Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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April 2006
Verlorene Heimat
von Susanne Ruitenberg

„Wo ist mein Raum?“

Saskia blieb unsicher im Flur stehen. Sie wusste nicht mehr, wo sich ihr Kinderzimmer befand, hatte auch vergessen, dass man auf Deutsch nicht „Raum“ sagt.

„Hier, ich zeige dir dein Zimmer.“

Daddy nahm ihre Hand. Er öffnete die graue Tür direkt gegenüber dem Eingang. Saskia trat vorsichtig ein und sah sich um. Undeutlich erinnerte sie sich daran. Hier hatte sie früher gelebt, als sie in den furchtbaren Kindergarten gegangen war, wo sie essen musste, bis ihr schlecht wurde. Sie schritt langsam zum Fenster. Wie hoch die Wohnung lag! Die Menschen und Autos vier Stockwerke weiter unten waren ziemlich klein. Auf der anderen Straßenseite standen ebenfalls vierstockige Häuser. Man sah kaum den Himmel. Nur Mauern, die hinter den Ästen der haushohen Bäume hervorschimmerten. Saskia presste ihr Gesicht an die Glasscheibe. Regentropfen liefen daran herab. Sie fühlte sich leer. So leer wie das kleine Reihenhaus # 8 Rainbow Drive in San José, Kalifornien, in den letzten Tagen vor der Rückkehr nach Wiesbaden gewesen war.

„Saskia, dinner“, rief Mama. Saskia lief in den langen dunklen Flur zurück, dann wusste sie nicht mehr weiter. So eine große Wohnung. Keine Treppen, dafür hohe Räume.

„Hier, in der Küche.“ Mama winkte aus der ersten Tür links.



Saskia setzte sich automatisch an ihren alten Platz. Daddy stand an der Anrichte, er schnitt Brot. Olaf, ihr kleiner Bruder, trommelte erwartungsvoll mit seinen kleinen Patschhändchen auf das Tablett des Kinderstuhls.

„Ham ham Olaf wanna eat.“

„Na Saskia, freust du dich, dass wir wieder zu Hause sind und du bald in die Schule gehen darfst?“, fragte Daddy lächelnd, als er den Brotkorb auf den Tisch stellte.

„Wieso zu Hause? Wir waren zu Hause. Warum sind wir da weg? Außerdem bin ich doch schon in der Calabazas Creek School gewesen, mit Amy.“

„Nein, Schatz, hier sind wir zu Hause. Amerika, das war nur für zwei Jahre unsere Heimat. Jetzt arbeite ich wieder in Mainz.“

„Aber da ist es viel schöner als hier.“

„Wart’s ab, du wirst dich ganz schnell wieder in Deutschland einleben.“ Mama legte ein Wurstbrot auf Saskias Teller.

„Oma und Opa freuen sich doch auch auf dich.“

Saskia versuchte, einen Bissen Brot an dem dicken Kloß in ihrem Hals vorbei hinunter zu schlucken, und blickte aus dem Fenster. Die Küche lag zum Innenhof. Man sah schmutziggraue Backsteinmauern, Balkone mit gewelltem Plastiksichtschutz, Wäscheleinen verliefen zwischen den Häusern. Darüber ein winziges Stückchen grauen Himmel. Nein, das ist nicht mein Zuhause, dachte sie, das wird es nie sein. Wenn wir wirklich zu Hause wären, könnte ich jetzt mit Amy, Chris und Sean draußen spielen.

„Ich vermisse meine Freunde“, sagte sie. Ihre Augen brannten, als würden die Tränen gleich überlaufen.

„Du wirst ganz schnell neue Freunde finden, da bin ich mir sicher“, antwortete Mama.

„Aber ich will meine Freunde, ich will keine neuen.“

„Jetzt iss erst einmal.“



Nach dem Essen saß Saskia an ihrem kleinen Tisch im Kinderzimmer, vor sich ihre amerikanischen Crayola Crayons. 64 Farben, damit konnte man wirklich alles malen. Auf dem Zeichenblatt entstanden rechts und links unglaublich hohe, finster aussehende Wohnhäuser. Wie feindliche Soldaten standen sie Spalier und neigten sich drohend in die Mitte. Dort befand sich, winzig klein und verloren, ein einsames Strichmännchen. Es hatte die Arme schützend um seinen Kopf gelegt, als wolle es etwas abwehren. Saskia suchte sich aus der orangefarbenen Crayola-Schachtel die Hellgelbe heraus, „lemon yellow“ stand darauf. Sie konnte lesen, das hatte sie in der alten Schule bei Miss Bettiga gelernt. Sie hielt den Wachsstift probeweise an ihr Haar. Ja, das war der richtige Farbton. Sie malte dem Strichmännchen lange blonde Zöpfe.



Am Abend lag Saskia lange schlaflos in ihrem Bett. Alle Geräusche waren ihr fremd. Das alte Haus knarrte. Durch das Fenster hörte sie fahrende Autos und nicht, wie in San José, große Kinder, die noch lange draußen spielen durften. Endlich döste sie ein, und träumte. Sie stand im Wohnzimmer ihres kleinen weißen Reihenhauses. Es war viel geräumiger als sie es in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich, weil die vertrauten Möbel fehlten. Nur einige gepackte Umzugskisten standen an der Wand. „Hello“, rief die Traumsaskia. Das „Hello“ hallte mit hohlem Klang von allen Wänden wieder, sie zuckte zusammen. „Where are you?“, schrie Traumsaskia verzweifelt und drehte sich langsam um die eigene Achse. Niemand antwortete ihr. Sie war ganz allein auf der Welt. Keine Freunde mehr, alle weg. Traumsaskia begann zu schluchzen. Da wachte Saskia auf. Ihr Kissen fühlte sich nass an. „I want to go home“, jammerte sie leise. Niemand hörte es. Sie schlief wieder ein. Nun träumte sie, dass die Familie beim Abendbrot saß, wie vorhin. Daddy sah die Familie feierlich an und sagte:

„Wir fliegen doch wieder nach Amerika zurück.“

Saskia freute sich, wie sie sich noch nie in ihrem Leben gefreut hatte. Sie durften nach San José zurück! Gerade als sie im Traum wie eine kleine Indianerin einen Freudentanz aufführte, wachte sie auf, weil ihr Bruder im Schlaf etwas gerufen hatte. Nein! Sie hatte es nur geträumt. Sie gingen gar nicht nach Hause zurück. Die grenzenlose Freude, die sie eben noch gespürt hatte, schlug in bittere Enttäuschung um. Saskia vergrub ihr Gesicht in das Kissen und weinte sich leise in den Schlaf.



Am nächsten Tag schien die Sonne. Die Bäume sahen frisch gewaschen aus. Auch die Hauswand gegenüber wirkte freundlicher als gestern.

„Mama, mir ist langweilig“, jammerte Saskia.

„Soll ich dir dein bicycle aus dem Keller holen?“

„Au ja!“

Sie gingen zusammen nach unten. Das Haus hatte keinen Aufzug, und es dauerte etwas, die vier Stockwerke mit den knarrenden, linoleumbeklebten Holzstufen hinabzulaufen. Mama holte Saskias grünes Fahrrad aus dem Verschlag und trug es vor das Haus.

„Bitteschön. Bleib’ aber auf dieser Straßenseite und sei vorsichtig. Hier laufen mehr Leute auf dem Bürgersteig herum als in Amerika.“

„OK.“

Langsam fuhr Saskia den Gehweg herauf und herunter. In San José waren die side walks hell und glatt, man konnte richtig schnell Rollschuhe laufen darauf. Hier bestanden sie aus dunkelgrauem Asphalt, mit Rissen und Löchern, außerdem lagen überall Hundehaufen. Es stank.

„Yuck.“ Saskia wich einem davon aus. Zu Hause könnte sie jetzt mit Amy ein Wettrennen machen, oder das Fahrrad im Hof abstellen und Sean besuchen. Sie sah zu ihrem Zimmer herauf. Nein, keine gute Idee, schon wieder herein zu wollen. Also weiterfahren, auch wenn es öde und langweilig war. Plötzlich stand ein kleiner Junge vor ihr. Allein wie Saskia. Sie bremste. Schüchtern sahen sie sich an.

„Hallo. Ich bin der Peter. Peter Munk.“

„Ich bin die Saskia Heidmann.“

„Wohnst du hier?“

„Ja, schon immer. Aber wir waren zwei Jahre ganz weit weg. In Amerika.“

„Ist das weiter als München? Ich bin mal in München gewesen.“

„Viel weiter, da muss man mit dem Flugzeug hinfliegen.“

Die Unterhaltung stockte.

„Ich komme übermorgen in die Schule“, verkündete Peter stolz.

„Ich auch!“

Sie lächelten einander an.

„Vielleicht sind wir in der gleichen Klasse.“

Das würde Saskia gefallen. Peter sah nett aus.

„Weißt du was, ich hab’ auch ein Fahrrad. Wart’ hier, ich geh’s holen.“

Wider Erwarten war dieser Tag doch nicht öde. Sie fuhren zusammen den Bürgersteig entlang, mal langsam, dann wieder schneller. Saskia erzählte Peter von Amerika. Peter fand das wahnsinnig spannend.



Am Abend, als Papa sie zu Bett brachte, fragte Saskia aufgeregt.

„Weißt du was ich mir wünsche? Dass der Peter in meine Klasse kommt, und dass ich einen Lehrer kriege.“

„Das werden wir übermorgen wissen. Ich habe mir frei genommen, wir gehen alle zusammen zur Schule.“

„Olaf auch?“

„Nein, der ist zu klein. Oma kommt und passt auf ihn auf.“

Saskia war stolz. Sie würde ihre Eltern für sich haben, ohne Olaf.



Am übernächsten Tag kam Oma schon früh am Morgen. Saskia stand fertig angezogen im Flur mit ihrem roten Lederschulranzen auf den Schultern. Er passte gut zu ihren roten Sandalen und dem rot-grau karierten Kleid.

„Guck mal Oma, mein neuer Ranzen“, rief sie stolz.

„Der ist wirklich schön! Hast du auch eine Schultüte?“

„Natürlich, die steht in der Küche.“

„Na prima, ich habe nämlich noch etwas, das da rein muss.“

Oma fischte mit einem Augenzwinkern eine Tüte Gummibärchen aus der Tasche.



Saskia ging zwischen ihren Eltern mit der – natürlich roten – Schultüte in den Armen zur Schule. Es war ein großes altes Gebäude. Ganz anders als die helle flache Schule in Amerika. Drinnen roch es nach Kreide, und etwas nach alten Socken. Saskia rümpfte die Nase. In der Eingangshalle wimmelte es von Eltern, Kindern mit Schultüten, lautes Stimmengewirr erklang von allen Seiten. Saskia schaute sich nach Peter um. Nein, er war nicht zu sehen. Wie schade.

„Du kommst in die 1d, da steht es“, las Daddy von einer Liste an der Wand ab. Sie fanden Saskias Klassenzimmer. Die Eltern standen außen an den Wänden. In der Mitte bildeten die Stühle einen großen Kreis. Fast alle waren schon besetzt. Saskia suchte sich einen Platz und musterte die anderen Kinder, mit ihren Schultüten in den Händen, die Ranzen zwischen den Füßen. Die meisten schienen sich zu kennen, denn sie unterhielten sich angeregt.

Mich kennt keiner, dachte Saskia traurig, betrachtete konzentriert ihre Füße, und wünschte sich, unsichtbar zu sein.

Plötzlich rief jemand:

„Huhu, Saskia!“

Erstaunt hob sie den Kopf. Peter! Er saß ihr direkt gegenüber und winkte ihr mit einem erfreuten Grinsen zu. Wie hatte sie ihn übersehen können?

Ein Mann betrat die Klasse. Er hatte braunes Haar, einen lustigen Bart, und nette dunkle Augen. Er setzte sich auf das Lehrerpult.

„Guten Tag. Ich bin der Herr Kaul, euer neuer Schullehrer.“

Saskia dachte beiläufig: das stimmt doch gar nicht, wir haben noch gar keinen Schullehrer gehabt, also kannst du nicht unser neuer Schullehrer sein, sondern nur unser erster Schullehrer. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre beiden Wünsche in Erfüllung gegangen waren! Vielleicht würde dieses fremd gewordene Deutschland doch wieder ein wenig ihr Zuhause werden.





Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 20.13 Uhr
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