Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Gisa M. Zigan IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Mai 2006
Lores Leihbibliothek oder: Ein Traum im Heine-Jahr
von Gisa M. Zigan

Es war im letzten Urlaub, den meine Frau und ich in Deutschland verbrachten, anstatt uns unter Palmen im heißen Sand zu aalen. Dafür studierten mittlerweile beide Kinder und riefen ab und zu an ...

Statt der Palmen gab es hier Kastanien an der Uferpromenade, und Sand manchmal im Feldsalat unserer Gastgeberin. Dafür Wasser. Reichlich. Von oben in Kübeln, unter den Schuhen in Pfützen, typisches sommerliches heimatliches Urlaubswetter eben.

Meine Frau strickte und häkelte, wir schwiegen uns an, und ich tigerte meist allein durch die Gassen des kleinen Ortes. Er ist bei Sonne sicher ein Kleinod und liegt an dem berühmtesten, meistbesungenen, größten aller deutschen Ströme: an unserem Vater Rhein.

Den Namen nenne ich nicht, ich möchte mit meinem Schweigen die Person schützen, von der ich im folgenden erzählen will und die es nicht verdient hat, dass wieder ganze Busladungen und Heerscharen von Neugierigen sie besuchen wollen.

Ich selbst fand sie durch Zufall, als ich wieder einmal missmutig durch den Ort schlenderte. Am Ende einer Gasse, halb in den Fels gebaut, sah ich plötzlich das Schild: Lores Leihbibliothek.

Warum nicht, dachte ich, die Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, Beilagen und Prospekte in dem Frühstücksraum meiner Pension kannte ich schon in- und auswendig. Falls ich nicht die Strickmusterhefte meiner Frau oder die Zeitschrift für den verhinderten Hochseesegler studieren wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir Bücher zu besorgen. So einen spannenden Reißer vielleicht, in dem am Schluss neunzig Prozent ermordet, zehn Prozent verhaftet sind, und nur der Superdetektiv und der Leser zufrieden zurückbleiben.

So etwas würde mir gut tun heute abend nach dem obligaten Bauernfrühstück mit Beilage und einer Flasche säuerlichem Rheinwein.

Der Laden war eng und dunkel wie die ganze Gasse, und ich gewahrte erst nach einiger Zeit eine Frau, die im Hintergrund an einem Tischchen hockte.

War sie jung, war sie alt? Man konnte das in dem Dämmerlicht nicht ausmachen. Das lange Haar, das zu einem festen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden war, schien jedenfalls noch nicht weiß zu sein.Es schimmerte in einem Metallton zwischen Gold und Silber, wie ich, nähertretend, bewundernd feststellte.

"Was kann ich für Sie tun?", fragte sie mit einer Stimme, die weich und melodisch klang, keine Jungmädchenstimme, aber auch ganz und gar nicht die einer Greisin.

"Oh, ich - ", stotterte ich, riss mich dann aber zusammen, weil ich noch einmal diesem Wohlklang lauschen wollte, "was können Sie einem armen, gelangweilten Touristen denn empfehlen?"

"Zu viel Wasser von oben, gell?" lachte sie verständnisvoll, und ich lauschte verzückt diesem hellen Klang, "das verdirbt Wein und Ferien."

Sie musterte mich prüfend.

"Tja, also auf Ihre Altersgruppe bin ich nicht so spezialisiert. Wie Sie sehen, führe ich vor allem Sagen- und Märchenbücher."

"Gibt es denn dafür ein Publikum?", fragte ich überrascht.

"Sie würden sich wundern, wie viel junge Leute zu mir kommen und in das Reich der Phantasie oder Fantasy, wie sie heute sagen, eintauchen wollen."

Sie wies auf eine lange Reihe von bunten Umschlägen , auf denen sich Zauberwesen aller Art tummelten. Drachen kämpften mit gepanzerten Amazonen, lockige Helden strahlten den Betrachter an und schienen sich vor den ekelhaften Monstern nicht zu fürchten, die im Hintergrund lauerten.

"Tja, ich weiß nicht recht, nicht ganz mein Geschmack -", ich musste mich zusammennehmen, ich war wie benommen, "andererseits ist hier ja wohl der Ort, an dem man solche Geschichten lesen sollte. Am sagenumwobenen Rhein ... Nicht zu vergessen, die berühmteste Gestalt von allen, die Loreley dort auf dem Felsen."

"Halten sie die für eine erfundene Sagengestalt?", fragte die Frau, und ihre grünen Augen blitzten plötzlich auf.

"Nun ja", druckste ich, "auch Heine schrieb schließlich schon: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten? Ich habe sie jedenfalls noch nie zu Gesicht bekommen. Weder, wenn ich vom gegenüberliegenden Ufer geschaut habe, wo ich mit Bahn oder Auto gefahren bin, noch jetzt, wo ich höchstpersönlich den Berg bestiegen habe. Die mickrige Steinfigur zählt ja nicht."

"Und wenn Sie etwas nicht mit eigenen Augen sehen, glauben Sie nicht an seine Existenz?", bohrte sie weiter, und eine kühle Hand zwang mich auf einen Stuhl.

"Ist das nicht sehr oberflächlich? Vielleicht will sie auch gar nicht gesehen werden?"

"Aber sie soll sich doch freiwillig zur Schau gestellt haben", wandte ich schüchtern ein, "Sie wissen doch: die schönste Jungfrau sitzet dort oben wurnderbar..."

"Na und?? Sollte ich den ganzen Tag in dieser modrigen Felsenhöhle verbringen?", fauchte sie, und ich stutzte kaum über ihren Wechsel der Perspektive.

"Einmal am Tag will man doch freie Luft atmen!"

"Also war es gar nicht Bosheit, welche die Fischer in den Tod zog?" fragte ich neugierig und dachte an den Vers: Er sieht nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh.

"Ach, was!", schnaubte sie, "was kann ich dafür, dass die Kerle so unbeherrscht sind und nicht an ihren Job denken. Auf die Dauer allerdings machten mir diese Massenkarambolagen Spaß, und ich musste ja auch von etwas leben."

"Wieso?" Ich kam nicht mehr mit.

"Na, Sie kennen doch Ihren Heine: Ihr goldnes Geschmeide blitzet - das war so zu sagen die Beute, die Frachtladung und der Erlös aus gestrandeten Kähnen."

Du liebe Güte, ich war schockiert.

"War ja nicht viel, ich bin ein bedürfnisloses Wesen. Fisch und Wein bot mir ja lange Zeit die Landschaft selbst. Aber später konnte ich das alles nicht mehr vertragen."

"Wieso das?“

"Ich sag nur: Umweltverschmutzung! Gift im Wasser, Chemie in der Luft. Für euch mag das angehen, ich bin halt aus anderem Stoff geschnitzt."

Ich betrachtete verstohlen ihren schönen festen Busen.

"Jedenfalls musste ich schauen, dass ich zu einem gewissen Einkommen kam und mich selbst versorgen konnte. Das forderte nun mal Opfer."

"Das haben Sie aber ganz schön raffiniert angestellt", moserte ich in Gedanken an die vielen Opfer ihrer Habgier, "setzen sich da halbnackt in die Abendsonne und kämmen Ihr goldenes Haar -"

"Reine Körperpflege", sagte sie trocken, "ich neige zu einer gewissen Schuppenbildung."

Wie offen sie darüber sprach! Meine Frau flüsterte mir immer diskret ins Ohr, wenn sie meine Schultern abbürstete.

"Sie wissen doch: meine Herkunft", erklärte die Schöne. Ich verstand nicht.

"Na, ihr Goethe beschreibt das doch in seinem "Fischer"-Gedicht: Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll, ein Fischer saß daran ... Und dann taucht aus den Fluten ein "feuchtes Weib" hervor, eine Nixe natürlich. Das war meine Mutter."

Ich war ganz benommen von dem Wohlklang ihrer Stimme, als sie diese alten Verse zitierte, und fuhr selbst fort:

"Da war's um ihn gescheh'n. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und ward nie mehr geseh'n."

"So isses", schloss die Schöne, "daher die Schuppen. Bin nicht Fisch noch Fleisch."

Ich begriff nun viel, aber noch nicht genug. "Lores Leihbibliothek" fiel mir ein.

"Warum ist sie, sind Sie", verbesserte ich mich und das kam mir nun ganz selbstverständlich vor, "dann aber von diesem schönen Felsen heruntergestiegen und haben Ihren einträglichen Job aufgegeben?"

"Nun, ich sagte ja schon: Luft und Wasser wurden immer unbekömmlicher, ich musste an meine Gesundheit denken. Jahrhunderte lang nichts, keinen Schnupfen, keinen Pickel, aber nun - ich will Sie mit meinen körperlichen Leiden nicht langweilen. Hinzu kam das Seelische."

"Langeweile?", warf ich verständnisvoll ein.

"Im Gegenteil, Stress, Hektik, Trubel. Immer mehr Touristen kamen und starrten und kletterten auf dem Felsen herum -" Ich dachte an meine Kraxelei und schämte mich, "es war nicht mehr zum Aushalten!"

"Und der Gipfel auf dem Gipfel war", fuhr sie fort und ihre weiße Haut schien sich zu röten vor Erregung, "als diese Frauen kamen!"

"Frauen?"

"Ja, Busladungen voll, Feministinnen, die eine Demo auf dem Loreleyfelsen abhalten und mich als Leitfigur haben wollten. Wie haben sie auf mich eingeredet:, ich sei doch das historische Beispiel für die freie Frau, die sich an den Männern rächt und so weiter. Es war zum Wegschwimmen!"

"Hm.“ Auf Emanzipationsgespräche lasse ich mich ungern ein. „Und wie halten Sie es nun mit den Männern?", fragte ich und fühlte mich plötzlich viel jünger als 54, "hassen Sie die wirklich und locken sie dafür ins Verderben?"

"Ach was, das war reiner Sport. Einmal habe ich mich sogar ernsthaft in einen verliebt, einen schönen jungen Ritter vom Drachenfels. Aber das ist schon 800 Jahre her", schloss sie leise und schaute träumerisch aus ihren meergrünen, etwas hervorquellenden Augen, "heute sind sie mir gleichgültig."

Also doch Fischblut, dachte ich und hörte auf, den Bauch einzuziehen.

"Na, jedenfalls gingen mir diese Frauen so auf den Geist und an die Kiemen, dass ich mich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Sollen sie doch mit den Männern machen, was sie wollten. Ich glaube kaum, dass sie sich stundenlang auf die nackten Schieferfelsen hocken würden, um ihre Rachsucht zu befriedigen. Halten die doch gar nicht aus."

"Und die meisten sind auch nicht hübsch genug, dass sich die Männer nach ihnen die Köpfe verrenken könnten", meinte ich boshaft und dachte an die Frauengruppe, in die meine Frau ab und zu flieht, wie sie es nennt. Wovor? Das weiß der Himmel! Ich bin weder ein kalter Fisch noch ein speiender Drache.

Lore sah mich wohlgefällig an.

"Das war nett gesagt. Soll ich dir zum Dank ein Lied singen?"

"Oh, bitte, ja", stammelte ich und sah mit klopfendem Herzen, wie sie ihren Haarknoten löste, die langen glänzenden Locken über ihre Schultern glitten und das grüngraue Kleid verdeckten. Sie lehnte sich mit einer geschmeidigen Bewegung an das Regal mit dem Schild "Von Nixen, Feen und Elfen", und begann mit leiser Stimme zu summen.

An das Lied erinnere ich mich nicht mehr, auch nicht daran, wie ich auf die feuchte Rheinwiese gelangte, auf der ich spät nachts erwachte.

Meiner Frau erzählte ich natürlich nichts von all dem, sie nahm sowieso an, dass ich in einer Weinkellerei versackt war, wie schon öfter. Sie krauste nur die Nase, als sie sagte: „Du riechst irgendwie fischig.“

Tagelang rannte ich durch die Gassen wie ein aufgescheuchter Esel. Aber den Laden "Lores Leihbücherei" habe ich nicht mehr gefunden. Ich werde irgendwann weitersuchen. Einmal noch ihren Gesang hören, diese "wunderbare, berauschende Melodei"...

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 10425 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.