Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Barbara Peters IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
März 2006
Das Wiedersehen
von Barbara Peters

Dieses Gesicht!
Unwillkürlich wich er zurück. Sein Körper krümmte und seine Hände kreuzten sich wie von selbst vor seinem Geschlecht. Er wusste nie, wohin der Mann als Erstes schlagen oder treten würde. Instinktiv versuchte er, sich zu schützen, sein jämmerliches Leben zu retten, dem Angreifer zu entgehen.

Sein Atem ging schnell und flach. Schweißperlen auf der Stirn! Seine Nackenhaare sträubten sich. Da war er wieder – der Dunst von Angstschweiß und Urin, der Metallgeruch von Blut. Seine Augen flackerten. Nein! Nicht schon wieder! Es musste doch einmal ein Ende geben.

Die Wand aus Menschenleibern in seinem Rücken gab nach. Auch seine Leidensgenossen hatten das Gesicht gesehen. Alle wichen sie zurück. Er stöhnte leise. Eine Panikwelle überrollte ihn und die anderen Gefangenen.

Er zwang sich, kontrolliert zu atmen, sah sich um. Was ihn umgab, waren nicht die nackten Betonwände der Katakombe, die er mit mehr als dreißig ausgemergelten Gestalten geteilt hatte. Er stand auf einem roten Filzteppich in einer Menschenschlange vor einer neonbeleuchteten Kinokasse. Die gläsernen Flügeltüren der Halle waren weit geöffnet, um der Mailuft Einlass zu gewähren.

Er war ja frei! Hatte alles hinter sich! Die Qual war Vergangenheit. Und doch - das Zittern in seinen Beinen, sein Herzrasen bewiesen es: Die Angst war real. Und dieser vertraute Geruch – er sog die Luft tief ein. Dabei fiel sein Blick erneut auf den untersetzten, gut gekleideten Mann, der jetzt seinen Geldschein vor der Kassiererin auf den Tresen legte. Sofort nahm er ihn wieder wahr– den Modergestank der Angst. Er wusste, die Luft des Kinofoyers war gesättigt mit Popcorn- und Kaffeeduft. Zigarettenqualm waberte vorbei. Er aber erkannte die Zivilisationsdüfte nicht, er sah das Gesicht des Untersetzten und roch den Gestank des Todes.

Er riss sich zusammen. Da vorne, wenige Schritte von ihm entfernt, stand – elegant gekleidet und frei – das Ungeheuer, das ihn und seine Schicksalsgenossen Tag und Nacht gefoltert hatte. Sicher, der Untersetzte war nicht der einzige Folterknecht, aber er war der Anführer gewesen. Die anderen folgten ihm damals blindlings. Er hatte die gemeinsten Ideen gehabt, die sadistischsten Qualen ersonnen.

Der hagere, grauhaarige Mann, dessen linkes Bein, als Folge der fortgesetzten Misshandlungen, steif geblieben war, straffte die Schultern. Er richtete den Blick seiner grauen Augen unverwandt auf den Feind. Seine Rechte suchte und fand das Springmesser, das er nach seiner Befreiung aus den Folterkerkern des alten Regimes stets in der Hosentasche trug. Seine vernarbten Finger schlossen sich um den Stahl. Das Messer tröstete ihn. Er wurde ruhiger, begann, seine Gedanken zu ordnen.

Jetzt, da er ihn wieder gefunden hatte, würde er ihn nicht mehr entkommen lassen. Es war ganz einfach. Er musste dem Untersetzten unauffällig folgen, herausfinden, wo er wohnte, und dann – warten. Geduldig warten. Er hatte ja Zeit. Und irgendwann, des Nachts in einer unbeleuchteten Gasse, konnte er ihn von hinten anspringen und mit seinem Messer abschlachten. Er würde ihn langsam töten. Die Schreie seines Opfers würden das Requiem für alle seine zugrunde gegangenen Zellenkameraden sein.

Sein sadistischer Aufseher nahm das Wechselgeld entgegen, steckte die Kinokarten in die Tasche seines Anzuges und wandte sich dem Ausgang zu. Bis der Film begann, blieb ihm noch eine Viertelstunde. Offenbar wollte er draußen, in der Maisonne, auf jemanden warten. Der Hagere kaufte sich geistesabwesend eine Eintrittskarte und blieb an einem der Pfeiler im Foyer stehen. Er behielt seinen Gegner auf der Straße im Blick. Er hatte keine Angst, dass der Untersetzte ihn wieder erkennen würde. Damals war er nichts anderes als ein kotverschmiertes Bündel gewesen, der dürre Körper übersät von eiternden Wunden, die Haare verfilzt, die Kleidung – dreckige Lumpen. Die Opfer des untersetzten Monsters sahen alle gleich aus. Jegliche individuellen Unterschiede waren zerprügelt worden.

Seine Hand glitt wieder zu dem Trost spendenden Messer. Es würde ihm sicher gelingen, sein Opfer zu töten. Qualvoll zu töten. Aber wie sollte er sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen? Auch wenn die Richter seine Beweggründe der Tat verstehen würden – er hätte einen Mord begangen. Dafür würden sie ihn verurteilen. Verurteilen müssen! Vielleicht zu einer milden, auf jeden Fall aber zu einer Gefängnisstrafe.

Luisa! Vor seinem inneren Auge tauchte ein blasses Frauengesicht mit aufgerissenen dunklen Augen auf. Er liebte die Falte der Bitternis, die ihrer Nasenwurzel entsprang. Er liebte jedes einzelne graue Haar der Dreißigjährigen. Sie war der Engel seines Lebens. Schmerzhaft hatte er es gespürt, damals, als er und die vier anderen Überlebenden von den Befreiern in den lichtdurchfluteten Gefängnishof getragen wurden. Geblendet von Sonne und Wärme schloss er die Augen, in der Gewissheit, dass alles nur auf eine weitere Folter hinauslief ...
Sie legten ihn auf eine Decke und als er zögernd die Augen öffnete, sah er in Luisas Gesicht. Bei seinem Anblick presste sie eine Faust vor den Mund und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie war gealtert, die einst dunklen Haare nun grau. Sie war geprägt von mehr als vier Jahren Ungewissheit, Einsamkeit und Angst, aber er erkannte seine Luisa und jedes graue Haar, jede Falte galt ihm, war ein Zeichen ihrer Liebe zu ihm.

Später das Glück, wenn sie ihn im Krankenhaus besuchte. Sein Engel. Sie waren beide da, nach der Hölle und der Unmenschlichkeit – sie und der Junge. Sein Sohn. Er sah den Vierjährigen zum ersten Mal im Krankenhaus. Schüchtern betrat das Kind an der Hand der Mutter das Krankenzimmer. Die Hand des Jungen in seiner Hand ... Eine kleine Kinderhand – ein Schatz – zwischen seinen vernarbten Fingern. Wie oft hatten sie ihm die Finger gebrochen, die Hände in die Flammen gezwungen, glühendes Metall in seine Handflächen gebohrt?

Luisas Stimme und das fragende „Papa?“ des Kindes ...

Mehr als vier Jahre mit seiner kleinen Familie musste er eintauschen gegen mehr als vier Jahre Hölle. Sie hatten ihm kostbare Lebensjahre und Glück gestohlen.

Er durfte nichts mehr riskieren. Jeder Tag, den sie ihn wieder von Frau und Kind trennten, war ein Tag zuviel. Sein Leben war zu kurz. Er durfte das Monster nicht töten. Es war nicht gerecht – aber er musste auf Rache verzichten. Das war er Luisa und dem Kind schuldig.

Dann ging alles sehr schnell. Eine Frauenstimme rief etwas. Sein Peiniger überquerte die Straße. Bremsen quietschten, ein platschender Aufprall – und dann ein gellender Schrei. Der Schrei eines sterbenden Tieres. Unmenschlich.

Der LKW-Fahrer konnte nicht mehr bremsen. Der Untersetzte hatte den Laster wohl nicht gesehen, hatte nur Augen für die dunkle Schönheit auf der anderen Straßenseite gehabt. Der Schrei verebbte. Blut quoll aus einem aufgerissenen Mund. Zerquetschte Beine. Unter dem Hinterkopf des Sterbenden bildete sich eine Lache aus Blut und ...?

Dann – Stille und - ein neuer Anfang.

Letzte Aktualisierung: 30.06.2006 - 07.46 Uhr
Dieser Text enthält 7031 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.