Der Tod aus der Teekiste
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Mai 2006
Träume mit Siebzig
von Ingeborg Restat

Als Kind träumte Alina davon, Märchenbücher zu schreiben, als sie größer war, Liebesgeschichten, und später, Romane. Aber stets blieb alles in den Anfängen stecken. Immer gab es etwas, das wichtiger war, zuerst die Schule, dann der Beruf und schließlich Mann und Kinder. Fast ging ihr der Traum vom Schreiben und vom Erfolg im Laufe der Jahre verloren, und doch sagte sie irgendwann im Leben zu Norbert, ihrem Mann: „Wenn ich einmal in Rente gehe, werde ich nicht die Hände in den Schoß legen und darauf warten, dass die Zeit vergeht.“

Er lachte und meinte: „Nein, das werden wir nicht tun. Wir werden reisen, uns die Welt ansehen.“

„Auch das. Aber daran habe ich nicht gedacht, sondern ich will endlich schreiben.“

„Was denn, deine Memoiren?“, spottete er.

„Ach, was! Geschichten, Erzählungen, vielleicht auch Romane.“

„Fantasie hast du immer gehabt, wenn ich an die Geschichten denke, die du den Kindern erzählt hast. Aber ...“

„All das ist verloren, nichts davon ist aufgeschrieben. Wenn ich erst Zeit zum Schreiben habe, werde ich meine vielen Gedanken festhalten, in die Geschichten einfließen lassen und darin verarbeiten. Davon habe ich schon immer geträumt.“

Ungläubig sah Norbert sie an. „Und eine bekannte Schriftstellerin werden, vielleicht noch mit siebzig?“

„Wer weiß?“ , antwortete sie lächelnd.



Sehr lange war das her. Längst war sie in Rente. Die vielen schönen Reisen mit Norbert waren bereits Vergangenheit, denn Norbert gab es nicht mehr. Jetzt hatte sie Zeit, viel Zeit zum Schreiben. Tag für Tag ließ sie ihre Fantasie spielen, baute Handlungen auf und war Herrin über das Geschehen in ihren Geschichten. Je länger sie sich damit beschäftigte, umso mehr schlich sich auch die Hoffnung ein, noch ein bisschen Anerkennung zu finden. Aber wie hatte Norbert zweifelnd gesagt: „... vielleicht noch mit siebzig?“

Daran dachte sie, als ihr der Briefträger ein Kuvert gab, von dem sie bereits wusste, was es enthielt. Es war ein Manuskript, das ihr ein Verlag zurücksandte. Wieso konnte sie sich daran nicht gewöhnen? Warum drückte es sie zunächst immer nieder, wenn sie stets den gleichen Text des Begleitbriefes las: „... passt leider nicht in unser Programm, wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei einem anderen Verlag“? Danach brauchte sie heute nicht erst zu versuchen, etwas zu schreiben. Sie würde keinen Satz zustande bringen. Morgen vielleicht - nein, bestimmt, morgen musste es wieder gelingen - auch wenn niemand sonst es jemals lesen sollte.

Draußen lachte die Sonne, es war Frühling. Sie legte Manuskript und Brief weg, nahm die Gießkanne sowie die Friedhofsharke, ging aus dem Haus, schloss die Tür ab und steckte die Schlüssel in ihre Jackentasche. Immer wenn sie traurig war, zog es sie zu Norberts Grab.

Wie grün alles bereits war. Die Blumen auf den Gräbern blühten in voller Pracht. Je weiter sie den Weg auf dem Friedhof hoch lief, umso weniger war vom Straßenlärm zu hören. Nichts störte hier den Gesang der Vögel. Alina sah hinauf in die Zweige eines Baumes, suchte den prächtigen Sänger, trat auf einen Stein und knickte um. Au! Das tat weh, auch bei jedem weiteren Schritt. Sie konnte die Bank neben Norberts Grab schon sehen. Sitzen, sie musste nur ein Weilchen sitzen, dann würde der Schmerz sicher vergehen. Vorher jedoch humpelte sie noch zum Brunnen, nahm eine Kanne Wasser mit, goss die Blumen und harkte die Erde. Dann erst setzte sie sich auf die Bank. Welche Erleichterung, sie streckte den Fuß vor. Hoffentlich verlor sich der Schmerz bald.

Sie war nicht allein auf dem Friedhof. Hier und da ging jemand durch die Reihen der Gräber, machte sich an einem zu schaffen oder holte Wasser. Nicht weit von ihr entfernt pflanzte ein älterer Mann Blumen. Er hatte flüchtig aufgesehen, als sie angehumpelt kam und ihre Blicke waren sich begegnet.

Alina hatte ihn kaum wahrgenommen. Hier fühlte sie sich Norbert nah, hier erzählte sie ihm von ihren Sorgen und Ängsten. Manchmal glaubte sie dabei zu wissen, was er ihr antworten würde. Auch heute, als sie ihm in Gedanken von ihrer Enttäuschung über die Absage des Verlags berichtete. „Du bist über siebzig. Was erwartest du?“, hätte er gesagt.

Ja, was erwartete sie? Sie war in einem Alter, da sich niemand wundern würde, wenn man sie schon bald hier unter die Bank neben ihn legte. Wie konnte sie glauben, sie hätte noch eine Chance. Jüngere drängten nach und hofften auf Anerkennung in einer veränderten Welt. Für Alina waren alle Züge zum Erfolg längst abgefahren. Mit siebzig erfüllen sich keine Träume mehr, da kann man nur von der Vergangenheit träumen, die doch kein Traum gewesen war.

„Ja, ja, ich weiß! Aber warum soll es immer so sein?“, sagte sie trotzig vor sich hin, als würde sie Norbert antworten und machte ungeduldig eine wegwerfende Handbewegung dabei. Erschrocken sah sie auf. Hatte der Mann da drüben das gehört? Was musste er denken?

Aber er pflanzte ohne aufzusehen weiter seine Blumen.

Selbstgespräche! So weit war es also mit ihr gekommen. Wie schön wäre es, wenn sie jemand neben sich hätte, mit dem sie wirklich über alles reden könnte, wie früher mit Norbert. Sie war es so leid, ständig alles allein durchstehen zu müssen, sich niemals an jemand anlehnen zu können. Aber nach Norbert gab es eben niemanden mehr.

Scheu blickte sie zu dem Mann hinüber. War er am Grab seiner Frau? Auch er war nicht mehr jung. Seine weißen Haare glänzten in der Sonne. Mit wie viel Liebe und Sorgfalt er all die Blumen in die Erde setzte. Sie seufzte und wollte aufstehen. Sofort fiel sie zurück. Der Fuß! Sie konnte kaum auftreten. Er war angeschwollen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Das würde ein harter Weg nach Hause werden. Zum Glück konnte ihr die Friedhofsharke einen Stock ersetzen. Auf ihn gestützt versuchte sie die ersten Schritte. Sie hätte schreien können vor Schmerze., Der Schweiß brach ihr aus. Sie zog aus der Tasche ihrer Jacke ein Taschentuch und wischte sich über das Gesicht. Dann ging sie weiter. Vielleicht ließ der Schmerz nach, je länger sie lief, dachte sie noch, da rief jemand hinter ihr: „Hallo! Hallo!“ Sie drehte sich um.

Der Mann kam ihr nachgelaufen. „Ihre Schlüssel!“ Er bückte sich, nahm sie auf und brachte sie ihr. „Sie haben ihre Schlüssel verloren.“

„Das ist sehr freundlich, danke!“, sagte sie, steckte die Schlüssel ein und wollte weitergehen.

Aber er hielt sie fest. „Was ist mit Ihrem Bein? Haben Sie es weit bis nach Hause?“, fragte er teilnehmend.

Er ließ sie nicht allein gehen, stützte sie bei jedem Schritt den Weg hinunter vom Friedhof. Selbst auf der Straße hielt er sie noch fest, ließ sie in sein Auto steigen und fuhr sie nach Hause.

Seltsam, Alina war, als würden sie sich schon immer kennen. Sie redeten und sie lachten zusammen. Selbst vor ihrem Haus angekommen, half er ihr nicht gleich heraus, sondern sie wussten sich noch so viel zu sagen. Alina erzählte ihm sogar völlig unbefangen von ihrer Schreiberei, von der Freude daran und der immer wiederkehrenden Enttäuschung dabei.

Als sie schließlich vor ihrem Haus stand und ihm nachwinkte, war es, als würde ein vertrauter, alter Bekannter wegfahren. Vielleicht ...? Was für ein Traum?

Aber später wurde ihr bewusst, dass sie nichts verabredet hatten. Nur wenn sie ihm zufällig einmal auf dem Friedhof begegnen sollte, könnte sie ihn wieder sehen. ‚Träume mit siebzig erfüllen sich eben nicht’, dachte sie.

Am nächsten Tag jedoch klingelte bei ihr das Telefon. Er war es, wollte wissen, wie es ihrem Bein ginge, ob die kühlen Umschläge, zu denen er ihr geraten hatte, halfen. Er würde auch bald einmal bei ihr vorbeikommen und nach ihr sehen, sagte er.

„Gerne!“, antwortete sie lächelnd, „Gerne!“

‚Von wegen, mit siebzig erfüllen sich keine Träume mehr!’, dachte sie.

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