'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Juni 2006
Die Devotionalienjäger
von Bernhard Röck

Ralph und Ringo kletterten über den hohen Metallzaun, der oben gefährliche Spitzen trug, und sprangen in den vom Vollmond erhellten, verlassenen Park. Es war Nacht. Schloss Montfort ragte düster aus dem Nebel auf. Wenn jetzt noch eine Eule schreit, dachte Ralph, komme ich mir vor wie in einem schlechten Horrorfilm.
Buu-Huu erklang der Ruf eines nächtlichen Jägers.
Ralph grinste.
„Haare wachsen bei Toten weiter. Sagt man jedenfalls. Hab ich gehört. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ist vielleicht ne Legende ... so, wie die Spinne in der Yucca ... Man stelle sich das vor ... Tote haben kein Problem mit Haarausfall.“ Ringo kicherte.
„Halt die Klappe!“ Ralphs Stimme wurde scharf. „Wir sind im Begriff, ein Verbrechen zu begehen ... klar? Störung der Totenruhe ... schwerer Diebstahl.“
Ralph seufzte. „Ich kann so nicht arbeiten“, sagte er. „Amateur!“
Ziel ihres Besuchs war die Gruft, die in einem abgelegenen Teil des weitläufigen Areals lag.
„Bist du sicher, dass es da was zu holen gibt? Ich meine ... etwas Wertvolles?“
Ralph war sauer. Hätte er nur nicht diesen Kerl mitgenommen. Andererseits ... die Auswahl an Bewerbern hatte keine andere Wahl gelassen.
„Und da gibt es wirklich keine Alarmanlage oder so?“
Ralph verdrehte die Augen theatralisch, sagte aber: „Nein ... es gibt keine, versprochen.“
Er erinnerte sich, wie er beim Streichen der Fassade einen Blick ins Innere hatte werfen können: Goldene Kerzenleuchter, ein großes goldenes Kruzifix, auf dem rötliche Edelsteine verführerisch geblinkt hatten ... aber keinerlei Alarmvorrichtung. Volltreffer! Kurz darauf war der Fremde auf ihn zugekommen, hatte ihm einen Batzen Geld versprochen, wenn Ralph ihm etwas aus der Gruft beschaffte – genug, um sich nach Thailand abzusetzen, wie er es schon lange vorhatte. Wie der Fremde auf ihn gekommen war, keine Ahnung. Ringo wusste davon nichts.
„Es läuft wie besprochen: rein, einsacken, raus ... Zack, zack ... wie Profis eben. Du willst doch nicht geschnappt werden?“
Ringo schüttelte stumm den Kopf.
„Na also, geht doch“, sagte Ralph.
Sie schlichen über das Parkgelände, das vom Mond gut ausgeleuchtet wurde. Dennoch schaffte es Ringo, zweimal über Blumenbeete zu stolpern.
Ralph fluchte leise. Vielleicht hätten sie Neumond abwarten sollen ... aber nun waren sie hier.

Endlich kam die Gruft in Sicht, ein kleines Gebäude im klassizistischen Stil mit einem Dach aus verwitterten, roten Ziegeln und einer frisch verputzten, weißen Fassade.
Zwei Säulen umrahmten die schwere Eichentür am Eingang. Eine Treppe mit vier Stufen führte zu der tiefer liegenden Tür hinunter.
Ringo drückte die Klinke, rüttelte. „Abgeschlossen.“
„Du dämlicher Hund ... natürlich ist sie das!“, zischte Ralph. Er zog ein Stemmeisen unter der Jacke hervor, setzte es an und rammte die Spitze des Werkzeugs in den Rahmen. Dann hebelte er das gebogene Eisen zu sich her. Mit einem Knirschen öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Mit dem Fuß stieß Ralph sie weiter auf. Quietschend schwang sie nach innen. Dunkelheit tat sich vor ihnen auf.
„Die Lampe!“
Ringo zog mit nervösen Bewegungen die Taschenlampe aus seiner Hose, ließ sie fallen, hob sie wieder auf und schaltete sie endlich ein.
Im Lichtschein erkannte Ralph das Innere der Gruft. Es schien unverändert. Der Schein der Lampe zuckte wild hin und her.
„Halt sie ruhig!“
Tatsächlich wurde der Lichtkegel ein wenig ruhiger.
Rechts stand der steinerne Altar, auf dem die Kerzenständer und das Kruzifix abgestellt waren, links an der Wand befanden sich die aufgereihten Sarkophage der toten Montforts. Es waren neun steinerne Grabstätten, die mit kunstvollen Steinmetzarbeiten verziert waren.
„Den Sack“, sagte er.
Ringo zog das mitgebrachte Behältnis hervor.
„Na los, pack das Zeug ein!“
Sein Komplize trat an den Altar und wuchtete die Gegenstände in den Sack – zuerst das schwere Kruzifix, dann die vier Kerzenleuchter.
„Leise ... wenn es machbar ist“, flüsterte Ralph.
Ringo strengte sich an, denn es war kaum noch etwas zu hören. Als alles verstaut war, stolperte er über seine eigenen Füße. Mit einem Klirren fiel die Beute zu Boden.
„Idiot ... selten dämlicher ... heb’s auf!“
Ringo hob den Sack auf.
„Die Lampe“, sagte Ralph.
Der Andere gab sie ihm.
„Geh du schon vor ... du hast schließlich schwer zu tragen ... ich habe hier noch ... etwas zu erledigen.“
„Was hast du vor?“ Ringo wirkte mit einem Mal misstrauisch.
„Das erklär ich dir nachher ... dazu brauche ich dich nicht. OK? Wir treffen uns am Auto. Kannst mich ja dann durchsuchen, wenn du mir nicht traust.“
Sein Kumpan zögerte, nickte dann aber und stieg keuchend die Treppe hoch.
Das Zeug war höllisch schwer. Es würde einen schönen Extrabonus abwerfen. Ralphs Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, denn so einfach hatte er es sich nicht vorgestellt, den Dämlack für die entscheidende Sache loszuwerden, weswegen er eigentlich hier war. Alles lief wie geschmiert.
Als sein Gefährte verschwunden war, trat Ralph an die Sarkophage. Er schritt die Reihe entlang, zählte sie ab. Nach den Anweisungen seines Auftraggebers war der Fünfte der Gesuchte. In diesem lag Marie de Montfort.
Die schöne Marie. Gestorben achtzehnhundertirgendwas. Angeblich an gebrochenem Herzen, weil irgendein Prinz sie zurückgewiesen hatte. Dabei hätte sie jeden Anderen haben können, schön wie sie war. So die Legende, die ihm sein Auftraggeber erzählt hatte.
Ralph interessierte nur das Geld, das er bekommen sollte. Der Rest war ihm egal. Die schöne Marie, gebrochenes Herz, Prinzen ... so ein Blödsinn. Nun, etwas seltsam war ihm der Typ schon erschienen ... morbid, schräg. Ein Fan und Verehrer einer Frau, die schon seit hundert Jahren tot war. Ein Fetischist vielleicht. Jedenfalls hatte er anstandslos eine hübsche Anzahlung auf den Tisch geblättert. Er verehre Marie de Montfort schon seit er denken könne und deshalb müsse er etwas Persönliches von ihr besitzen, selbst auf diese illegale Weise.
Ralph hebelte sein Stemmeisen unter die schwere Grabplatte, die den Sarkophag abdeckte. Sie war verflucht schwer. Erst als er sein ganzes Gewicht auf das Werkzeug wuchtete, gelang es ihm, sie ein wenig zur Seite zu schieben. Ein widerlicher Geruch strömte aus dem geöffneten Grab. Ralph setzte sich eine mitgebrachte Wäscheklammer auf die Nase. Stück für Stück schob er die Steinplatte zur Seite, bis er sie um neunzig Grad gedreht hatte. Glücklicherweise lag sie nun auf dem Nachbargrab auf, sonst wäre sie mit lautem Gepolter zu Boden gestürzt. Er zitterte vor Aufregung, denn entgegen seinem coolen Gehabe war dies seine erste Grabschändung. Er leuchtete in die Ruhestätte der schönen Marie. Ekelerfüllt musste er sich zwingen, hineinzusehen. Die Leiche einer Frau lag darin. Sie trug ein Leichenhemd, das wohl einst weiß gewesen war, nun aber vergilbt und von Schimmel überzogen war. Auf der Brust las er ein Monogramm, das aufwendig in rotem Garn aufgestickt war: M.d.M. Der Körper war verschrumpelt und vertrocknet, aber nicht wirklich verwest. Die Haut hatte einen grau-grünen Ton angenommen. Die Hände lagen christlich gefaltet auf ihrer Brust. Alles war so, wie es Ralph erwartet hatte.
Bis auf ihr Haar ... das war seltsam. Es wirkte noch immer lebendig, wie frisch gewaschen, und schimmerte in einem intensiven Feuerrot. Dichte Büschel davon lagen an den Seiten des Körpers, bedeckten Arme und Beine und reichten bis zum Ende des Sargs. Ihm schien sogar, es umhüllte die schöne Marie wie ein Bett.
Wuchsen Haare bei Toten tatsächlich weiter? War das möglich?
Er zog eine Schere aus seiner Tasche und beugte sich damit über die Leiche. Er führte sie gerade an eine Haarsträhne, um sie für den geheimnisvollen Auftraggeber abzuschneiden, als plötzlich unter ihm etwas knackte. Etwas Kaltes berührte seinen Arm. Er hörte ein Rascheln wie von altem Pergament. Uralter Staub wirbelte auf und schwebte in den Lichtkegel seiner Lampe, wo die Partikel wild durcheinander wirbelten.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten, eins nach dem andern. Beinahe hätte sich seine Blase entleert. Wie in Zeitlupe schwenkte er die Taschenlampe auf das Gesicht der Toten. Blutunterlaufene Augen starrten ihn an. Der Mund öffnete sich und zwischen gelben Zähnen zuckte eine schwarze Zunge hervor. Fauliger Atem strömte ihm entgegen. Eine tote Klaue umschloss Ralphs Arm mit eisernem Griff, krallenartige Fingernägel bohrten sich in seine Haut.
Er wollte schreien, doch seine Stimmbänder waren wie ausgeleierte Gummibänder und versagten den Dienst.
Langsam richtete sie sich auf. Ein zischender Laut drang aus ihrem Mund, während sie ihn mit toten Augen fixierte.
Plötzlich war ihm alles egal: sein Auftrag, das Geld, selbst Thailand. Er wollte nur heraus aus dieser Gruft, fort von dieser Schreckgestalt. Er wich zurück, zerrte an seinem Arm, doch sie ließ nicht los.
Ein ersticktes Stöhnen entrang sich seiner Kehle.
„Schurke! ... Alles kannst du nehmen ... meinen Besitz, meine Unschuld ... aber mein Haar, das nimmst du mir nicht!“ Die Stimme der schönen Marie klang schneidend scharf; wäre sie eine Klinge gewesen, hätte sie ihn in zwei Teile zerschnitten.
Ralph ließ die Schere fallen, die mit einem leisen, metallischen Klimpern auf den Steinboden fiel.
Da löste sich ihr Griff um seinen Arm. Er taumelte zurück. An der Treppe wandte er sich um, sprang mit einem Satz hinauf und rannte panisch durch den Park davon. Er sah sich nicht um, bis er atemlos den Zaun erreicht hatte, kletterte hinüber, zerriss sich dabei seine Kleider, zog sich einen tiefen Kratzer am Bein zu und sprang auf der äußeren Seite herunter, wobei er mit dem Fuß umknickte. Humpelnd eilte er weiter zum Auto, das sie in einer dunklen Ecke des Besucherparkplatzes abgestellt hatten. Ringo saß auf dem Fahrersitz und sah ihn erstaunt an.
„Was ... was ist passiert?“
„Fahr! Fahr endlich!“, kreischte Ralph.

Als sie ein gutes Stück von Schloss entfernt waren, wurde er ruhiger.
„Du hattest recht“, keuchte er.
„Womit?“
„Sie wachsen weiter ... sie wachsen wirklich weiter.“

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 08.27 Uhr
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