Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Mai 2006
Barbiestiefel
von G. K. Nobelmann

Kurz nach 8 und nicht mal richtig hell.
Im Radio erzählte der Sprecher etwas von der 16jährigen, die vor zwei Wochen verschwunden war. Michelle P. aus Eilbek. “Abgehauen”, kommentierte Mama von der Spüle her, aber dann kam raus, daß man einen Stiefel von ihr gefunden hatte. Jetzt suchten sie nach dem anderen, und nach Michelles Umhängebeutel mit Geldbörse und Handy.
Vor dem Fenster leeres Regengrau. Lennart dachte an das Motorola-Handy, das er gestern auf der Baustelle gefunden hatte. Nagelneu und schweineteuer. In der Nacht hatte es ihn wachgeklingelt, Xavier Naidoo um halb 3, obwohl er überzeugt gewesen war, es abgestellt zu haben.
“Michelle P.”, sagte Britt, “was für’n Name ist das denn.”


Als er von der Schule kam, lachte sie ihm vom Kiosk entgegen, mittelblond, Lücke zwischen den Vorderzähnen, nicht wirklich hübsch, bißchen ordinär vielleicht. Aber das konnte auch an der Aufreißermanier der Mopo liegen – 16jährige Shelly stand auf Sexspiele!
Lennart nahm sich eine Zeitung.
Michelle: “Shelly” für ihre Freundinnen, für alle anderen “ein Problemfall”. Weil sie sich nicht an Absprachen hielt, und weil sie sich mit älteren Männern traf. Die standen auf Sexspiele. Shelly mehr auf die Kohle. Das Motorola in Lennarts Tasche glänzte harmlos.
Xavier und Sex für Geld, ging das zusammen?
In der Ecke des Geländes, neben zwei schmutziggelben Containern, drängten sich Baumaschinen zusammen wie massive metallene Tiere, die Flanken erdbespritzt. Es regnete immer noch.
Lennart versuchte, die Stelle zu finden, wo er über das Handy gestolpert war. Er schwitzte vor Nervosität. Es war Bens Idee gewesen, herzukommen, wieso hatte nicht Ben das verfluchte Handy finden können?!
Zögernd machte er einen Schritt auf den Rand der Grube zu. Unten erste Fundamente, naßgrauer, streifiger Beton. Er wußte nicht, ob es am Wetter lag, der Jahreszeit, oder ob die Arbeiten an der Baustelle generell zum Stillstand gekommen waren; zwischen den halbhohen Mauern sammelte sich erster Müll.
Hinter ihm lachte jemand gedämpft, und im nächsten Moment rutschte Lennart den Hang hinunter.
Mit einem matten Klatschen schlug er auf, kühle Nässe am Hinterkopf.
Als er sich aufrappelte, sah er, wie hoch die Grubenwände um ihn in den Schieferhimmel ragten. Der rechte Fuß weigerte sich, ihn zu tragen, und sein Handgelenk pochte. Wie zum Henker sollte er hier herauskommen? Niemand wußte, daß er hier war.
Nein. Das stimmte nicht.
Lennart legte den Kopf in den Nacken. Wolken und Himmel und feiner Regen, der auf ihn herabstäubte. Er konnte eine helle Spur sehen, wo Rücken die Steilwand heruntergeschürft war.
Dann, ein Stück zu seiner Linken, trat eine Gestalt vor den Himmel.
Schweigend blickte die Figur auf Lennart herab, und Lennart, erdverschmiert und abgeschürft, kam gar nicht erst auf die Idee, etwas zu sagen. So schnell er konnte, fuhr er herum und humpelte in Richtung der fleckigen Mauern.
Er preßte sich in einen Winkel, über sich grauen Himmel, vor ihm, hinter ihm ein Labyrinth aus L-förmigen Gängen, das ins Nichts führte. Ein saublödes Versteck, aber vielleicht, wenn er Glück hatte...
Stille; dann, nicht allzu weit, das Prasseln loser Steine.
Lennart hörte auf zu atmen. Er konnte seine eigene Angst riechen, einen stechenden Geruch nach Pisse und Galle und Tod, oder waren es die Mauern, die so stanken, der klamme, unfertige Beton? Das einzige Geräusch das Hämmern seines Herzens.
Und dann, ohne Vorwarnung, Xaviers geradezu apokalyptisch aufdringlicher Refrain, so laut, als käme die Melodie direkt aus Lennarts Brust.


Lennart saß senkrecht. Um ihn Dunkelheit, und nur langsam begriff er, daß er im Bett hockte; bloß das Handy zeterte vom Weinen und Lieben, wie in der Nacht zuvor.
Er taumelte zum Schreibtisch, das Blut in seinen Adern weißglühend vor Strom.
“–weiß doch, worauf du stehst, Barbiestiefel forever!”
Einen surrealen Moment glaubte Lennart, es wäre Britt, die da in die Muschel lachte. Das war, bevor ihm einfiel, daß er das Motorola ausgeschaltet hatte, ganz, ganz sicher diesmal.
Er schleuderte das Handy von sich; mit einem Klacken traf es die Tischecke. Oder war auch das nur ein Traum? War er jetzt, in diesem Moment, wach, oder träumte er, blutend auf dem Boden der Grube?
Ihm fiel nur eine Menschenseele ein, die er fragen konnte.
Shelly.
Mit kalten Fingerspitzen klappte Lennart das Handy auf.
Fahles Licht ergoß sich über die Tasten. Auf dem winzigen Bildschirm flackerte ein Minifilm. Ein blondes Girl in engen Jeans, das so wackelig auf den Füßen war wie der ganze Film. Sie lachte, obwohl es nichts Erkennbares zu lachen gab. Der Mann hinter ihr lachte nicht. Er griff nach ihrer Schulter.
Im nächsten Augenblick lag das Mädchen auf dem Boden, und der Mann trat auf sie ein. Als er innehielt, Ewigkeiten später, bewegte sie sich nicht mehr.
Lennart erwartete, daß der Film jetzt aufhören würde, aber nach einer Weile sah er, wie der Mann wieder ins Bild trat, eine Plastikplane in den Armen.
Bevor er das Plastik um den schlaffen Körper des Girls schnürte, hielt der Mann inne; kniete sich hin und begann, ihr die Stiefel auszuziehen, ungeachtet der Zeit, die er dadurch verlor – die Stiefel waren weiß und fast kniehoch geschnürt, und es machte Lennart selbst ganz kribbelig, dem Mann dabei zuzusehen, wie er mit flatternden Fingern an den Schnürsenkeln zerrte.
Barbiestiefel.
Lennart schlug das Handy zu und holte Atem; dann öffnete er es wieder. Diesmal blieb das Display dunkel. Verzweifelt hackte er auf die flachen Tasten ein. “Los”, zischte er, “mach schon, du Scheißteil!”
Er mußte lauter geflucht haben als beabsichtigt. Das Klopfen an der Zimmertür ließ ihn zusammenschrecken.
“Lennart? Alles in Ordnung?”
Lennart schluckte sein Herz wieder in den Brustkorb zurück. “Äh... ich hab nur geträumt!”
Die Klinke wurde heruntergedrückt. “Weißt du eigentlich, wie spät es ist?” wisperte seine Mutter durch den Türspalt. “Wir haben halb drei, Freundchen, und morgen ist Schule!”
Ihr Tonfall verwirrte ihn; neckisch, beinahe anzüglich. “Ja, Mama”, sagte er. Das Handy fühlte sich warm und feucht an in seinen schwitzigen Fingern. Er wartete, aber die Tür schloß sich weder, noch fügte die verstörende Mama-Stimme etwas hinzu.
“Ist irgendwas?” fragte er.
Aus dem dunklen Flur drang ein Kichern. Lennart fühlte Eis an seinem Rückgrat.
“Mama?” wiederholte er. Die Tür schwang auf, sachte angestoßen.
“Du bist ja pervers”, sagte das blonde Mädchen auf der Schwelle, die Arme unter den Brüsten verschränkt.
Lennart stieß einen erstickten Laut aus und schlug sich in seiner Hast, auf die Füße zu kommen, den Kopf an der Schreibtischplatte an. Hefte und Stifteschuber fielen zu Boden, gefolgt von der Lampe, die mit mattem Klicken auf dem Einschaltknopf landete. Ohne ihren Schirm warf die Glühbirne ein nacktes, bleiches Licht gegen die Decke.
Lennart riß die Hände vor die Augen, um das helle Haar nicht sehen zu müssen, die weiße Bluse, die kniehoch geschnürten weißen Stiefel über der hautengen Jeans.
Von der Schwelle her kam das Rascheln von Stoff. “Hast du dir wehgetan? Soll ich mal pusten?”
Lennart konnte hören, wie sie näherkam. Er ließ die Arme sinken.
Sie war immer noch blond, aber das Haar hing nun unordentlich auf ihre Schultern, so verdreckt wie ihre Kleidung. Ihr Gesicht kam ihm verformt vor. Aber das Schlimmste waren ihre Füße, nackte, blasse, schmale Füße, so sauber, als wäre sie gerade aus der Wanne gestiegen.
“Du”, sagte sie, “ich glaub, das gehört mir.”
Sie bückte sich nach dem Handy, keine zwanzig Zentimeter vor seinen eigenen kalten Zehen, und das Haar an ihrem Hinterkopf glitt zur Seite, daß die schwarzdunkle Kruste einer tiefen Wunde hervortrat. “Mann, wenn du wüßtest, wo ich schon überall danach gesucht habe.”
Lennart schluckte zittrig gegen die Galle in seinem Rachen an. “Wichtige Verabredung?”
Der eine Mundwinkel war blutunterlaufen, aber er hob sich trotzdem, als sie lächelte. “Superwichtig. Und natürlich supergeheim.”
“Wen triffst du denn?” fragte Lennart.
Das Mädchen drehte ihr Handy zwischen den Fingern. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Lennart auch nicht zu deuten vermocht hätte, wenn es intakt gewesen wäre.
“Wieso willst’n du das wissen?” fragte sie zurück, aber es klang nicht aggressiv.
Lennart hob die Schultern. “Nur so. Falls was ist.” Er rieb die schmerzende Stelle an seinem Hinterkopf. “Damit man weiß, wo du bist.”
Das Mädchen lachte und schob das Handy in die Hintertasche ihrer Jeans; ihr Ellenbogen stach in einem Winkel ab, bei dem bereits das Hinsehen wehtat. “Im Einkaufscenter, wo denn sonst? Chris kann ja kaum von was anderem reden. Sein großes Projekt.” Sie verdrehte grotesk die Augen und sperrte die Mundwinkel zu einem Grinsen auseinander, das ihre Zunge sehen ließ und die Lücke zwischen den Schneidezähnen. Dann sah sie hinter sich.
“Ach Mensch, jetzt hab ich meine Tasche verloren. Scheißdreck.”
“Vielleicht hat Chris sie noch”, sagte Lennart mit einer Zunge, die sich anfühlte wie Sandpapier, aber hoffentlich trotzdem noch rosa war. Anders als ihre.
Das tote Mädchen musterte ihn nachdenklich. “Ja. Kann sein. In letzter Zeit bin ich so... vergeßlich.” Ein Funkeln trat in ihre Augen, und sie grinste wieder. “Müssen die Hormone sein. Weißt du was, ich geh einfach nochmal bei ihm vorbei.”
“Ja”, sagte Lennart. “Das wird das beste sein.” Von hinten war ihr Haar zu festen dunklen Strähnen verklebt, die starr mit ihren Schritten mitschwangen.
“Shelly?”
In der Tür hielt sie noch einmal inne. “Was ist denn?”
Lennart starrte sie an. “Ist das hier ein Traum?”
Er hatte erwartet, sie lachen zu hören, aber sie stemmte nur den Arm in die Seite und bedachte ihn mit einem halben Lächeln, in dem etwas wie Mitleid lag. Mit zwei Schritten war sie bei der umgekippten Lampe; ein knappes klick, und der Raum lag in dem sprenkligen Halbdunkel, das Lennart vertraut war.
“Was denkst du denn?” fragte sie halblaut zurück.
Das Mädchen, das in den Flur trat, war blond, fast hübsch, in enger Bluse und Jeans und hellen Stiefeln, die fast bis zu den Knien reichten.
“Leb wohl”, sagte er, und ihr Lachen war das letzte, was er hörte, bevor die Nacht in fetten schwarzen Placken über ihm zusammenbrach.

Das Gesicht über ihm kannte er nicht. Kaltes blaues Licht zuckte über die Wände der Grube. “Bin ich runtergefallen?” fragte Lennart.
Sein Kopf fühlte sich matschig an. Er wollte sich aufrichten, doch der Mann hielt ihn zurück. “Immer langsam. Erst bringen wir dich mal nach oben, und dann schauen wir, ob wir dich so nach Hause spazieren lassen können.” Er lachte.
“Das wohl kaum”, meinte die Frau neben ihm gelassen. Sie schüttelte den Kopf. “Was wolltest du denn hier? Eine Baugrube ist doch kein Spielplatz!”
“Das Handy”, hörte Lennart sich sagen. “Hier hat irgendwo ein Handy geklingelt.”
“Dieses?” In der Pranke des Mannes sah das kleine Motorola aus wie ein Spielzeug. “Das ist also gar nicht deins?”
Lennart schüttelte den Kopf, und dann schlief er wieder ein.


Am Morgen wußte ganz Hamburg, daß das gefundene Handy der verschwundenen Michelle P. gehört hatte. Im Adreßspeicher die Handynummer von Christian W., seines Zeichens Leiter des Bauprojekts.
W. stritt ab, das Mädchen gekannt zu haben, aber in den Polstern seines BMW fanden sich Haare von ihr. Es dauerte eine knappe Woche, bis die Fundamente des neuen Marktkaufs Shellys in Plastik gehüllte Überreste hergaben, und die ihres ungeborenen Babys. In den Abdrücken an Shellys Gesicht noch das Muster von Christian W.s Timberland-Sohlen.
Eine Weile spielte Ben sich noch auf mit seiner Lebensretter-Nummer (“deine Mutter is bald ausgerastet, aber ich sag nur, ich weiß schon, wo der Lenny is”), aber man merkte ihm an, daß lieber er derjenige gewesen wäre, der das Toten-Handy gefunden hatte.
“Ey, stell dir mal vor, wir hätten das Teil behalten und den Typ erpreßt! Wir wären reich, Alter!”
In Lennarts Schädel die ersten Takte von Xaviers Heulmucke.
Du, ich glaub, das gehört mir.
“Träum weiter”, sagte Lennart.

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