Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen, während der Kuchen bäckt?“, erkundigte sich die alte Frau bei ihrer Enkelin.
„Oh ja!“ Das kleine Mädchen klatschte begeistert in die Hände.
Die Oma setzte sich an den Küchentisch, schob die Backzutaten zur Seite, um für das dicke Märchenbuch Platz zu schaffen.
***
Etwas kitzelte Tao-Bai. Er öffnete die Augen, sah in das zauberhafte Antlitz einer schmetterlingsgroßen Fee. Die Flöte hielt sie ans Herz gedrückt. Ihre Flügel schlugen anmutig im Rhythmus des Windes. Sie lächelte glücklich. Ein Einhorn sprang übermütig über die immer noch schneebedeckte Wiese. Goldener Feenstaub bildete bizarre Muster, verkündete die Rückkehr des Frühlings. Die Aufgabe der Flötenspielerin war erfüllt für dieses Jahr, nun lag es an Tao-Bai und den anderen Blumengeistern, ihre Jahreszeit vorzubereiten.
Vorsichtig löste er sich aus der Winterlingsblüte, in der er Sommer, Herbst und Winter verschlafen hatte. Liebevoll warf er noch einen Blick auf die sechs gelb-golden leuchtenden Kronblätter, die sich um einen Ring aus Staubbeuteln gruppierten. Er machte sich den Spaß, sauste durch die Fee hindurch, die seine Berührungen wahrscheinlich nicht einmal bemerkte. Allenfalls würde sie einen sanften Hauch verspüren.
Tao-Bai trillerte eine Melodie, die nur seine Artgenossen hören konnten. Überall hoben sich ihre durchscheinenden Köpfe, sie jauchzten im warmen Schein der Frühjahrssonne. Dann schwärmten sie aus. Jeder für sich allein, suchten sie nach den Menschen und ihren Träumen.
Er selbst bevorzugte Kinder. Ihre Traumwelten waren bunt, ungezwungen und manchmal auch furchterregend, wenn sich ihre Fantasie in den außergewöhnlichsten Horrorgestalten äußerte. Oft hauchte er ihnen dann ins Gesicht, fegte die bösen Gedanken beiseite, die der Quell dieser Alpdrücke waren und legte die Gefühle frei, die er benötigte. Wie eine Biene auf der Suche nach Nektar nahm er die Echos der positiven Wallungen in sich auf, küsste die großzügigen Spender für ihre Gabe, schenkte ihnen weitere schöne Träume. Er genoss es zu sehen, wie ihre Gesichter im Schlaf zu strahlen anfingen.
Bei den Erwachsenen erwies sich das in der Regel als schwieriger. Ihre guten Gedanken steckten tief verborgen hinter Alltagsstress, Intrigen, Neid und Missgunst. Es machte Mühe, diese negativen Kräfte zu vertreiben und in das Reich des Eises zu senden. Aber es lohnte sich, denn auch sie hatten viel zu verschenken, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gab. Und so zog Tao-Bai weiter, von einem Träumenden zum Nächsten.
Traurig bemerkte Tao-Bai einen Mann, der in einem halb eingestürzten Haus schlief. Bedrucktes Papier lag als notdürftige Decke über ihm ausgebreitet. Die vom Alter gezeichneten Hände hielten eine Flasche umklammert. Seine Träume waren von Verzweiflung geprägt. Immer tiefer drang Tao-Bai in die Gedanken des Mannes ein, sehnte sich danach, etwas Positives zu finden, um dies zu verstärken und in Hoffnung zu verwandeln. Er fand nichts. So viel Not lastete auf diesen ausgemergelten Schultern, dass er sich außerstande fühlte, zu helfen. Irgendwann gab er auf, flog nachdenklich weiter. All die vielen Menschen auf der Welt und nur so wenig Zeit.
Das Leid des Mannes zeigte Tao-Bai deutlich, wie wichtig diese alljährliche Säuberung vom Unrat ihrer Seele für die Menschen war. Wenn sich all die dunklen Sehnsüchte und Gedanken anstauten, führte dies zur Katastrophe, zu Gewalt, schweren Depressionen, Seelenschmerz und erschreckender Gleichgültigkeit. Somit war er ein Bewahrer des Friedens und der Harmonie, eine Überlegung, die ihm sehr gefiel.
Nur wie lange konnten die Blumengeister ihrer Aufgabe noch nachgehen? Die Frühlingsblumen, in denen er und die seinen die übrigen Jahreszeiten schlummerten, wurden von Jahr zu Jahr weniger. Vom Aussterben bedroht, nannten es die Menschen. Mit den Pflanzen gingen die Blumengeister, die ihnen innewohnten, verloren. Gleichzeitig breiteten sich die Menschen immer mehr aus. Längst konnten nicht mehr alle aufgesucht werden und so entluden sich die finsteren Schwingungen früher oder später in furchtbaren Kriegen, die nur noch mehr Hass hinterließen. Ein Kreislauf, aus dem Tao-Bai keinen Ausweg sah. Was sollte er dagegen tun?
Er beugte sich über ein Kind, jubilierte mit ihm über die Schmetterlinge, die es umflatterten und ließ weitere bunte Traumblumen wachsen, eine schöner als die andere. Ein wahrer Glückstaumel strömte Tao-Bai entgegen. Selig sammelte er die Freudenimpulse auf, die sich in einer leuchtenden Aura um seinen Körper legten, ihn allmählich zu einer erstaunlichen Größe anschwellen ließen. Er fühlte, wie diese ungebändigte Energie in ihm pulsierte.
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„Was macht Tao-Bai mit der Energie, Oma?“, erkundigte sich das Mädchen mit leuchtenden Augen und steckte eine Rosine in den Mund.
„Die gehört eigentlich auf den Kuchen, mein Schatz“, erwiderte die Oma und erzählte die Geschichte weiter. Nur selten musste sie in das Buch schauen, so vertraut war ihr der Text.
***
Im Lauf des Frühlings brachten Tao-Bai und die übrigen Blumengeister immer wieder die gesammelten Gefühle zu dem glühenden Stern, ließen die gewaltigen Energien in die Sonne hineingleiten. Allmählich stieg sie höher am Firmament, getragen von der Kraft des Guten. Schließlich erreichte sie einen Punkt, den die Blumengeister nicht mehr erreichen konnten und so begaben sie sich zur Ruhe, in die bereits verwelkten Blüten ihrer Blumen.
Nun lag es an der Sonne, ihren Weg selbst zu finden, bis ihr die positive Energie ausging und sie wieder herabsinken würde. Ein ewiger Kreislauf. Nur die Blumengeister verhinderten, dass der gewaltige Glutball auf die Oberfläche des Planeten krachte.
Tao-Bai freute sich schon auf den nächsten Frühling, wenn er wieder aufsteigen würde, um die Sonne auf ihre Sommerreise zu schicken. Doch ein bisschen fürchtete er sich auch, denn die Welt veränderte sich immer schneller und nicht immer zum Besten.
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„Kommt er auch zu mir, Omi?“
„Ganz sicher tut er das, Kleines. Du hast doch gehört, wie sehr er Kinder und ihre Träume mag.“
„Nimmt er mir dann auch den Schmerz wegen meiner Eltern? Damit ich sie nicht jeden Tag so furchtbar vermissen muss?“
Die alte Frau blickte mitfühlend auf ihre Enkelin, in deren Augen ungeweinte Tränen funkelten.
„Tao-Bai wird dich trösten, aber ich fürchte, die Trauer wird er dir nie ganz nehmen können.“
Die Lippen des Mädchens zitterten. Dann lief sie die Treppen nach oben, warf ihre Zimmertür hinter sich zu und weinte.
Nach einiger Zeit folgte ihr die alte Frau, deckte das Kind zu, das eingeschlafen war, spürte einen sanften Hauch auf ihrer Stirn. Der Vorhang schwang sacht.
`Der Wind´, dachte sie und schlich leise aus dem Raum. Bemerkte nicht, wie ihr ein unsichtbares Wesen nachschaute und sich dann dem kleinen Mädchen zuwandte. Als es davon schwebte, lag ein kleines Lächeln auf den Lippen der Schlafenden.
Dieses Märchen ist den beiden Autorinnen Elsa Rieger und Gabriella Marten Cortes gewidmet, als Dankeschön für ihre unermüdlichen Lektoratsarbeiten an meinen Texten.
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