegungen auf. Ist das normal? Erschrocken presse ich meine Hände auf den Leib. Keine Angst, Liebling, nicht mehr lange und Du liegst in meinen Armen, beruhige ich uns beide. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer des Notdienstes. Wieder dieses Ziehen, das von den Nieren kommend über die innere Bauchwand bis zum Schoß strahlt und meine Hüften verkrampft. Dann verknotet jemand meine Gebärmutter...



Die gekachelten Wände wirken kühl. Über der Tür tickt mir eine Bahnhofsuhr 11.15 Uhr entgegen. Mittag oder Nacht? Ich liege breitbeinig auf einer Pritsche, nur mit einem weißen Laken bedeckt. Schweißtropfen rinnen mir von der Stirn in Ohren und Nacken. Brust und Rücken sind wie gebadet und unter meinem Hintern wird es feucht. Im linken Handrücken steckt eine Nadel. Aus einer Glasflasche über mir tropft durchsichtige Flüssigkeit durch den Schlauch. Zwischen meinen nassen Schenkeln kringeln sich mehrere Kabel. Mein Atem fliegt und mein Hals ist trocken. Nervös schluckend beobachte ich den Apparat zu meiner Rechten, der quälend langsam einen Papierstreifen mit Sinuskurven ausspuckt. Die Kurve erreicht gerade den Gipfel und mein Bauch krampft sich schmerzhaft zusammen. Alles in Ordnung, Schätzchen, höre ich eine mütterliche Stimme und spüre behandschuhte Gummifinger auf meiner Stirn. Wo ist mein Kind, frage ich ängstlich. Der kleine Racker hat noch keine Lust, ans Tageslicht zu kommen, sagt sie freundlich und zieht eine Spritze auf. Ich will keine Spritze, ich will mein Kind! Immer mit der Ruhe, was hineingekommen ist, kommt auch wieder raus.



Pressen, jetzt! Pressen! Und atmen nicht vergessen. Gleich geht’s weiter. Und jetzt wieder pressen, pressen. Pressen. Atmen. Himmel, wie soll ich gleichzeitig pressen und atmen! Es zerreißt mich! Die Maschine neben mir rattert auf Hochtouren, die Bahnhofsuhr zeigt Zehn vor Zwölf. Pressen! Das Köpfchen ist schon zu sehen. Jetzt gleich, noch einmal. Gut machen Sie das. Der Kopf kommt. Weiter pressen! Weiter! Halt, stopp. Oh Gott! Was ist? Aufhören mit pressen! Was ist los? Sie sollen aufhören mit pressen! Nein, ich kann nicht. Aufhören! Er steckt fest. ER? Es steckt fest, es steckt fest irgendwie. ES steckt fest? Doktor, kommen Sie schnell! Was ist denn? Was ist mit meinem Kind? Die Spritze, Schwester. Spritze? Wieso, ich will keine Spritze. Was ist mit dem Kind, heule ich. Es hat sich in der Nabelschnur verfangen. Wir müssen abbrechen. Abbrechen? Was denn abbrechen? Der Kopf guckt doch schon fast raus! Meine Stimme überschlägt sich. Keine Panik, alles wird gut, sagt die Gummihand. Dann wird mir schwarz vor Augen.



Das ist schwierig, seufzt der Arzt und wetzt die Messer. Was ist schwierig? Wir können das Kind nicht holen. Aber es ist doch schon beinahe draußen! Ja, aber nur beinahe. Von der Hüfte an steckt es drin und wir können es nicht holen. Aber die Medizin ist doch schon so weit fortgeschritten, da muss es doch eine Möglichkeit geben. In diesem Fall nicht, wir können nur abwarten. Oder reicht Ihnen auch ein halbes Kind? Fassungslos starre ich auf den Chirurgenstahl. War ein Scherz, nur ein Scherz. Also jedenfalls hat es den Anschein, dass er noch nicht auf diese Welt will. Er klammert sich in Ihnen fest und wir können nichts machen, ohne Ihr oder sein Leben zu gefährden. ER? Ja, es ist ein Junge. Sagt der Monitor. Kann ich ihn sehen? Aber sicher, schauen Sie nur. Ich richte mich mühsam auf und beuge mich nach vorn. Da liegt er, zwischen meinen Beinen. Die Fäustchen neben seine zerknautschten Wangen gepresst. Die Augen sind geschlossene Schlitze. Die kleine Brust hat schon richtige Warzen, der Bauch ist mit einer weißen Schmiere bedeckt. Ein gedrehter bläulicher Schlauch verschwindet pulsierend in meiner gedehnten Vulva. Der Rest steckt in mir. Er atmet nicht. Doktor, er atmet nicht! Natürlich nicht, tadelt der Arzt mit hochgezogenen Brauen, er wird nach wie vor durch die Nabelschnur versorgt. Ruhen Sie sich aus, später sehen wir weiter. Ich lasse sie beide jetzt allein. Was? Bitte nicht allein lassen! Wo ist denn die Hebamme? Bei einer normalen Geburt, was glauben Sie denn!



Er wächst schnell. Ich habe mich an den Druck in meinem Inneren gewöhnt und aufgehört zu versuchen, ihn nach draußen zu ziehen. Es ist zu schmerzhaft. Von den Hüften abwärts ist er in meinem Schoß verankert und ich beginne langsam, mich damit abzufinden. Am Anfang war es sehr schwer. Meine Brust produzierte Milch, die nicht benötigt wurde und die Spreizung in meinem Schritt blieb quälend unbequem. Mittlerweile ist es selbstverständlich für mich, mein Kind nur in gekrümmtem Zustand liebkosen zu können. Er geniest die Berührungen, öffnet jedoch nie seine Augen. Ich habe eine Art Tragesack genäht, damit ich ihn zum Einkaufen mitnehmen kann, ohne dass er mich allzu sehr behindert. Jetzt im Sommer ist das noch kein Problem. Er klammert sich mit seinen Fäustchen an meiner Haut fest. Mein Bauch ist mit blauen Flecken übersät. Die Muskeln meiner Schenkel sind wegen der unnatürlichen Haltung ständig verspannt. Ansonsten ist er sehr pflegeleicht. Sein Mund bleibt lautlos. Er schläft, wenn ich schlafe und Windeln brauche ich nie. Ich wage mir nicht vorzustellen, warum nicht. Meine Mutter nervt. Sie fragt, wann sie endlich ihren Enkel sehen und ihm die selbst gestrickten Strampler anziehen darf. Ach, Mama! In der Wanne ist es am erträglichsten. Dann spüre ich ihn nicht. Mein Bauch ist kaum mehr gewölbt. Seine unteren Extremitäten benötigen wenig Platz. Sie scheinen zusammengewachsen und saugen sich polypengleich in meine Organe Das warme Wasser umfängt meinen Körper. Ich lasse mich fallen. Wie lange noch? Er oder Du, hämmert eine Stimme in meinem Kopf. Er oder ich? Mein Herz klopft zum Zerspringen. Er oder ich, fordert es. Also gut. Ich werde ihn heraus ziehen. Endgültig. Jetzt! Ein stechender Schmerz stoppt mein Vorhaben. Das Kind klammert sich an der Nabelschnur fest. Setzt eine Faust vor die andere, wie beim Seilziehen. Eine kleine Hand verschwindet in meiner Vagina. Oh Gott, er versucht, wieder in meinen Bauch zu gelangen! Nein! Raus mit Dir! Raus! Lass mich in Ruhe!



Was für ein Alptraum! Wo bin ich? Ich streiche das Laken glatt. Es fühlt sich angenehm kühl an auf meiner heißen Haut. Der Mond scheint durch das Fenster und leuchtet mir ins Gesicht. Ich liege in einem Bett. Einem Klinikbett? Oh, alles ist gut. Neben mir schnarcht es leise. Ich greife nach dem Nachtlicht und stütze mich auf, um nach meiner Nachbarin zu sehen. Prompt fühle ich ein Ziehen im Unterbauch. Ich schlage die Bettdecke zurück und traue meinen Augen nicht! Da liegt er. Zwischen meinen Beinen. Die kleinen Fäustchen neben seinen Wangen. Die Augen zu einem feinen Strich gepresst. Die Haut ist glatt und rosig. Nicht faltig und verschrumpelt wie bei Neugeborenen üblich. Ich streiche sacht über den blonden Flaum auf seinem Kopf. Mein Baby. Er bewegt sich unter meiner Berührung und schmiegt sein Köpfchen in meine Handfläche. Seine Lippen zucken. Will er etwa weinen? Nein, es sieht aus als würde er lächeln. Dann öffnet er die Augen. Dunkelblau, fast schwarz. Er blickt mich aufmerksam an. Können Neugeborene schon sehen? Ich lächle zurück. Da bewegt er seinen Mund und formt die Lippen. Was? Mama, sagt er deutlich. MAMA! Und gleichzeitig stößt er seine Beine in meine Gebärmutter. Ich fange an zu schreien.



Na, Sie haben ja ein Organ, schmunzelt der Arzt, als ich aus dem Nebel auftauche. Sind Sie wieder da? Die Bahnhofsuhr zeigt Punkt Zwölf. Die Hebamme hantiert zwischen meinen Schenkeln. Das haben Sie prima gemacht. Ein Mitternachtskind. Es ist ein Junge. Ich weiß, denke ich erschöpft. Dann legt sie mir das schmierige Etwas auf die Brust. Mein Sohn. Er ist ganz warm. Und feucht. Sein Köpfchen ruht in meiner Halsbeuge, die Härchen noch ganz verklebt. Schützend umfasse ich ihn und taste den kleinen Körper mit beiden Händen ab. Erleichtert fühle ich seinen Po und darunter die Beinchen. Sie sind ziemlich kräftig, er versucht zu kriechen. Aber da ist noch etwas. Ich hebe den Kopf. Ein bläulicher dicker Strang liegt unter ihm, pulsiert auf meinem nun fast flachen Bauch, ringelt sich um seine Beine und verschwindet in meinem Innern. Schneidet das ab, kreische ich. Schneidet das ab! Das Kind öffnet ein Händchen, greift danach und umschließt die Nabelschnur mit seiner kleinen Faust. Dann sieht es mich an und lächelt.



© Claudia Göpel

15.03.2006



Die Geschichte entwickelte sich aus einem Gedankensprung meines 6-jährigen Sohnes. Er ließ sich gestern von mir erklären, wie er geboren wurde. Dann sagte er plötzlich: „Und wenn ich stecken geblieben wäre…“ „Es ist noch nie jemand stecken geblieben“ „Ja, aber wenn, dann müsstest du jetzt sogar mit in den Kindergarten kommen und wärst immer bei mir.“ Na, Klasse! Aber als Grundlage für eine Story fand ich die Idee hervorragend…

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.31 Uhr
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