Der Tod aus der Teekiste
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Mai 2006
Sophias Traum
von Linde Felber

Der kleine Bub lächelt im Schlaf. Sophia, sein Kindermädchen, wiegt ihn mit der Hängematte hin und her. Diese roten Wangen, diese weizenblonden Haare! Wie mag ihr Kind jetzt aussehen? Sie lauscht dem Rufen und Locken der Vögel, dem Summen der Insekten. Ein einsames Flugzeug brummt über sie hinweg. Es fliegt Richtung Ngong Hills. Sophias Gedanken fliegen mit, fliegen zu ihrem Baby, stürzen ab und bohren sich einen Meter unter die Erde. Gerade zwei Monate alt, ist es hilflos erstickt. Keiner hatte es bemerkt, als Hilfe noch möglich gewesen wäre. Weder ihr Mann, noch ihre beiden Kinder oder ihre Schwester. An einem Dienstag ist es passiert und als sie dann am Wochenende ahnungslos in ihr Dorf heimgekommen ist, war alles schon vorbei.

Ihr Herz stolpert, ihre Augen sind leer. „Tränen sind rein, sind nur was für Weiße“, hatte ein betrunkener Gast einmal gesagt, „sie sollten nicht über schwarze Wangen laufen“. Ihre Arbeitgeberin hat sich für ihn entschuldigt und gesagt, dass er es nicht so gemeint hat. Trotzdem schmerzt es Sophia noch heute.

Der Gärtner zerlegt am anderen Ende des Rasens ein Kinderturngerät. Das ächzende Geräusch, wenn er die rostigen Nägel aus dem alten Holz zieht, brennt sich in ihre Seele.

Sie ist müde, ihre Brust tut weh. Doch sie darf nicht müde sein, darf es nie zeigen. Ihre ältere Schwester hatte zehn Jahre für die weiße Familie gearbeitet. Dann ist sie krank geworden. Dauernd müde, schaffte sie die Arbeiten nur unzureichend, bis ihr gekündigt wurde. Seitdem siecht sie dem sicheren Tod entgegen. Sophia weiß, welche Krankheit es ist, doch sie darf es ihren Arbeitgebern gegenüber nicht zugeben. Sobald sie darauf angesprochen wird, faselt sie etwas von einer Schlange, die ihre Schwester gebissen hat und deren Gift ihren Körper schwächt, wovon sie sich nie wieder erholen wird.

„Lügen sind Sünden!“, predigte der Pater beim sonntäglichen katholischen Gottesdienst, doch Sophia weiß keinen anderen Ausweg. Das Schulgeld für ihre beiden Kinder ist überfällig, auch die neue Schulkleidung muss bezahlt werden. Ihr Mann hat keine Arbeit, er leidet an derselben Krankheit wie ihre Schwester.
Sophia wird ihre Arbeitgeber wieder um einen Vorschuss bitten und dafür an ihren freien Wochenenden oder an den freien Abenden auf deren Kind aufpassen müssen. Sie ist froh, dass sie diesen Job hat. Sie hat keine andere Wahl.

Sie zieht ihr blaues Kopftuch über die Ohren, verscheucht mit hilfloser Geste Insekten, legt sich ins Gras. Das leuchtend weiße Haus ihrer Arbeitgeber, der Garten mit den Papageienblumen, den Kaffee- und Rhododendron Sträuchern verschwimmen vor ihren Augen.





Sophia findet sich am Strand des Indischen Ozeans wieder. Ihre Fußsohlen brennen vom heißen Sand. Die vielen bunten Tücher, die dem Meer entgegenflattern, hat sie an einer Stange über ihrer Bretterbude aufgehängt. Ihr Mann und ihre Schwester sitzen hinter ihr im Schatten einer Palme. Sie sind in Decken gewickelt. Sie frieren immer.

Eine Touristin wühlt zwischen den Tüchern, kann sich nicht entscheiden. Sie legt sich eins nach dem anderen um ihren fettigen Hals und Nacken. Sophia lächelt, lobt, lächelt, setzt den Preis herunter. Dann kauft die Touristin ein Tuch. Beim Abschied sagt sie noch: „Sie haben es gut, Frau, Ihr Land ist so schön. Das Meer, der weiße Sand, die Schiffe und die vielen Boote. Sie können das jeden Tag erleben, müssen dafür nicht so weit fliegen wie wir.“

Sophia ist traurig. Sie hängt die Tücher wieder an ihren Platz.

Die Gesichter ihres Mannes und ihrer Schwester leuchten vor Freude – sie haben den Ozean noch nie vorher gesehen.

Sophia kann ihre Kinder zu Jul’s Restaurant schicken, um riesige Portionen Fisch und Reis zu holen. Es sind schließlich noch freundliche Touristen gekommen, die viele Tücher gekauft haben.
Sophia hat eine Decke auf dem Sand ausgebreitet. Die Kinder schleppen Fisch und Reis herbei. Sie setzen sich, essen mit den Fingern. Neben ihnen liegt Sophias Baby. Es lächelt im Schlaf. Nach dem Essen dürfen die Kinder Eis kaufen. Jeder bekommt eine Tüte mit zwei Kugeln Erdbeere und Vanille. Sophias Herz macht einen Freudensprung, als sie in die glücklichen Gesichter ihrer Familie schaut.
Die Wellen des Meeres kräuseln sich, kommen näher. Weit draußen am Horizont versinkt ein glühender Feuerball. Sophia nimmt ihr Baby auf den Arm, drückt es an sich. Das Baby lächelt, Sophia ist glücklich.





„He Sophia“. Der Gärtner rüttelt sie unsanft. Er hält ihr den weinenden Buben entgegen. Dessen Hose ist zerrissen und er blutet am Knie.

„Du kannst froh sein, dass die Herrschaften nicht da sind!“ Der Gärtner grinst. „Als Dank darfst du meinen nächsten Sonntagsdienst übernehmen.“

Sophia reibt sich die Augen, springt auf, nimmt das Kind auf den Arm. „Okay“, sagte sie, „okay, geht in Ordnung. Aber halt bloß deinen verdammten Mund.“

Zufrieden pfeifend schlurft der Gärtner davon.

Sophia geht mit dem Kind Richtung Haus. Sie fühlt sich benommen, trotzdem lächelt sie. Ihre Familie hat den Indischen Ozean gesehen mit seinen großen Schiffen, den vielen Booten ...
Das erste Mal in ihrem Leben.
Sie haben genug Geld gehabt, um im Restaurant Essen zu kaufen, alle sind satt geworden. Die Kinder schleckten Erdbeer- und Vanilleeis.
Das erste Mal in ihrem Leben.

Ihr Baby hat gelächelt, Sophia war glücklich.

Zum letzten Mal in ihrem Leben.

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