Katja stand vor dem Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch die langen, weizenblonden Haare. Sie war sehr stolz auf ihre Mähne, ihrer Ansicht nach war es das Einzige, das sie von den anderen abhob. Trotz ihrer zwölf Jahre unterschied ihre Figur sich noch nicht von der eines Jungen und fast als Letzte in ihrer Klasse hatte sie noch nie ihre rote Tante zu Besuch gehabt. Sogar die dicke Tanja, die immer nach Schweiß roch, verschwand einmal im Monat mit dem Tampon in der verschwitzten Faust und wichtiger Miene in der Mädchentoilette. Ein paar Mädchen in der Klasse waren auch blond, aber Keine hatte so lange und so glänzende Haare wie Katja. Sie lächelte, als sie die Tür hinter sich schloss, um am ersten Tag des neuen Schuljahres nicht zu spät zu kommen.
Ihre Sozialkundelehrerin Frau Kleine, die auch gleichzeitig ihre Klassenlehrerin war, tat sehr geheimnisvoll, als sie von ihnen als der ausgewählten Klasse sprach. Soweit Katja es verstand, sollte in den nächsten Wochen mit ihnen ein Experiment durchgeführt werden. Die Frau des Direktors war eine Soziologin, eine Forscherin. Sie hatte ein Forschungsprojekt beantragt und genehmigt bekommen. Die Forscherin hielt eine kleine Rede, die wohl keiner in der Klasse verstand, außer vielleicht Stefan, der Streber. Sie sprach über „Ausgrenzung“, „Gruppenzwang“ und „Massenphänomene“. Auch sie betonte, wie stolz die Klasse darauf sein könne, dass man gerade sie ausgewählt hatte. Sie erklärte den Ablauf des Experiments, das einen Monat dauern sollte. Trotzdem erklärte Frau Kleine ihnen anschließend noch einmal, was jetzt geschehen sollte.
Für die erste Woche waren die blonden Kinder ausgewählt. Von ihnen wurde ab sofort behauptet, sie seien dumm, schmutzig und wertlos. Den anderen wurde nicht direkt verboten mit ihnen zu sprechen, aber es wurde eindringlich darauf hingewiesen, dass sie einen schlechten Einfluss ausüben würden. Alle Lehrer wären über das Experiment informiert und um ihre Mitarbeit gebeten worden. Weil „blond“ ein recht dehnbarer Begriff war, bekamen die Dummen diese Woche einen weißen Kragen aus Papier, den sie jeden Tag über ihrer Kleidung tragen mussten. Außer Katja gab es noch fünf weitere Betroffene, leider war keine darunter, mit der sie befreundet war. Ihre beste Freundin Claudia hatte dunkelbraune Haare, aber Stefan wurde ebenfalls als „blond“ eingestuft, obwohl seine Haarfarbe schon deutlich ins rote tendierte. Die weiße Pappe fühlte sich steif und ungemütlich an, scheuerte am Hals und man musste den Kopf gerade halten.
In der ersten großen Pause stand Katja noch mit Claudia und ihren anderen kragenlosen Freundinnen zusammen. Sie alle fanden große Worte von weltverändernder Wichtigkeit, wie sie wohl nur Zwölfjährige ernsthaft von sich geben konnten. Claudia sprach davon, dass sie sich auf keinen Fall von so einem blöden Kragen die Freundin nehmen lasse. Sie lachten gemeinsam über die Dummheit der Erwachsenen, die glaubten, sie wären noch kleine, leicht zu manipulierende Kinder. In der nächsten Stunde hatten sie Mathematik und Stefan musste an die Tafel. Herr Schneider gab ihm eine besonders knifflige Aufgabe und Stefan konnte sie nicht lösen. Katja auch nicht, aber bei ihr war das nichts Besonderes, es war eigentlich immer so. Stefan stand mit knallrotem Gesicht an der Tafel während Herr Schneider bemerkte: „Es scheint, als sei dieser Kragen dir nicht ganz zu Unrecht verliehen worden, mein lieber Stefan.“ Alle lachten, auch die Kragenkinder, weil es sehr selten war, dass der Klassenprimus etwas nicht lösen konnte und weil er ihnen sonst immer mit seiner Besserwisserei auf die Nerven ging. So fiel es niemandem auf, dass Herr Schneider die Lösung der Aufgabe gar nicht erklärte.
Am nächsten Tag stand in der großen Pause nur noch Claudia bei Katja und auch sie war nur bereit bei ihr zu bleiben, wenn sie in die Ecke hinter der Turnhalle gingen. Dort rauchten die älteren Schüler, weil sie vom Hof aus nicht gesehen werden konnten. In der Kunststunde erklärte Frau Schuhmann den Unterschied zwischen reinen und unreinen Farben. Als Beispiel für eine schmutzige Farbe wählte sie Katjas grünen Pullover. Danach wich Claudia ihr aus. Katja sah sie in dieser Woche oft mit der kragenlosen dicken Tanja zusammenstehen.
Katja verstand das nicht. Es war doch nur ein Experiment. Sie war nicht schmutzig und Stefan war gewiss nicht dumm. Die anderen wussten das seit Jahren, warum wurde sie plötzlich gemieden? Auch nachmittags rief niemand bei ihr an, um zu fragen, ob sie mit ins Schwimmbad oder ein Eis essen ginge. Jeden folgenden Morgen dieser Woche stand sie stundenlang vor dem Spiegel, um auch ja kein Fleckchen zu übersehen. Aber es war wie verhext. Spätestens in der großen Pause hatte sie einen Tintenfleck an der Hand oder einen unschön abgerissenen Nagel. Donnerstag bat sie ihre Mutter sich die Haare färben zu dürfen und Freitag glaubte sie selbst daran, schlecht und dumm zu sein.
Das Wochenende verbrachte sie allein in ihrem Zimmer. Am Montagmorgen hatte sie Bauchschmerzen. Sie ging trotzdem zur Schule, weil sie nicht feige sein wollte und irgendwann würde es ja auch vorbei sein. Das Experiment sollte nicht länger als einen Monat dauern.
In der ersten Stunde wurden die Kragen der Blonden im Hof verbrannt. Damit waren sie erlöst von ihrem Makel und die neuen Symbole wurden an die Dunkelbraunen ausgeteilt. Katja genoss die Erleichterung, sie drehte heimlich eine Haarlocke um ihren Zeigefinder und bewunderte die den hellen Schimmer. Als Claudia in der großen Pause mit Ihr reden wollte, ging sie einfach weg und ließ sie stehen. Die dicke Tanja stank zwar und war unsportlich, aber sie war wenigstens nicht dumm und schmutzig. Katja wusste schließlich, dass die Kragen nicht zu Unrecht getragen wurden. Sie glaubte jetzt daran, dass sie die Menschen verändern konnten, sie hatte es selbst erlebt.
Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 23.22 Uhr Dieser Text enthält 5920 Zeichen.