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März 2006
Ihn nie verlassen
von Ulli Komzak

Sie trafen sich als er etwa 16 Jahre alt war. Oder besser gesagt – Sie traf ihn. Mit voller Wucht. Hatte ihn ausgesucht und ging von nun an nicht mehr weg. Vielleicht war sie auch schon immer dagewesen und er hatte Sie bloss nie bemerkt.

Er mochte Sie eigentlich garnicht, es gab nichts an ihr, dass Sie sympathisch machte. Eigentlich machte Sie ihm Angst.

Sie war beherrschend, dominant und gefĂĽhllos. Ging Ihre eigenen Wege und durchkreuzte mit Vorliebe seine.

Er redete nicht über Sie, die anderen hätten nichts mit Ihr anfangen können. Er hätte auch nicht gewusst, was es zu sagen gegeben hätte. So blieb es dabei, dass niemand Sie kannte.

Sie erschien oft überraschend, kam uneingeladen auf Partys und stellte ihn bloss. Wenn er es am wenigsten erwartete, tauchte Sie auf. Kümmerte sich um ihn, als ob es nur ihn gäbe.

Dabei war Sie grausam, spielte erbarmungslose Spielchen und liess ihn von einem Augenblick auf den anderen wieder stehen.

Er konnte nichts tun, war er doch in Wahrheit von ihr hingerissen. Sie faszinierte ihn.

Obwohl Sie ihn oft genug fertigmachte, ihm fast das Gehirn zertrümmerte, sein Herz zum Rasen brachte. Seine Schwäche stachelte Sie an. Während Sie selbst Grenzen überschritt, baute Sie ihm ständig neue auf.

Dennoch – er brauchte Sie und Sie brauchte ihn. Er wusste nicht, was Sie von ihm wollte – er wusste nur, es war. So.

Sie liess sich nicht durchschauen. Oft genug versuchte er, Ihre Wege zu erkunden, Ihre Geschichte, Ihre Gegenwart, Ihre Zukunft. Ihrer beider Zukunft.

Je mehr er sie jedoch begreifen wollte, desto mehr täuschte Sie ihn. Las seine Gedanken und markierte seine Wege. Zerrte an ihm, zerstückelte ihn. Mühsam musste er sich immer aufs Neue wieder zusammenklauben.

Sie waren eine Zeit lang unzertrennlich, trafen sich jeden Tag. Und dann war Sie wieder fĂĽr Monate verschwunden. Trieb sich herum und meldete sich nie. Kam, wann Sie wollte und entschwand sogleich wieder. Hinterliess keine Spur Ihrer Existenz. Keinen Grund fĂĽr Ihr Dasein.

Doch immer wusste er, dass Sie irgendwo da draussen war, dass sie beide immer verbunden sein wĂĽrden. Sie wĂĽrde ihn nicht verlassen. Er konnte nicht weggehen von Ihr.

Sie machte ihn zu etwas Besonderem. Durch Sie fühlte er sich anders. Durch Sie war er anders. Nicht nur wenn Sie bei ihm war – allein der Gedanke an Sie veränderte ihn.

Auch wenn es ihm Angst machte, Ihre scheinbare Allgegenwart fesselte ihn.

Immer enger. An Sie.

Sie war fĂĽr ihn da. Wenn er sich schlecht fĂĽhlte, wich Sie nicht von seiner Seite, wirkte auf ihn ein und liess ihn die Welt um ihn herum vergessen.

Ihre Präsenz war umwerfend. War Sie da, war Sie er und er war Sie. Ihre Symbiose wuchs und doch verblieb Sie selbst immer in beherrschender Distanz.

Nachdem er die Schule verlassen hatte, trennten sich ihre Wege immer öfter. Andere kamen und waren für ihn da. Andere Einflüsse nahmen Gestalt an, andere Stimmen, andere Gedanken. Auch sie wollten mit ihm zusammen sein, suchten seine Nähe, wollten bei ihm sein. Lockten und drohten, mahnten und lauerten.

Doch nie war es wie mit ihr. Nichts und niemand kam ihm näher als Sie. Nie ging er sich selbst so nahe, wie in ihren gemeinsamen Zeiten. Nie spürte er sich mehr als in ihrer Gegenwart. War Sie da, baute Sie ein Vakuum um ihn und sich auf. Dann schwamm er in Ihr und Sie tauchte in ihn ein.

In seinen Beziehungen verheimlichte, verleugnete er Sie. So gut es ging. Doch oft war Sie übermächtig. Kreuzte aus heiterem Himmel auf und machte ihm die Hölle heiss.

Er betrog nicht. Er belog und täuschte. Er wich aus und ging fort. Dorthin, wo Sie ihn wieder empfang und umarmte.

Eines Tages aber hatte er genug von Ihr. Erklärte das Ende und liess Sie stehen. Wollte eine glückliche Beziehung mit jemandem und ohne Sie. Nahm sich fest vor, Sie nicht mehr an sich heranzulassen, wie heftig auch immer Sie sich zu ihm hindrängen würde.

Eine Zeit lang schien es zu klappen. Er blieb auf der Hut und vermutete Sie hinter jeder Ecke, an der er vorbeiging. Er verliess das Haus nur noch selten, aus Furcht, Sie auf der Strasse zu treffen. Er vermied jedes soziale Ereignis, um vor Ihr sicher zu sein.

Er wusste nicht, ob Sie tatsächlich verschwunden war. Er hoffte, bangte, dort wo ehedem Faszination gewesen war, blieb nur noch Angst übrig. Sie war gut im Tarnen, Meisterin der Maskerade, konnte sich selbst vertuschen, wenn es drauf ankam.

Dann hatte er eine glĂĽckliche Beziehung und irgendwann war Sie vergessen. Er ging wieder unter Leute. Sein Misstrauen verging. Die Panik, Sie zu treffen, war ein Teil eines vergangenen Lebens geworden.

Sein gegenwärtiges Leben teilte er nun nicht mehr mit Ihr.

Dass Sie ihn gerade bei seiner Hochzeit wieder ĂĽberraschte, verblĂĽffte ihn, brachte ihn beinahe zum Lachen. Originell war Sie, das musste er Ihr lassen.

Von da an war Sie mehr da als zuvor.

Sie wirbelte ihn herum, zerstörte seine Ehe und bewegte sich in kleinen Explosionen zurück in sein Leben.

Sie brachte sich ihm bei. Er litt und eines Tages landete er im Krankenhaus. Er war unter Ihrer Last zusammengebrochen und hatte sich dabei selbst verloren. Sie war alles, Sie beherrschte die Tage, Stunden und Minuten, lenkte seine Bewegungen und fĂĽhrte ihn wie eine leblose Marionette durch eine Welt, die ihm entglitten war.

Man verschrieb ihm Tabletten. Kleine weisse Pillen, eine am Morgen, eine am Abend. Damit Sie ihn nicht mehr so nachdrĂĽcklich erschĂĽttern konnte.

Die Tabletten wirkten. Natürlich konnten sie Sie nicht gänzlich zum Verschwinden bringen. Aber mit der Hilfe der Medikamente konnte er eine größere Distanz zur Ihr aufbauen.

Wenn Sie ihn besuchte, nahm er Sie nur noch schemenhaft war. Ihre Anwesenheit drang kaum mehr zu ihm durch.



Im Krankenhaus nannte man Sie nur „Generalisierte Angststörung“, manchmal auch „Panikattacke“.

Man nahm man Ihr die Einzigartigkeit. Sie bekam einen Namen und auf eine erlösende Art und Weise wurde Sie damit weniger furchterregend und beherrschend.

Er machte eine Therapie, setzte die Tabletten ab und entwarf sich neu.

Er nahm Ihr dir Kontrolle und drängte Sie schliesslich an den Rand seines Daseins. Vernichten konnte er Sie nicht, wahrscheinlich hätte er das auch garnicht gewollt.

Er wusste, die Panik war ein Teil von ihm.

Sie war er und er war Sie.



© Dax Avenue

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.30 Uhr
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