Bitte lächeln!
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März 2006
Alles wie immer
von Elsa Rieger

Kurt erträgt das sonntägliche Familienfrühstück am besten, wenn er sich hinter der Zeitung verschanzt. Wen wundert’s? Seine Tochter Ina blafft herum; das Kinn ist geschwollen, nachdem sie stundenlang an einem Pickel herumgedrückt hat.

„Du bist fünfzehn, das sind die Hormone.“ Ich schenke den Orangensaft ein.

„Hach!“ Sie klatscht Mayo auf ihren Toast.

„Kein Wunder“, sage ich und verdrehe die Augen.

„Mutter!“

Neuerdings nennt sie mich nicht mehr Mama, ich warte nur darauf, dass sie mich mit „Rita!“ abmahnt.

Jimmy quengelt: „Mag nicht Saft.“

Mag nicht, kann er am besten.

Das Glas kippt um, die klebrige Flüssigkeit durchtränkt das weiße Tischtuch. Kurt ruckelt seinen Stuhl weg, als ich mit der Küchenrolle ankomme.

Kay, mein mittlere, scheint unberührt von allem, lauscht leeren Blicks rund um die Uhr Tokio Hotel aus den Ohrstöpseln. Vor einem Jahr beschloss er, sich hinter einer Schallmauer zu verkriechen. Jetzt ist er dreizehn und ich frage mich, ob er jemals wieder einen anderen Satz an Kurt oder mich richten wird, als: „Kann ich mein Taschengeld ...?“ Sein Gehör wird noch draufgehen.

„Mutter, was mach ich nur?“ Ina sieht mich klagend an, als hätte ich Schuld. „Heute ist Sissys Geburtstagsfete, ich kann doch nicht so ... wie ein Monster ...“

„Leg das drauf, dann sehen wir weiter.“ Ich gebe ihr Eiswürfel, eingeschlagen in ein Geschirrtuch.

Kurt lässt für Sekunden die Zeitung sinken, seufzt und rührt Zucker in seinen Kaffee. Ich versuche ein Lächeln, er erwidert es nicht.



Jimmy sagt: „Da ist ein Mann.“



Gerade hebe ich den Kopf aus dem Mülleimer, um zu sehen, was er meint, da steht der Fremde in der Küchentüre, die zu unserem Garten führt.

Ein Schnitt zieht sich vom Augenwinkel über die Wange zum Unterkiefer, das schmutzige T-Shirt ist blutverschmiert.

„Hinsetzen!“, stößt er hervor. Seine Augen rollen, der Brustkorb hebt und senkt sich. Am Schlimmsten ist die Waffe, die er in der Hand hält. Er schwenkt sie in meine Richtung. „Los, hinsetzen jetzt!“

Ina wimmert, ich gehorche.

„Was macht der große Junge, Mami?“ Jimmy zerdrückt die Honeypops in der Müslischale. Der Raum ist erfüllt von dem Knistern, dem schweren Atmen des Eindringlings, der höchstens siebzehn ist, und Tokio Hotel aus Kays Kopfhörern. Kurts Hände, die immer noch die Zeitung halten, zittern.

Ich lasse die Knarre nicht aus den Augen, sage: „Der Junge ist nervös, Jimmy, hör auf herumzumantschen.“ Ich kenne das Fabrikat, eine Luger. Mein Vater hatte so eine Pistole und machte mit mir Schießübungen als ich ein Teenie war.

Das Knistern verstummt. Ich habe das Gefühl, mein Herzschlag dröhnt durch die Küche. Ein Tropfen Blut rinnt die Wunde entlang, hängt am Kinn, landet auf den Fliesen. Wenn ich nicht solche Angst hätte.

„Können Sie das versorgen?“ Er zeigt auf seine Wange.

Ich nicke, stehe ganz langsam auf. „Das Verbandszeug ist im Bad.“

Sein Blick flackert. Ich sehe, er denkt nach. Dann deutet er auf meine Tochter. „Hey, du da, komm her!“

Ina reißt die Augen auf, schlägt die Hände vor den Mund und schüttelt den Kopf. Kay steht auf, stöpselt sich ab und legt den Player auf den Tisch. „Ich komme, okay?“

Der junge Mann nickt, und ich staune. Kay, der sich nicht im Mindesten für den Rest der Familie interessiert? Als er die paar Schritte Distanz überwunden hat, packt der Kerl ihn am Kragen. „Wo ist das Bad?“

„Oben“, antworte ich.

„Sie kommen s o f o r t wieder, haben wir uns verstanden? Kein Telefonat, keine Flucht!“ Er schreit fast, dreht sich zur offenen Türe um, tritt sie zu.

„Klar.“ Ich rase los, rutsche auf der Treppe aus, schlage mir das Schienbein auf, fetze im Badekästchen alles zu Boden, bis ich endlich das Verbandszeug in die Finger kriege, die Flasche zum Desinfizieren, stolpere wieder hinunter und lande atemlos in der Küche.

Kay wird weggestoßen, stürzt, Kurt springt auf, doch der Bursche richtet sofort die Waffe auf ihn. „Ein Schritt ... hinsetzen!“ Dann zerrt er einen Stuhl unter sich. „Machen Sie schon!“

Kurt nimmt wieder Platz; die Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen, er kaut auf der Lippe. Inas Gesicht ist nass, lautlos weint sie, und Kay lehnt an der Anrichte, die Hände in die tiefen Taschen der Skater-Hose versenkt. Er lässt den Kerl nicht aus den Augen.

Meine Finger zittern den Schraubverschluss vom Desinfektionszeug, lasse es über einen Mulltupfer rinnen.

„Was machst du, Mami? Und was is’n das für einer? Ist der Revolver richtig? Warum blutet der?“ Jimmy lümmelt auf dem Tisch, plötzlich kann er so viel sagen! Der Schock hat das „Mag nicht“ wohl abgelöst.

„Psst, Jimmy, ich helfe dem Mann. Du kennst das doch von deinen aufgeschlagenen Knien, hm?“ Ich bemühe mich um einen beruhigenden Tonfall. Als ich den getränkten Tupfer der Wunde nähere, erkenne ich plötzlich die Furcht in den Augen des Kerls. Er verhält sich wie meine Kinder, wenn ich sie verarzte. Völlig verstört. „Es tut nicht weh, diese modernen Mittel brennen nicht mehr.“ Bedächtig reinige ich den Rand des Schnittes. „Glas, nicht wahr?“

Er nickt unmerklich, zieht die Stirn in Falten.

„Ja, das kann verdammt weh tun“, sage ich, „mussten Sie denn wegrennen vor etwas?“

Er schnauft, denn ich säubere eine zerfranste Stelle, in der noch ein Splitter steckt. Als ich ihn entferne, schießen Tränen in seine Augen. „Gleich vorbei ...“

Unauffällig senke ich meinen Blick, beobachte, dass sein Arm auf dem Tisch ruht, die Waffe hat er entspannt in den Fingern. Ich lasse mir Zeit bei der Wunderversorgung und überlege, was ich tun kann. Meine Angst ist ebenso groß wie seine; der Unterschied: er hat nur Angst um sich selbst.

Meine Familie verhält sich vorbildlich. So still, als wäre sie nicht vorhanden. Braver Jimmy! Der Verbandskasten steht auf dem Tisch, ich strecke meine Hand in die Richtung, der Junge bleibt ruhig. Schon richte ich seine Waffe auf ihn, nun zittert er, bricht zusammen. Er schluchzt und ich atme auf. „Kurt, ruf die Polizei an“, sage ich.

„Längst erledigt“, antwortet Kay lakonisch. Der Teufelskerl, wie hat er das gemacht? In der Hosentasche das Handy?

„Blindflug-Sms“, ergänzt er.

„Du rührst dich nicht von der Stelle. Kann einer mal das Paketband aus der linken Lade bringen?! Los doch!“ Endlich kommt Bewegung in die Menschen, die ich mehr als mein Leben liebe. Mit beiden Händen ziele ich auf das heulende Elend, er ist wirklich nicht anders als meine Kinder, nur schlechter dran. Wesentlich schlechter. Mein Mann klebt ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, schlingt das braune Band um seine Fußknöchel.

Die Zähne des Jungen schlagen aufeinander, ich verstehe nur Wortfetzen, als er heraus stößt: „... Waffe ... ungeladen ... bitte ...“

Ich schlage die Trommel der Luger heraus. Sie ist leer. Von draußen nähert sich das Signal des Polizeihorns.

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.37 Uhr
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