Der himmelblaue Schmengeling
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April 2006
Klassenfoto
von Marlene Geselle

Das Faxgerät surrt leise, spuckt die kurze Benachrichtigung aus. Alles in Ordnung: Saal gemietet, Buffet und Band bestellt, für fünf Leute (ohne Partner) die Zimmer reserviert. Das „Landhotel“, wie sich das Lokal sinnigerweise nennt, ist für seinen perfekten Service bekannt.

Marie kratzt sich am Nacken, stößt einen leisen Seufzer aus. Bei zehn von fünfunddreißig Leuten stimmt die Adresse nicht mehr. Rein ins Netz und die elektronischen Telefonbücher durchforstet. Zwei gefunden, bleiben acht.

„Was ist mit den Geschwistern? Die können mir sicher weiterhelfen“, murmelt die Mittdreißigerin, verflucht den schwachen Moment auf der letzten Feier, wo sie sich die Organisation des nächsten Treffens hat aufhalsen lassen. Schon immer viel zu gutmütig gewesen. Aber das hilft jetzt auch nicht weiter.

Der Griff zum Telefon bringt da mehr. Für was wohnt denn der Thorsten noch immer daheim, kennt jeden seit dem Kindergarten. Fünf Minuten plaudern über die Kinder und den immer noch nicht fertigen Neubau - und der Bescheid, dass die Karin im letzten Herbst tödlich verunglückt ist. Sie ist betrunken mit dem Wagen gefahren, noch an der Unfallstelle verblutet. Und dass, wo sie früher keinen Tropfen angerührt hat! Der einzige handfeste Trinker war der Manuel. Aber der ist längst trocken.

Nur noch sieben!

Die E-Mail-Adresse von Margit schlummert im PDA, gleich die passende Nachricht abgeschickt. Seit ewigen Tagen ist Margit Sekretärin bei der Kripo, die Gute. Was sie nicht selber hinkriegt, da kann sie sich von Höherrangigen helfen lassen.

„Kripoleute können rauskriegen, ob jemand im Bau hockt“, erinnert sich Marie an Thorstens Rat. „Heutzutage muss man auch daran denken – amerikanische Verhältnisse gibt es auch bei uns schon längst!“

Das Telefon klingelt Marie aus ihren Gedanken; Verena meldet sich am anderen Ende der Leitung: „Hi Marie! Schön, wenigstens einen am helllichten Tag daheim anzutreffen ... Nein, wo die Anna wohnt, kann ich dir auch nicht sagen. Aber mein Bruder ist damals mit der Schwester von der Anna gegangen. Du, ich ruf mal bei ihm an und geb ihm auch gleich deine Nummer. Der kann sich dann selber bei dir melden. Ob ich noch was von Freddy gehört habe? ... Tschüss, Marie!“

Warten auf weitere Nachrichten, gucken was die Tochter so treibt am Schreibtisch nebenan, retuschieren am zerknitterten Foto. Zum Glück befindet sich noch ausreichend Material in den Ordnern. Flickarbeit für ein halbwegs passables Bild. Sonst schauen die Einladungskarten aus wie recycelt.

Nicht vergessen, Blumen für Karins Grab zu bestellen, mit Schleife, passendem Spruch und auch ein Foto machen für die Eltern, wenn auf dem Friedhof gebetet wird.

Acht Anrufe und drei Mails weiter endlich alles klar: Anna ist vor einem halben Jahr mit Kind, aber ohne Mann, ab nach Spanien (O-Ton Annas Vater), wo sie einen Neuen haben soll. David, der früher immer so aussah als könnte er nicht bis fünf zählen, sitzt gerade wegen einer Betrugsserie im Gefängnis (ein Hoch auf Thorsten und Margit); Freddy wohnt irgendwo hinter Hamburg, hängt an der künstlichen Niere und kann deshalb nicht kommen. Ausgerechnet Freddy, der beim letzten Treffen noch lustige Anekdötchen über seine Skiwanderungen erzählte.

Jetzt sind es nur noch drei.

Marie wirft einen Blick auf das eingescannte Klassenfoto. Mein Gott! Ist das alles wirklich schon so lange her? Volle zwanzig Jahre? Ist das wirklich sie selber auf dem Bild, die Kleine mit den zipfeligen Haaren und dem Häkelpullover? Verstohlen wirft sie einen Blick auf das Mädchen, mit dem sie sich das Arbeitszimmer teilt: die eigene Tochter mit den gleichen zipfeligen Haaren. Häkeltuch statt Hippiepullover.

Das Faxgerät surrt ein zweites Mal. Thorsten hat sich, wie versprochen, über den städtischen Rechner in verschiedene Datenbanken eingeloggt und weiteres Material herangeschafft. Benny und Marina haben im letzten Jahr geheiratet und den Namen von Marinas geschiedenem Mann als neuen gemeinsamen Familiennamen angenommen (ein Hoch auf das neue Familien- und Namensrecht). So ein „von“ im Namen ist für Geschäftsleute immer noch viel Wert in der Provinz!

Nur noch einer!

„He Mama“, reißt Maries Tochter die Mutter aus ihren Gedanken, „was ziehst du für ein Gesicht? Wenn ich das Ganze richtig mitgekriegt hab, dann fehlt dir doch bloß einer von fünfunddreißig. Von den anderen weißt du doch, wo sie stecken und was sie tun. Ist doch ein prima Schnitt!“

„Der erste ist schon tot, der zweite hockt im Bau, der dritte ist schwer krank, wirklich verschwunden nur der vierte“, rechnete Marie nach. Wo das liebe Kind Recht hat, da hat das liebe Kind Recht. „Aber nennst du das wirklich einen guten Schnitt?“

„Mensch Mama“, schüttelte die Tochter mit dem Kopf, war der Mutter einen Blick zu, wie ihn nur Fünfzehnjährige für ihre Mamas übrig haben, „was soll ich denn da rumjammern. Der Günni hat sich mal wieder beim Dealen aufm Schulhof erwischen lassen und hockt gerade ne Jugendstrafe ab, Doro kriegt Ende Monats ein Kind und muss die Schule schmeißen, weil ihre Mutter zu faul zum Babysitten ist. Drei aus meinem Jahrgang sind allein in diesem Jahr fortgezogen, die Betty hat nen religiösen Fimmel gekriegt und will auf ne Klosterschule. Ich kann doch froh sein, wenn bis zur Schulentlassung noch die Hälfte da ist. Wir feiern doch später keine Jahrgangstreffen, bei uns gibt’s irgendwann mal Überlebendenmeetings.“

„Es werden einfach weniger“, sinnierte Marie. „Vier von insgesamt fünfunddreißig, die nicht mehr kommen. Hast ja Recht, Liebes. Dafür, dass schon zwanzig Jahre vorbei sind, haben wir uns tapfer gehalten.“

Mit einem leisen Seufzer hangelt Marie nach dem Telefonhörer, den kleinen Bankettsaal im „Landhotel“ bestellen. Im Ballsaal werden sie doch nur wie ein verlorenes Häufchen rumhocken.

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