Honigfalter
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April 2006
Flashback
von Bernhard Röck

„Ihr Scheißbälger! Verpisst euch endlich, geht jemand anderem auf den Sack!“ Ralf steht am offenen Fenster und schreit auf den Hof hinaus. Die Wut lässt die Adern an seinem Hals hervortreten.

Drei Kinder starren ihn an. Eines nimmt seinen Ball hoch, ein anderes fängt an zu weinen. Eine Nachbarin eilt dazu, bückt sich, tröstet das weinende Kind.

„Ja, heul ruhig. Scheißbalg“, sagt Ralf.

Die Frau sieht ihn an. Zorn färbt ihr Gesicht rot. „Was für ein Monster sind Sie denn?“

„Gute Frau, ich versuche hier zu arbeiten … Ihre Blagen rauben mir den letzten Nerv.“

„Kein Grund, Kindern solche Angst zu machen, Sie Unmensch. Waren Sie niemals Kind?“ Sie funkelt ihn an.

Wenn Blicke töten könnten, denkt er. Rasch ist er der Angelegenheit überdrüssig. Er macht eine abschätzige Geste mit der Hand. „Sie haben keine Ahnung.“ Er schließt das Fenster.

Die Frau schimpft eine Weile, dann verschwindet sie mit den Kindern.

Ralf will wieder an die Arbeit, schließlich will sein Kunde den Entwurf am nächsten Tag. Aber die Frage der Frau bannt ihn völlig.



Waren Sie niemals Kind?



Ein seltsames Gefühl beschleicht ihn. War er zu hart? Gewissensbisse nagen an seinem Selbstbewusstsein.



Waren Sie niemals Kind?



Die Frau kann Fragen stellen, denkt er. Je länger er grübelt, desto unsicherer wird er, denn er hat keine Erinnerung daran.

Die Antwort trifft ihn plötzlich wie ein Hammerschlag: seine Kindheit endete in seinem zwölften Lebensjahr. In seinem Verstand zerreißt ein Schleier. Er hört sein Herz schlagen, als der Film in seinem Gehirn zu laufen beginnt.



Ich war ein Kind, bis …



* * *



Die Obstbäume blühten. Die Wiesen waren übersät von den gelben Tupfen des Löwenzahns. In der warmen Luft hing der Duft des Frühlings. Ralfie wurde zum Spielen nach draußen geschickt. Er hatte keine Lust, aber er musste.

Draußen war Paul. Immer.

Lieber hätte Ralfie an diesem Sonntagnachmittag ein Buch gelesen, doch seine Eltern wollten ihre Ruhe.

Kaum war er draußen, bog der Nachbarsjunge um die Ecke. Er war vier Jahre älter, größer, stärker.

„Komm, wir geh’n Frösche fangen“, sagte Paul.

„Keine Lust“, sagte Ralfie. Fröschefangen hieß, sie mit einem angespitzten Stock aufzuspießen und zuzusehen, wie sie dabei um ihr Leben zappelten.

„Du weißt, was passiert, wenn du nicht tust, was ich sage. Ich bin stärker als du.“ Paul ballte drohend seine Hand zur Faust.

„Ist mir egal“, sagte der Kleinere und blieb so breitbeinig stehen, wie er mit seinen dünnen Beinen konnte.

Paul sah ihn mit großen Augen an. Sein Erstaunen wurde zu Wut. Er packte ihn, legte den Arm um seinen Hals, nahm ihn in den Schwitzkasten.

„Tust du jetzt, was ich sage?“, fragte er.

„Nein, ich … will nicht!“, sagte Ralfie trotzig. Er spürte auf einmal eine bisher ungekannte Wut auf seinen Peiniger.

„Du wirst tun, was ich will!“

„Nein, werd’ ich nicht!“

Paul umklammerte den Hals des Kleineren mit seinem kräftigen Arm.

Ralfie zappelte, zerrte, doch der Arm hielt ihn fest, als sei er ein Schraubstock.

„Lass mich los … Arschloch!“

Pauls Gesicht sah aus wie in den Momenten, wenn er Tiere quälte, tötete. Oder irgendetwas kaputtschlug. Aus Hass. Oder aus Wut. Oder aus beidem.

Ralfie bekam kaum Luft.

„Krepier, du kleine Ratte!“, stieß Paul hervor.

Ralfie hatte Angst, wand sich verzweifelt, zappelte. Je mehr Gegenwehr er leistete, desto stärker drückte Paul zu.

Ralfie wurde schwindlig. Er erschlaffte. Ehe es um ihn dunkel wurde, wusste er, dass Paul ihn töten wollte.



Er träumte. Im Traum sah er seinen Körper von oben, als sei er ein Vogel im Kirschbaum.

Er lag rücklings mit seltsam verrenkten Gliedern unter dem Baum, seine Augen waren weit geöffnet. Kirschblütenblätter regneten auf ihn hinab, bedeckten seinen leblosen Körper.

Neben ihm saß Paul. Dieser betrachtete sein Opfer verwirrt und fasziniert zugleich. Nach einer Weile stand er auf, blickte umher, lief weg.



Ralfie erwachte. Sein Hals tat weh. Außer ihm war niemand dort.

Er stand auf. Ihm war schwindlig.

In der Scheune des Nachbarn gab es viele Verstecke. Als Ralfie am Tor stand, hörte er Pauls Stimme.

„Du kannst ja wieder gehen!“

Er sah zurück. Paul hatte einen Knüppel in der Hand. Furcht trieb Ralfie in das Halbdunkel.

Dies war keine übliche Quälerei, keine übliche Prügelei. Ralfies Leben war in Gefahr. Eine kalte Hand umklammerte und presste sein Herz zusammen. Verzweifelt sah er umher. Wo war ein Versteck?

Der Nachbar hatte ein paar Tage zuvor sein Grassilo gefüllt. Der Geruch nach frischem Gras erfüllte die menschenleere Scheune.

Ralfie lief zum Silo. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, dass Silos gefährlich waren. Fiel man hinein, erstickte man an Gasen.

In der Mauer darüber gab es eine Nische, die von außen nicht einsehbar war. Er kannte sie seit vielen Versteckspielen. Vorsichtig hangelte er über den Abgrund und schlüpfte in das Loch in der Wand. Sein Atem ging schnell. Er hatte Todesangst. Vom Tor hörte er Paul.

„Du kleiner Pisser, du hast ausgeschissen!“

Der Nachbarsjunge war immer gemein gewesen, auch seltsam, aber sein Verhalten an diesem Nachmittag war etwas Neues. Absoluter Hass lag in seinen Worten.

„Wo ist denn der kleine Ralfie?“

Dieser versuchte, ganz leise zu sein. Er bewegte sich nicht, atmete flach. Ein paar Minuten vergingen. Nichts geschah. Dann hörte Ralfie wieder die Stimme. Sie klang ruhiger als zuvor.

„Hab keine Angst, ich bin’s, Paul. Ich hab’ mich beruhigt. Ich bin jetzt nett.“

Ralfie fiel nicht darauf herein. Er hatte gesehen, wie Paul auf diese Weise eine verwilderte Katze in eine Falle gelockt hatte, um sie danach zu ertränken.

„Ich will bloß mit dir reden. Das vorhin … das war … ein Unfall. Du hast mich so wütend gemacht. Deine eigene Schuld.“ Die Stimme kam näher.

Ralfie hatte einen Kloß im Hals. Keinen Mucks machen. Nicht husten, nicht niesen, nicht atmen. Da fiel ihm ein, dass auch Paul die Nische kannte.

Sein Verfolger landete auf dem schmalen Sims vor der Nische. „Hab ich dich!“ Er grinste auf eine Art, die Ralfie Angstschauder über den Rücken jagte. Paul stand unsicher, denn der Sims war sehr schmal.

Ralfie überlegte kurz. Was sollte er tun? Er fuhr hoch, gab seinem Gegner einen Stoß.

Pauls siegesgewisser Gesichtsausdruck wich Erstaunen. „Was?“ stieß er hervor, während er nach hinten ins Silo stürzte. Ein leises Plumpsen zeigte, dass er weich auf dem Gras angekommen war.

„Du kleines Arschloch! Hol sofort eine Leiter. Oder hol meinen Vater!“

Ralfie sah nach unten.

Paul stand vier oder fünf Meter tiefer wild gestikulierend auf dem frischen Silofutter. „Ich bring dich um!“, kreischte er.

Ralfie kroch aus der Nische, hangelte über den Sims. Am Rand des Silos trat er zurück, bis Paul ihn nicht mehr sehen konnte.

„Komm sofort wieder her!“

Ralfie lief aus der Scheune. Vor dem Tor blieb er stehen.

„Bist du verrückt? Das Gas!“ Die Stimme aus dem Loch klang jetzt dumpf, leise. Ihr Tonfall war schrill.



Niemand war zu sehen. Pauls Vater war auf dem Feld, würde sicher erst abends zurückkommen. Hier draußen war kaum etwas zu hören. Die Rufe würden schwächer werden. Was sollte Ralfie tun? Mit seinen Eltern reden? Sie wollten ihre Ruhe, hörten ihm nie richtig zu. Wie oft hatte er ihnen erzählt, dass Paul ihn verprügelt hatte. Sie hatten genickt. Gesagt hatten sie nichts. Sie fürchteten Pauls Vater.

Ralfie entschied sich, Quälerei und Demütigung enden zu lassen. Für immer. Er ging nach Hause. Nach wenigen Metern hörte er nichts mehr.



Seine Eltern machten ein Nickerchen auf dem Sofa.

Er ging mit seinem Buch in den Garten, legte sich ins Gras. Die Gedanken an das Silo verdrängte er.

Wenn ihn jemand fragte, was er diesen Nachmittag gemacht hatte, wusste er, was er sagen würde. Ich habe hier im Garten gelegen, gelesen. Paul? Den hab’ ich nicht gesehen. Dazu würde er ein unschuldiges Kindergesicht aufsetzen. Doch er war kein Kind mehr.



* * *



Ralf kommt zurück ins Jetzt. Ihm ist übel. Hastig kippt er zur Seite, um sich zu übergeben. Sein Herz stolpert. Schüttelfrost lässt ihn zittern. Er rutscht vom Stuhl und geht zu Boden. Schweiß rinnt ihm über das Gesicht. Sein Atmen wird zum Hecheln. Ein Bild entsteht in seinem Kopf:

Ein Junge in einem grasgefüllten Loch. Schreiend, mit den Armen fuchtelnd. Eine grüne Woge verschluckt ihn. Ralf schreit auf. Er verliert das Bewusstsein.



Er erwacht auf dem Boden seines Arbeitszimmers, steht auf, trinkt einen Schluck Wasser. Dann sieht er aus dem Fenster. Niemand ist mehr da.



Seine Eltern hatten immer ihre Ruhe gewollt. Genauso wie er heute auch. Wurde er ein Unmensch, weil er nicht Kind sein durfte? Schuld auf sich geladen hatte, indem er seinen Quäler vernichtete?

Gibt es eine Chance, das je wieder gut zu machen, jetzt, wo er weiß ...



Mit einem Sack voller Spielzeug steht er vor der Tür der Nachbarin.

Er bewegt seine schweißnasse Hand auf den Klingelknopf zu.

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 20.29 Uhr
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