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April 2006
Hinter der Türe
von Claudia Späth

Es ist alles in Ordnung, flüstere ich meiner Tochter sanft ins Ohr und wiege sie zaghaft auf meinen Knien. Es ist der Abend, nachdem meine Frau, ihre Mutter, mit einem vollgeladenen PKW, unser Leben verlassen hat.

In meiner Kindheit hatte sich dieser Satz hinter meiner Stirn eingemeißelt. Ein Satz meiner Mutter, der heute klingt wie Hohn, aber mir fällt an diesem traurigen Abend nichts besseres ein, was ich meinem Kind sagen könnte.

Es ist alles in Ordnung.

Damals wollte ich diese Worte glauben, denn warum hätte mich meine Mutter anlügen sollen.

Aber wenn alles in Ordnung gewesen wäre, wieso hatte ich mich dann so schlecht gefühlt?

Ich sehe mich noch, wie ich, sechs Jahre alt, auf den Knien an der schmalen Zimmertüre hocke und durch den kleinen Schlitz blicke. Die Türe hatte sich im Wechsel der Jahreszeiten immer weiter verzogen und lag nicht mehr eng am Rahmen. Ich erinnere mich, wie ich das eine Auge fest zugekniffen hatte um das andere weit aufzureißen.

Mein Blick fiel direkt auf das Bett, in dem meine Eltern viele Jahre geschlafen hatten. Dieses mal aber lag nur meine Mutter darauf und sie schlief nicht. Sie hing Kopfüber, die langen blonden Harre wirr über ihrem Gesicht, aus dem Bett heraus und ihre Beine, ja, ihre Beine hatte sie stramm unter ihren Körper gezogen. Nichts regte sich in mir, als mein Gehirn anfing das gesehene Bild zu verarbeiten. Ich schaute einfach nur auf meine tote Mutter.

Feuchte, nasse Kälte begann an meinen Beinen bis in den Bauch hinauf zu kriechen. Meine Blase zwang mich dann irgendwann diese Szene zu verlassen. Ich erinnere mich, wie schwer es mir fiel, mich von der Türe zu lösen, aber ich hatte keine Wahl. Schnell trippelte ich in den Toilettenraum und presste eilig alles aus meinem Unterleib heraus, was mich so gestört hatte. Ohne zu spülen raste ich dann mit weit ausholenden Schritten zurück in den Flur, zurück zu der Türe mit dem Spalt zum durchblinzeln und zurück zu dem Zimmer, in dem meine Mutter auf dem großen Bett lag und nicht schlief. Ich ließ mich wieder auf die Knie fallen, den harten kühlen Boden unter mir spürte ich nicht. Aber ich bemerkte jetzt, wie still es in dem Haus war, in dem ich gelebt und gespielt hatte. Einzig das wohlbekannte, nur für mich bestimmte Rauschen meines Blutes, schallte in meinem Kopf. Ich war alleine und niemand hätte für mich in das Zimmer der Toten blicken können.

Es ist alles in Ordnung.

Immer wenn meine Mutter mit blasser Haut durch die Zimmer lief, um Vorhänge vor die blinden Fenster zu schieben, sagte sie es zu mir. Manchmal strich sie mir auch über den Kopf, wenn sie auf ihrem Rundgang zufällig an mir vorbei kam. Noch Stunden später spürte ich dann ihre schwitzige Hand in meinen Haaren.

Mein Vater hatte uns, meine Mutter und mich, irgendwann verlassen. Ich war noch zu klein gewesen um es zu verstehen oder ihn zu vermissen. Schon wenige Tage nach seinem Auszug hatte ich sein Gesicht vergessen, wusste ich nicht mehr wie seinen Stimme klang oder ob er mir jemals zum Einschlafen vorgelesen hatte. Dem Rauch seiner Zigarren, der sich in dem Gewebe unserer Möbel festgebissen hatte, stutze meine Mutter mit chemischen Geruchsvertilgern, die Zähne.

Es ist alles in Ordnung, hatte meine Mutter zu mir gesagt und ihren Kopf in den Nacken gelegt um ihre Medizin besser schlucken zu können. Ich glaubte ihr.

Wieder hatte ich mich nach vorne gebeugt und mein Gesicht an den Türritz gedrückt, um möglichst gut sehen zu können. Zu welcher Seite ihr Kopf gedreht war, konnte ich wegen der über dem Gesicht liegenden Haare nicht erkennen. Ich vermutete aber, dass sie es von mir abgewandt hatte. Die Vorhänge waren wie gewöhnlich zugezogen obwohl es sonnig warm und hell draußen war. Der kleine Spalt in der Türe lies nicht viel Sicht zu und ich bemühte mich das spähende Auge so weit wie möglich in alle Richtungen zu drehen bis mir schwindelig wurde.

Eigentlich hätte ich eine Brille tragen müssen, weil ich Probleme mit dem Lesen hatte. Es fiel mir schwer Buchstaben zu einem Wort zusammen zu fassen, was aber nicht wirklich an meinen Augen lag, sondern daran, dass ich lauter wirre Dinge in meinem Kopf hatte, die mich ablenkten.

Es ist alles in Ordnung, tröstete mich meine Mutter, als ich das erste mal wegen der Brille gehänselt wurde, vergeblich. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass auch ich eine Medizin wegen meiner Augen einnehmen müsste. Eine Medizin, wie meine Mutter sie jede Stunde schluckte. Aber statt mir eine Pille in den Mund zu schieben, setzte sie mir die Drahtbügel auf die Ohren und versuchte mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Ihre blutleeren Lippen kräuselten sich nur zu einer dünnen Wellenlinie zusammen. Das Blinzeln ermüdete mein geöffnetes Auge sehr und es begann zu tränen. Ich setzte mich für einen Moment auf meine Fersen, zog die Ärmel über die Fäuste und rieb solange bis bunte Sternchen hinter meinen Lidern herumtanzten. Als sich meine Augen von dem Druck wieder erholt hatten, hörte ich ein leises Klappern vom Ende des Flures. Ein Luftzug hatte gegen die Katzenklappe in der Haustüre geschlagen. Wir hatten keine Katze mehr, aber für den Fall, dass sie eines Tages wieder nach hause finden würde, ließen wir die Klappe geöffnet. Bis heute weiß ich nicht, wer die Katze mitgenommen oder wer sie überfahren hat. Ich weiß nur, dass es ein großer Verlust für meine Mutter gewesen sein musste, denn sie weinte viel.

Während ich den langen nach Feuchtigkeit riechenden Flur entlang blickte, versuchte ich, irgend etwas zu empfinden. Aber alles blieb dumpf und hohl in meinem Bauch, in meinem Kopf, in meinem Herzen.

Es ist alles in Ordnung, hatte mir meine Mutter ins Ohr geflüstert und ich hatte ihren Atem gespürt, der sich leise um meinen Hals legte. Aber ich wusste, dass ihr Herz genauso schwer schlug wie meines, als sie damals in dem weißen Bett lag und ganz klein und dünn aussah. Ein Arzt hatte mich sanft aus dem Zimmer geschoben und mich meiner Großmutter übergeben, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. In den nächsten Tagen hatte ich viele Fragen an sie, aber meine Großmutter hatte keine Antworten für mich.

Nachdem mich meine Mutter auf wackeligen Beinen von dort wieder abgeholt hatte, kehrte ich nie wieder da hin zurück.

Ich löste meinen Blick von der Katzenklappe und schob mein Gesicht zurück an die Türe. Ich wusste, dass man sich die Arme aufschneiden konnte, wenn man alleine sterben oder gerettet werden wollte. Vielleicht hätte ich etwas gespürt, wenn ich gesehen hätte, wie das Blut aus den Armen meiner Mutter in die Bettdecke gesickert wäre.

Aber ich sah nur Staub in einem Lichtkegel schweben, der durch die nachlässig vorgezogenen Vorhänge drang.

Es ist alles in Ordnung, flüsterte ich durch den Türspalt zu ihr herüber. Dabei dehnte ich die Silben lange genug, damit die Worte Zeit hatten, auch wirklich bei ihr anzukommen. Vielleicht würde meine Mutter es mir glauben, so wie ich es ihr immer wieder geglaubt hatte. Aber vielleicht würde sie auch spüren, dass da etwas nicht stimmen konnte, so wie ich es immer gespürt hatte.

Langsam streckte ich meine Knie um sie wieder zu durchbluten. In meinen Beinen kribbelte es unangenehm und ich musste erst ein paar mal auf und ab hüpfen um auf ihnen stehen zu können.

Es ist alles in Ordnung, hätte meine Mutter bestimmt zu mir gesagt und kraftlos mit ihren eisigen, knöchrigen Händen das Kribbeln aus meinen Waden geklopft.



Meine Tochter legt ihren Kopf an meine Wange. Ich versuche etwas zu empfinden, doch da ist nichts, nichts, außer einer Haarsträhne, die mich kitzelt.

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 20.10 Uhr
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