Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Noch eine Stunde.
Mit ungeschickten Fingern frisiere ich meine Haare. Stecke sie nach oben. Das gefällt mir. Wie bei den Stars, als sie bei der letzten Oskarverleihung hoheitsvoll über den roten Teppich schritten. Selbst die burschikose Sandra Bullock wirkte durch die Hochsteckfrisur wie eine Diva. Es sieht edel aus und gleichzeitig verführerisch. Ich setze meine Brille auf und begutachte das Ergebnis. Meine Haare glänzen wie die Außenhaut einer frisch aufgesprungenen Kastanie, das verdanke ich der neuen Spülung. Ich habe mehr Haarnadeln verwenden müssen als ich dachte, um die dünnen Strähnen in Form zu bringen. Mit der Hand streiche ich die Seiten glatt. Prompt löst sich eine Locke, fällt kraftlos vor das linke Ohr und kitzelt meine Wange. Ich schüttele leicht den Kopf. Es ziept, als sich die Metallstäbchen an die einzelnen Haare klammern. Ich nehme die Brille ab, um meine Augen zu schminken. Die Bügel ziehen zwei weitere Strähnen vom Kopf. Jetzt sehe ich fast aus wie vorher. Ich fluche leise. Es liegt nur an der verdammten Mütze, dass meine Frisur nicht mehr hält!
Noch 50 Minuten.
Ich öffne die beiden äußeren Türen des Spiegelschrankes, kann nun mein Profil sehen und ein ganz klein wenig den Hinterkopf. Von hinten gefalle ich mir ohnehin am besten, da wirken die Haare noch füllig. Ich massiere meinen Nacken, der wie immer verspannt ist. Das kommt vom ständigen Schultern hochziehen, wenn ich das Klemmbrett vor die Augen halte, um die Nummern aufzuschreiben. Ich knete die harten Muskeln neben den hervortretenden Wirbeln und spüre, wie sich der dünne Zopf löst und über den Handrücken fällt. Prima! Unwirsch zupfe ich die Nadeln heraus und werfe sie ins Waschbecken. Sie klingeln leise, als sie gegen das Porzellan stoßen. An jeder klemmen wenigstens zwei vormals intakte Haare. Ich rubbele kopfüber mit den Fingern meine nicht mehr vorhandene Frisur durch und schaue wieder in den Spiegel. Wenig Haare, viel Luft, noch mehr Spray gaukeln schließlich Fülle vor. Ich denke, es hält eine Weile.
Noch 40 Minuten.
Ob ich mir die Nägel lackiere? Oder sind sie dafür zu kurz? Bei der Arbeit sind lange Nägel eher hinderlich. Wir tragen Handschuhe, die wir beim Schreiben ausziehen. Der Winter dauert dieses Jahr viel zu lange. Während der letzten stürmischen Wochen war ich nicht die einzige, die sich eine wärmende Kapuze wünschte. Aber nein, wir müssen zu jeder Jahreszeit diese dämlichen blauen Käppis tragen, passend zur übrigen Kleiderordnung. Farbloser Nagellack wirkt nicht aufdringlich, denke ich beim Auftragen und blase auf meine Finger, um ihn schneller zum Trocknen zu bringen. Ich finde noch eine weiße Steckblüte im Spiegelschrank, die ich links neben dem Scheitel befestige.
Noch 30 Minuten.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich wurde noch nie von einem Fremden zum Essen eingeladen. Außer zu meinen wenigen männlichen Kollegen, die mir morgens vor der Besprechung manchmal einen Kaffee aus dem Automaten bringen, pflege ich sonst kaum Kontakte zum anderen Geschlecht.
Wegen der Witterung sind jetzt viele krank. Das bedeutet doppelte Arbeit für die übrigen. Wir müssen ja trotzdem unsere Quote schaffen. Bislang hatte ich mein Wohnumfeld zur persönlichen Tabuzone erklärt. Ich wollte schließlich von meinen Nachbarn nicht schief angesehen werden. Wegen dem erhöhten Arbeitsaufkommen geht das nun nicht mehr. Inzwischen bin ich schiefe Blicke gewöhnt. Meist verärgert oder sogar hasserfüllt, wenn sie mich in der Nähe ihrer Autos bemerken. Die Falten neben meinem Mund vertiefen sich, als ich an die unzähligen Beschimpfungen denke, die ich schon über mich ergehen lassen musste. Werden sie gar zu unflätig, kontere ich mit einer Anzeige wegen Beleidigung. Das kommt dann noch teurer. Ich lächele grimmig in den Spiegel. Was kann ich denn dafür, wenn es zu wenige Parkplätze gibt! Vorschriften sind dazu gemacht, damit sich jeder daran hält. Wer sich ein Fahrzeug leisten kann, muss sich auch mit den Strafzetteln abfinden, wenn er falsch parkt. Und ich habe schließlich eine Quote zu erfüllen. Da ist es hilfreich, wenn im Winter die Autos stehen wo sie stehen, manchmal tagelang. Die strafe ich zweimal ab, morgens auf dem Hinweg und zum Feierabend noch einmal. Wie die Rostlaube, die sich seit zwei Tagen direkt vor dem Haus ohne Sondergenehmigung auf einem Anwohnerparkplatz breit macht. Ich schaue aus dem Fenster. Ja, die Karre steht noch immer dort. Und das Plastiktütchen mit dem aufgedruckten Halteverbotszeichen von heute Nachmittag klemmt auch nicht mehr unter dem Scheibenwischer. Na warte!
Noch 20 Minuten.
Ich hole den Block aus meiner Umhängetasche und kritzele hastig die Buchstaben- und Zahlenfolge, die ich mittlerweile auswendig weiß, auf das oberste Blatt. Noch die passende Kennziffer, meine Unterschrift in die untere Zeile und den Betrag in die obere rechte Ecke: 25,00 Euro im Wiederholungsfall. Insgesamt also 105,00 Euro. Eine gute Ausbeute für ein einziges Auto in zwei Tagen, denke ich zufrieden, stopfe den Strafzettel in die Plastikfolie, ziehe meinen Mantel an, streife die Stiefel über und eile durch das Treppenhaus nach unten. Ich nehme gleich mehrere Stufen auf einmal. An der Haustür vergewissere ich mich, dass niemand auf der Straße zu sehen ist, mache einen Satz über den zusammen geschippten Schnee und stecke dem Parksünder die Tüte unter das Wischerblatt. Auch auf dem Rückweg zu meiner Wohnung begegnet mir keine Menschenseele. Kichernd und atemlos lehne ich mich von innen an die Tür.
Noch 10 Minuten.
Ein Blick in den Spiegel zeigt erhitzte Wangen und meine Haare sind zwar frisurlos, aber lustig verstrubbelt. Oh ja, ich sehe richtig verwegen aus, bereit für das erste Date mit meinem neuen Nachbarn. Es klingelt an der Tür. Fünf Minuten zu früh. Brille oder nicht? Keine Brille.
„Ich komme“, flöte ich und öffne mit einem strahlenden Lächeln die Tür.
„Hallo“, knurrt meine Verabredung.
Ich blinzele. Was hat er da in der Hand?
„Sind die alle von Ihnen“, fragt er und wedelt mit einem Fünferpack Strafzettel vor meiner Nase herum.
Schlagartig weicht mir die Farbe aus dem Gesicht, um in einer heißen Welle über den Hals zurück zu kriechen. Er hört auf zu wedeln, zerreißt das Papier in kleine Stücke und wirft es mir vor die Füße. Ein paar Schnipsel bleiben an den noch feuchten Stiefeln kleben.
„Unser Essen liegt gerade auf Ihrem Abtreter“, faucht er wütend, macht auf dem Absatz kehrt und fegt die Treppe hinunter.
„Einen schönen Abend noch“, brüllt er von unten, dass es durchs ganze Treppenhaus hallt. Dann kracht die Tür ins Schloss und ich höre das wintermüde Stottern eines Anlassers.
Seufzend gehe ich ins Bad und ziehe mir die Blüte aus dem Haar.
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 08.27 Uhr Dieser Text enthält 6750 Zeichen.