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Mai 2006
Die weiße Feder
von Ulrike Lauterberg

Sabrina war mĂŒde, erschöpft und voller Selbstzweifel.
Auf Station fĂŒnf der Inneren verlief der Tag hektisch und unruhig. Vielleicht unterlief ihr darum ein Fehler, der entsetzliche Folgen hĂ€tte haben können. Nur durch die Aufmerksamkeit einer Kollegin konnte Schlimmeres verhindert werden. Wenn Corinna es nicht rechtzeitig bemerkt hĂ€tte ... ich mag es mir gar nicht weiter ausmahlen. Nur einen Moment der Unachtsamkeit ... eine falsche Infusionsflasche.

Wieder sah sie das entsetzte Gesicht der Patientin vor sich, wie sie verzweifelt nach Atem rang und blau anlief.
Wenn Corinna nicht sofort die nötigen Maßnahmen eingeleitet hĂ€tte ... und ich stand nur hilflos da, wie erstarrt.
Man darf mich nicht mehr auf Menschen los lassen, ich bin fĂŒr Patienten eine Gefahr. Der heutige Vorfall ließ sie ĂŒberlegen diese Arbeit fĂŒr immer hinzuschmeißen.
Zeitiger als sonst wollte sie das Bett aufsuchen, nur noch schlafen statt zu grĂŒbeln. FlĂŒchtig gab sie ihrem Mann einen Kuss und zog sich zurĂŒck.

“Nacht mein Schatz, schlaf gut!” , rief er ihr besorgt nach.

Unruhig wĂ€lzte sich Sabrina im Bett herum. Die Bilder des Tages behielten weiterhin Macht ĂŒber ihr Denken. Auch Erinnerungen an Worte, die ihr Corinna einmal sagte, wurden lebendig:
“Kommst du in dir nicht zur Ruhe, Sabrina, dann meditiere und suche deine innere Mitte.” Ein gequĂ€ltes LĂ€cheln zog um Sabrinas Lippen.
Wie soll ich meine Mitte finden, wenn ich nicht einmal ahne, wo bei mir innen und außen ist? Traurig drehte sie sich auf die andere Seite und wickelte sich in die Decke ein. Corinna ist eine nette Kollegin, aber ich frage mich, ob sie in der RealitĂ€t lebt? Wir sind nun mal nicht umgeben von Engeln und GeistfĂŒhrern, wie sie glaubt.
Das Leben ist an manchen Tagen schwer. Dann sehe ich auch keinen Engel, der mich an die Hand nimmt oder Trost spendet. Engel und SeelenfĂŒhrer, sind das nicht nur Figuren von Menschen, die sich etwas schön reden wollen, in unserer manchmal hoffnungslosen Welt? Doch sie versucht mich stetig davon zu ĂŒberzeugen, dass jeder Mensch einen Schutzengel hat. Dann mĂŒsste ich ja auch einen haben.
“Wo steckst du, wenn es dich gibt? Ich hĂ€tte gerne einen solchen Freund.”, murmelte Sabrina traurig in die Bettdecke. Sie schloss die Augen. Das ist sowieso nur esoterischer Humbug. Wo war dieser sogenannter Engel, als ich die falsche Infusionsflasche anschloss?
Sabrina rieb die brennenden Augen. Plötzlich verharrte sie mitten drin. Sie hatte eine Bewegung gesehen.
“Was ist das?”, flĂŒsterte sie.
Weiße LichtfĂ€den tanzten vor dem dunklen Hintergrund ihrer Augen. Wenn sie sich begegneten und kreuzten, bildeten sich abstrakte Figuren, wie in einem Kaleidoskop. Ich kann mit geschlossenen Augen sehen? Nach wenigen Sekunden verĂ€nderte sich das. Ein undefinierbares Bild mit goldenem Licht, vermischt mit einem leuchtendem Hellblau, bildete sich. Kurz darauf erblickte Sabrina eine schemenhafte Gestalt, deren RĂ€nder flimmerten, wie von der Sonne erhitzte Luft ĂŒber eine Strasse im Hochsommer. Erwartungsvoll hielt sie weiterhin die Augen geschlossen. Dann vernahm sie in sich:
“Folge mir!” Es war wie ein lauter Gedanke, der sich in ihrem Kopf formte.
“Wem? Wer bist du? Wieso kann ich etwas sehen und hören? Wie sollte ich von hieraus jemandem folgen können?”, fragte sie verwirrt.
Herrgott, mit wem spreche ich? Werde ich verrĂŒckt? Die verschwommene Gestalt gewann an Klarheit. Ein alter, anmutig anzusehender Mann stand vor Sabrinas Augen. Seine Gestalt war umstrahlt von goldenem Licht und das Gewand leuchtete in einem hellen Blau. Hochgewachsen stand er da. Seine Augen aus denen Weisheit sprach, blickten sie gĂŒtig an.
Jetzt erblickte sie die Hand, die ihr entgegen gestreckt wurde. Ein kurzes Zögern, dann legte Sabrina ihre vertrauensvoll in die Seinige. Im selben Augenblick wurde sie von einem starken Sog erfasst, der sie in etwas Unbekanntes hinein brachte.
War es ein Tunnel, eine Spirale? Sabrina vermochte es nicht zu deuten und hÀtte sich dieser fremden Kraft nicht widersetzen können.
Hunderte von Lichtern flogen wie Sterne an ihr vorbei.
Oder bin ich es die fliegt?, fragte sie sich berauscht von der Leichtigkeit, die sie von einer tiefen, inneren Ruhe erfĂŒllte.
Sabrina fand sich in einer kahl wirkenden Landschaft wieder. Das Land schien unendlich und hell. Sie wunderte sich nicht, als sie die hohe Gestalt plötzlich vor sich entdeckte, diesen geheimnisvollen Mann. Im ruhigen Tempo ging er vorweg und ihre Beine setzten sich in Bewegung, um ihm zu folgen, als sei er ein Magnet, dessen Kraft sie anziehen wĂŒrde. Sabrina war es jetzt möglich, ihn genau zu betrachten. Sie sah seine gepflegten, schneeweißen Haare, die bis auf die Schulter wuchsen und bestaunte sein Gewand, das fast bis zur Erde reichte. Das helle und strahlende Blau dieser Bekleidung war eine Wohltat fĂŒr ihre Augen. Dann entdeckte sie braune Sandalen, die bei jedem Schritt unter dem Gewand hervor schauten. Spontan rief sie:
“Du trĂ€gst ja Jesuslatschen!” Der weißhaarige Mann drehte Sabrina lĂ€chelnd sein Gesicht zu, ohne das Schritttempo zu verĂ€ndern, und sprach: “Doch Jesus trug Zeit seines Lebens selten einen Schuh.” Diese Aussage verwunderte Sabrina. Sie zog die Schultern hoch und dachte:
Weiß ich was Jesus fĂŒr Schuhe trug? Im SchuhgeschĂ€ft werden sie so jedenfalls bezeichnet.
Unentwegt folgte sie diesem Mann, der ihr vertrauter erschien, desto lĂ€nger sie hinter ihm herschritt. Mit der Zeit erstrahlte alles heller um sie, so dass das Licht ihre Augen blendete, doch am Himmel stand keine Sonne. Am Horizont tauchte eine Bergspitze auf und je weiter sie voran kamen, desto deutlicher erhob sich ein hoher, wunderschöner und grĂŒn bewachsener Berg, der voller Leben war. BĂ€ume und BĂŒsche schimmerten in einem satten und schillernden GrĂŒn. Vogelgezwitscher drang an Sabrinas Ohren und hatte auf sie die selbe Wirkung, wie leise und sanft klingende Musik. Sabrina fĂŒhlte sich wie verzaubert.
“Was fĂŒr ein prachtvoller Berg ”, jubelte sie entzĂŒckt.
“Das ist dein Berg.”
“Mein Berg?”
“Ja, das ist das, was du besteigen und besiegen musst. Die HĂŒrden und Probleme deines Lebens sind auf diesem Berg. Wenn du willst, kann er aber auch deine Lebensfreude sein.”
Überrascht blieb Sabrina stehen.

“Wie kann er das sein?”
“Wirst du ihn bezwingen, erreichst du dein Ziel.” , erklĂ€rte der leuchtende Mann, der ebenfalls stehen geblieben war.
“So einen riesigen Berg soll ich besteigen? Wie viele Schwierigkeiten mögen sich da verbergen?”, fragte sie entmutigt. Der weißhaarige Mann jedoch entgegnete: “Du musst ihn nicht besteigen, wenn du nicht willst. Du kannst ihn auch umgehen. Dann dauert es lĂ€nger das Ziel zu erreichen. Doch ist es nicht wichtig, etwas schnell und mit Anstrengung zu erreichen. Wichtig ist nur, das Ziel im Auge zu behalten. Welchen Weg du wĂ€hlst, bleibt alleine deine Entscheidung. Willst du fortlaufen, wenn sich Schwierigkeiten auftun, dann hast du das Recht dazu. Flucht bedeutet das Umgehen. Das Besteigen hingegen wird mĂŒhseliger, aber mit viel mehr Freude verbunden sein.
Sabrina war beeindruckt von diesen Worten und fĂŒr einen kurzen Moment erinnerte sie sich an den geplanten RĂŒckzug aus ihrem Beruf.


Der Mann setzte seinen Weg fort und Sabrina folgte. Bald hatten sie den Fuß des Berges erreicht. Sabrinas blickte nachdenklich den kleinen Teil des steilen Weges hinauf, der im leuchtenden, dichten BlĂ€tterwald zu verschwinden schien.
“Was erwartet mich dort oben?”
Ein Schmunzeln huschte ĂŒber das Gesicht des alten Mannes.

“Nur das, Sabrina, was du dir erschaffst und erarbeitest.”

Ihr FĂŒhrer, der sich inzwischen auf einen Baumstamm niedergelassen hatte, sprach:
“Jeder Weg ist mit HĂŒrden gekennzeichnet. Jeder Stein bedeutet eine HĂŒrde. Das ist all das, was du erlernen kannst.
Sabrina zuckte mit den Schultern.
“Ich verstehe nicht.”
Der alte Mann erhob sich und sprach:
“SpĂ€ter einmal schon. Jetzt werde ich dir etwas geben. Es ist ein Geschenk, dessen Bedeutung du erkennen wirst und dann musst du deinen Weg ohne mich fortsetzen. Er hielt ihr etwas entgegen. Erwartungsvoll öffnete sie ihre Hand und sah, wie eine kleine weiße Feder auf ihre HandflĂ€che schwebte. Mehr nicht - nur eine wohlgeformte Feder. Sabrina umschloss sie sanft mit ihrer Hand, damit sie nicht fortwehen konnte. Sie blickte dem geheimnisvollen Mann in die Augen und sprach:
“Danke schön, aber was soll ich ...”

...ein lautes, monotones Tröten ließ Sabrina aufschrecken.
Einige Minuten vergingen, bis sie begriff. Schließlich fand sie die Taste ihres Radioweckers. Eine Welle der EnttĂ€uschung durchflutete sie:
Ach, es war nur ein Traum. Wie schade.
Nach einigen Minuten der Besinnung, hĂŒpfte sie aus dem Bett, um Kaffee aufzusetzen. Auf dem Weg zur KĂŒche begegnete sie ihrem Mann. Liebvoll nahm dieser Sabrina in den Arm.
“Guten Morgen mein Schatz. Gut geschlafen?”
“Ja, und so schön getrĂ€umt habe ich.”
Ein Schmunzeln zog ĂŒber das Gesicht ihres Mannes, wĂ€hrend er begann in ihrem zerzausten Haarschopf herum zu zupfen, als wĂŒrde er dort etwas suchen.
“Du hast heute Nacht wohl Besuch gehabt. Weißt du, was meine Mutter zu uns Kindern sagte?”
“Nein.”
“Sie sagte: “Immer wenn sich eine weiße Feder in euer Haar verfĂ€ngt oder vor die FĂŒĂŸe weht, dann war ein Engel zu Besuch.”
Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er seiner Frau etwas vor das Gesicht. Sanft schwebte es in ihre geöffnete Hand und mit offenem Mund starrte Sabrina auf eine kleine weiße Feder. Fasziniert umschloss sie diese mit ihren Fingern, damit sie nicht herunter wehen konnte, und flĂŒsterte:
“Eine weiße Feder.”
Dann verstand sie und umarmte ihren Mann, wÀhrend sie fröhlich entgegnete:
“Ich glaube deine Mutter war eine sehr kluge Frau.”
GestÀrkt von neuer Zuversicht dachte Sabrina insgeheim:
Ich werde mich meinen Problemen stellen. Jeder hat das Recht Fehler zu machen und diese Feder wird immer etwas Besonderes fĂŒr mich bleiben.
Ein geheimnisvolles LĂ€cheln umspielte Sabrinas Lippen und begleitete sie in den Tag.

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