Johanna kniete in der katholischen Dorfkirche und ĂŒbte sich in Demut. Die HĂ€nde zum Gebet gefaltet versuchte sie zumindest einmal an etwas Frommes zu denken, ohne dabei ĂŒber einen ihrer dummen EinfĂ€lle zu stolpern.
Das abgewetzte Holzbrett des Schemels drĂŒckte schmerzhaft auf ihre Kniescheiben und erinnerte sie augenblicklich an die schlimme Strafe, die ihr vor Tagen auferlegt worden war. Wie konnte sie sich auch dermaĂen dumm verhalten und die kleinen Biester einfach vor der Schule verkaufen? FĂŒr eine Mark das StĂŒck.
Johanna schluckte schwer. Ihre Knie spĂŒrten jetzt noch die spitzen Scheite, auf denen sie ausharren und dazu laut um ihr Seelenheil beten musste. Holzscheitelknien wurde landlĂ€ufig zu der ZĂŒchtigung gesagt.
Abnehmer fĂŒr die winzigen Viecher gab es viele, weil jeder SchĂŒler mit Untermietern auf dem Kopf ganze zwei Wochen schulfrei bekam. Der Andi hingegen, der ihr Lieferant gewesen war und mit ihr in die vierte Klasse ging, kam ungeschoren davon.
Keine Strafe, keine Schelte, nichts dergleichen! Verkauft hatte er die LĂ€use zwar nicht, aber die HĂ€lfte einkassiert, weil sie ja von seinem Kopf stammten. Zornig drĂŒckte sie die HandflĂ€chen noch fester aneinander und versuchte nicht mehr an diese Ungerechtigkeit zu denken.
Sie bekreuzigte sich hastig und stand erleichtert auf. Endlich kam der Pfarrer feierlich mit seinen Ministranten, in Begleitung schwerer Orgelmusik, aus der Sakristei und die versammelte Gemeinde durfte sich erheben. Einer der Ministranten war ihr jĂŒngerer Bruder, der schlechteste Ministrant aller Zeiten. Allein beim Zuschauen wurde Johanna unruhig, sosehr zappelte er da vorne am Altar herum. Es war ansteckend und schon zuckte ihre Schulter. Sie drehte den Hals hin und her und kratzte sich erst am Arm und dann am Ohr.
Zwei BĂ€nke hinter ihr saĂ Johannas Mutter. Ihr tadelndes GerĂ€usper verhieĂ nichts Gutes. Am liebsten wollte sie sich umsehen, um sich zu vergewissern, ob ihre Mutter auch wirklich ein solch strenges Gesicht zog, wie Johanna es sich gerade vorstellte. Aber wer sich in der Kirche umschaute, bekam Warzen an den HĂ€nden. Schnell untersuchte sie ihre schmalen HĂ€nde und konnte glĂŒcklicherweise nichts entdecken.
Wieder ein RĂ€uspern von hinten und diesmal mit einem eindeutigen scharfen Unterton.
Angestrengt versuchte sie ein andĂ€chtiges Gesicht zu machen. Dabei schweiften ihre Gedanken stĂ€ndig ab. Sie war schlecht, weil sie es nicht schaffte fĂŒnf Minuten lang an Gott zu denken. Dabei sollte sie doch BuĂe tun und zutiefst ihre SĂŒnden bereuen. Johanna seufzte, ĂŒberschlug die Ereignisse der letzten Woche und zĂ€hlte in Gedanken ihre Schandtaten auf. Am Dienstag hatte sie ihren kleinen Bruder belogen und ihm glaubhaft erzĂ€hlt, dass der GemĂŒsehĂ€ndler im Dorf getrocknete Algen ankaufen wĂŒrde, fĂŒr die SommergĂ€ste aus der Stadt.
Den ganzen Nachmittag brachte er damit zu, die schleimige grĂŒne Pampe aus dem Karpfenteich zu fischen, um sie dann ĂŒber den JĂ€gerzaun zum Trocknen aufzuhĂ€ngen. Die diebische Schadenfreude, als sie ihm dabei zusah, wie er sich abplagte und abmĂŒhte, war auch jetzt noch nicht ganz verklungen. Johanna grinste von einem Ohr zum anderen und konnte gerade noch rechtzeitig ein Kichern unterdrĂŒcken. Ihr Pferdeschwanz hĂŒpfte dabei frech hin und her, was ein weiteres aufgebrachtes RĂ€uspern von hinten nach sich zog. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Plötzlich fĂŒhlte sie eine Art Klumpen in ihrer Brust, steinhart und schwer. Wie konnte sie auch die Hausaufgaben ihrer Schwester klauen. Einfach so, nur damit sie Ărger in der Schule bekam. Nein, darauf war sie nicht stolz, ganz und gar nicht. Ihre Ă€ltere Schwester saĂ neben ihr, war ganz still und artig. Warum konnte sie nicht so sein wie sie? Einmal fragte sie ihre Mutter ganz ernsthaft, ob sie nicht vielleicht bei der Geburt vertauscht worden war? Darauf brach ihre Mutter in schallendes GelĂ€chter aus und meinte nur: âDu wurdest zu Hause geboren. Eine Verwechslung ist völlig ausgeschlossen.â
Johanna hegte dennoch ihre Zweifel. Sie war ganz anders als der Rest der Familie. Die Arbeit auf dem Hof fand sie mĂŒhsam und schwer. Wann immer es ihr möglich war, stahl sie sich davon, um verrĂŒckte Ideen auszuhecken. Am liebsten ritt sie mit ihrem Pony durch den Wald, der zum einsam gelegenen Gehöft ihrer Eltern gehörte.
Der Pfarrer setzte zur Predigt an, seine Stimme wurde immer lauter und eindringlicher, als er die ewige Verdammnis bildhaft schilderte. Ihr wurde jetzt abwechselnd heiĂ und kalt. Die ewige Verdammnis, ja die war ihr sicher, wenn sie nicht endlich Besserung gelobte.
Prompt musste sie an den letzten Sonntag denken, als sie ihre hochnĂ€sigen Cousinen in ihren makellos weiĂen RĂŒschenkleidchen und LackschĂŒhchen ĂŒber die sumpfigen Wiesen gefĂŒhrt hatte.
Sie ritt auf ihrem Pony voran, in Latzhosen und Gummistiefeln, wĂ€hrend die Cousinen in ein paar Meter Abstand neugierig und ungeduldig hinter ihr herliefen. Johanna lieĂ sie ĂŒber morastige GrĂ€ben springen, kreischend durch ein mit Brennnesseln ĂŒbersĂ€tes Feld waten, nur um ihnen mitten im Wald das letzte Einhorn zu zeigen.
Innerhalb einer Stunde hatte sie es geschafft, die Goldmariechen in zerzauste, schmutzige und obendrein noch heulende Pechmariechen zu verwandeln. Die Begeisterung der Onkel und Tanten, als sie ihre sonst doch so wohlerzogenen und blitzsauberen Töchter erblickten, kannte keine Grenzen.
Was war eigentlich mit den Tagen dazwischen? Mittwoch und Donnerstag? Nein, darĂŒber konnte der liebe Gott durchaus hinwegblinzeln. An den Tagen hatte sie ihr neues Mikroskop ausprobiert und Kaulquappen seziert, weil sie wissen wollte, ob diese auch einen Blindarm besaĂen. Johanna verpasste ihnen natĂŒrlich erst eine Narkose mit reinem Alkohol und nach dem Experiment wurden sie sogar feierlich bestattet. Welche Kaulquappe bekam schon jemals zuvor ein christliches BegrĂ€bnis? Der Montag zĂ€hlte nicht, weil sie krank war und im Bett bleiben musste. Ein unertrĂ€glich langweiliger Tag.
Der Freitag verlief ebenfalls recht harmlos. Sie bekam von der strengen Lehrerin eine Kopfnuss, worauf sie mit einem deutlich hörbaren âHerein!â antwortete. Das Ergebnis waren zwei Seiten Strafarbeit, mit dem Wortlaut: âIch darf nicht âHerein!â sagen, wenn mir die Frau Lehrerin eine Kopfnuss gibt.â
Die Predigt war endlich vorbei. Johannas kleiner Bruder hielt startbereit den Klöppel in der Hand, um damit den Gong anzuschlagen. Bisher hatte er es kein einziges Mal geschafft, ihn im richtigen Moment zu treffen.
Alle Anwesenden warteten gespannt auf das, was jetzt folgen wĂŒrde. Johannas Mundwinkel bogen sich unwillkĂŒrlich nach oben. Ihr Bruder zielte, holte aus und verpasste dem metallenen Klangkorpus einen solch gewaltigen Hammerschlag, dass es nur so durch das alte KirchengemĂ€uer schepperte. Trotz aller MĂŒhe den Lachreiz zu unterdrĂŒcken, prustete sie los, aber das war nichts im Vergleich zu dem lauten GelĂ€chter hinter ihr.
Johannas Kopf machte sich selbstĂ€ndig, fuhr herum und ihre Augen erblickten unglĂ€ubig das lachende Gesicht ihrer Mutter. Diese mĂŒhte sich zwar redlich ab schnell ein strenges Gesicht zu ziehen, was ihr aber keineswegs gelang.
Johanna kam ins GrĂŒbeln. Sie sollte hier völlig still sitzen, aber ihre Mutter lachte lauthals mitten in der heiligen Messe.
Wieder fing sie an ihre HĂ€nde hin und herzudrehen. Keine einzige Warze.
Das kurze RĂ€uspern hinter ihrem RĂŒcken verfehlte diesmal seine Wirkung. Wenn sie genau darĂŒber nachdachte, verlief der gestrige Tag auch recht gut. Dass ihre Schwester in einem Baum hĂ€ngen geblieben war und dort eine ganze Weile hilflos herumzappelte, dafĂŒr konnte sie nichts. Sie hatte ihre Schwester zwar dazu ermuntert hinauf zu klettern. Aber schlieĂlich war sie zwei Jahre Ă€lter und hĂ€tte es besser wissen mĂŒssen.
Alles in allem war sie die HÀlfte der Woche anstÀndig und brav gewesen. Kein schlechter Schnitt, wie sie fand.
Die milde FrĂŒhlingssonne fiel schrĂ€g durch das bunte Glas des Mosaikfensters und hĂŒllte sie in ein engelsgleiches Licht. Johanna blinzelte. Sollte das ein Zeichen sein? Wie bei der Bernadette in Lourdes?
Sie faltete die HĂ€nde, drĂŒckte die HandflĂ€chen fest aneinander und betete: âLieber Gott, ich bin zwar nicht schlecht, aber heilig werden will ich auch nicht.â
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