Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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April 2006
Schneebrunzer
von Elsa Rieger

Gerade kommt Max von einem Rendezvous mit seiner aktuellen Angebeteten zurück. Im Trauerflor setzt er sich neben mich und schaltet den Fernseher an. Ich kann die Düsternis geradezu sehen, die mein Kind umwölkt.

Liebeskummer witternd frage ich: „Kann ich etwas für dich tun? Essen? Trinken? Rücken kraulen?“ Recht habe ich. Er schweigt, steht auf und seufzt abgrundtief. „Ich werde gehen und mir eine passende Todesart überlegen ...“

„Aber hoffentlich für den Schneebrunzer, der dir das Mädel ausgespannt hat!“

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“ Max’ Züge hellen sich auf. „Aber was bitte ist ein Schneebrunzer?“

Schneebrunzer, was für ein wundervolles Wort!

„Das ist eine abwertende Bezeichnung für Männer, die sich wichtig machen. Sie pieseln ihren Namenszug in den Schnee. Zu mehr sind sie nicht fähig“, erkläre ich ihm. Er setzt sich wieder zu mir, lehnt seinen Kopf an meine Schulter – auch mit Fünfzehn darf man das hin und wieder.

„Leider habe ich das Wort erst als Erwachsene kennen gelernt.“

„Wie war es in deiner Kindheit, Mama?“, fragt Max melancholisch, es schneidet mir ins Herz.

„Spannend. Bei den Machtkämpfen mit deinem Onkel Jonas trug ich die verbalen, er die körperlichen Siege davon. Der Schnellere gewann.“ Ich angle mir eine Zigarette vom Tisch.

„Aber blase den Rauch in die andere Richtung, hörst du?“ Max rümpft die Nase. Er hat die gleiche wie mein Bruderherz, fällt mir gerade auf. Jonas habe ich jahrelang nicht gesehen, er lebt in Sidney. Ostern, Weihnachten und manchmal zu Geburtstagen schicken wir uns Mails.

Max stupst mich mit seinem Wuschelkopf an. Auch die Löckchen erinnern mich an Jonas. Plötzlich vermisse ich ihn.

„Erzähl weiter, Mama, ich brauch das jetzt nach meiner Niederlage.“ Er zieht den Rotz hoch.

„Taschentuch?“

„Nein, Geschichte.“

Wie er das sagt, fällt mir ein, dass Max sich als Kleinkind nur in Hauptwörtern artikulierte. Milch. Hunger. Bauchweh. Angst.

„Na?“, sagt er.

„Ehe wir in das Alter der Geschwisterkriege kamen, zerbrachen sich alle den Kopf, wieso Jonas nicht richtig sprechen wollte. Mit drei Jahren sagte er nicht ein verständliches Wort. In einer Familie, die ihr täglich Brot auf der Bühne verdiente, war das die reinste Frustration. Während ich mit Fünf bereits las und ‚Röslein auf der Heide’ sang, hockte Jonas im Gitterbett und machte: Schu – schu, eititi, puh ...

Unsere Mutter achtete konzentriert auf die Laute, die aus ihm heraus kullerten und übersetzte nach intensivem Studium: Er meint eine fahrende Dampflok, ich bin mir da ganz sicher. Sie lächelte ihn zärtlich an. Jonas sagte fröhlich: Schu-schu, eititi, puh ...“



Meine Achselhöhle bebt, ich bin froh, dass Max wieder lacht. „Und jetzt hält er Kommunikationsseminare, der Onkel Jonas“, sagt er. „Mach weiter, Mama.“



„Als ich klein war, fuhr man statt auf Urlaub in die Sommerfrische. Für Juli und August wurde ein altes Haus mit dicken Steinmauern gemietet. Es gehörte einem reichen Bauern, seine Vorfahren benützten es als Austraghäusel. Eine Sitte, bei der die Altbauern dorthin übersiedelten, nachdem sie dem ältesten Sohn die Wirtschaft überschrieben hatten“

„Warum sind wir nie dorthin gefahren, als ich klein war?“

„Diese Art Ferien zu verbringen war zu deiner Zeit außer Mode. Man reiste ans Meer.“

„Wenn ich mal Kinder habe ...“ Max seufzt schon wieder herzzerreißend, schnell fahre ich fort: „Der Bauernhof war meine Passion. Der Stall, das mahlende Geräusch, mit dem die Kühe Heu in den breiten Mäulern verschwinden ließen. Ihre feucht glänzenden Nasenlöcher, der süße Geruch von Milch gemischt mit Ammoniakgestank. Der zart pulsierende, in sich gefältelte, rosige Muskel unter dem Schwanz beeindruckte mich ungemein. Wie er sich schließt, nachdem er die Unmengen von Scheiße ausgespuckt hat ...“

„Mama!“ Max richtet sich auf, blickt mir in die Augen. „Also wirklich ...“

„Hättest du nicht von mir gedacht, was? Fredi, der Bauernsohn, trieb die Herde jeden Morgen auf die Futterwiesen, abends zurück in den Stall. Jede Kuh trug einen Namen und meine Favoritin hieß Liese. Ich durfte auf dem Weg zur Weide ihren Schwanz halten.

Jonas verkrümelte sich ins Haus, sobald er ein Tier erspähte. Schmetterlinge tolerierte er gerade noch, doch alles andere, Katzen, Hühner, Hunde und Rinder jagten ihm Angst ein.

Hühner waren seine ganz speziellen Feinde. Er fürchtete sie so sehr, dass sein Gebrüll wie der Brandmelder des Dorfs schrillte. Er war in diesem Sommer vier Jahre alt und radebrechte: Piep, piep, hack, du du, puh! Großmutter und Mutter sahen sich über seinen Kopf hinweg an und seufzten.

Weil unsere Sommerresidenz an einem Hang stand, waren die Schlafzimmerfenster nicht mehr als einen halben Meter vom Boden entfernt.

Eines Morgens war Jonas verschwunden. Wir suchten den Kleinen im Haus. Jonas, wo bist du!, riefen wir zu dritt.

Und plötzlich hörten wir von draußen leise, aber deutlich: Omi, Mami, ich bin da im Gras.



Er war auf das Fensterbrett geklettert und in die Wiese geplumpst. Hühner pickten um ihn herum nach Würmern, unbeeindruckt davon, dass plötzlich ein kleiner Junge vom Himmel gefallen war. Er saß erstarrt inmitten seiner Todfeinde.

Wir vermuten heute, dass er vorher keinen Grund gehabt hatte zu sprechen.“

„Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, was das mit Schneebrunzern zu tun hat, Mama, aber es war auch ganz nett, vor allem die Sache mit den rosafarbenen Faltenärschen“, sagt Max und grunzt vor Lachen.

„Ach ja, ich wollte dir etwas ganz anderes erzählen, verzeih. Also pass auf. Jonas war ein aufbrausendes Kind. Und ich liebte es, seinen Jähzorn zu schüren. Mit Schaum vor dem Mund jagte er mich durch das meterlange Vorzimmer, zitternd vor Wut. Ich wusste, wie ich ihn zum Wahnsinn treiben konnte. Ich brauchte nur in seine Richtung zu spucken. Warum ich das tat, weiß ich heute nicht mehr. Aber da hätte ich zu gerne das Wort Schneebrunzer schon gekannt.“

„Schneebrunzer ...“ Mein Sohn kichert.

„Wird schon wieder, Max“, sage ich.

„Na, sicher doch.“ Er verstrubbelt meine Frisur, „Rauch nicht so viel, Mama!“ Dann erhebt er sich mit einem obercoolen Gary-Cooper Lächeln und macht sich auf zu seinem High Noon.



Jetzt sitze ich zwischen den Fotos meiner Kindheit, die ich auf dem Speicher zusammen gesucht habe und tippe die lange Nummer ein. „Jonas!“ Es knistert in der Leitung.

„Nein, nur so. Ich wollte dich einfach mal hören, alter Schneebrunzer, du!“

Er lacht und ich heule los.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 14.53 Uhr
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