Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
„Ich bin verliebt in deine langen Haare: so dicht, so seidig, tausend Lichter schimmern darin.“
Immer und immer wieder hatte er das gesagt und mir damit geschmeichelt.
Wenn ich daran dachte, stieß es mir sauer auf. Das gallbittere Zeug schluckte ich hinunter, obwohl Mona mir geraten hatte, alles auszuspucken. Mona war nicht nur meine Ärztin, sondern auch meine beste Freundin.
„Raus mit allem, was nicht hilft. Raus mit allem, was weh tut!“
Nun, sie hatte gut reden! Meine hübsche, kluge Mona. Sie erfreute sich bester Gesundheit. Sie hatte Haare auf dem Kopf.
Ich blinzelte durch einen Tränenschleier auf die Straße. Unten schoben sich die Autos voran, hupten ungeduldig, Menschen hasteten bei Rot über die Straße.
Rot waren auch meine Haare gewesen. Kastanienrot hatten sie mein Gesicht umrahmt, hingen bis weit über die Schultern.
„Elsas Markenzeichen sind ihre Haare“, hörte ich Bekannte oft sagen.
Was wussten sie schon, wie oft ich in meiner Kindergartenzeit für die roten Haare gehänselt worden bin, wie oft ich ausgegrenzt wurde und wie viel Zeit ich später für Waschen, Trocknen und Stylen aufwenden musste!
Weg war die Pracht, ausgefallen nach der Chemo. Bei jedem Griff ins Haar hielt ich Büschel davon in meiner Hand.
Über meinem Bett hing ein großes Foto von uns beiden. Darauf hatte er geschrieben „Ich bin verliebt in deine Haare: so lang, so dicht, so seidig, tausend Lichter schimmern darin. Ich liebe dich in alle Ewigkeit!“
Ich riss das Foto herunter, warf es in den Mülleimer. Ich nahm ein schönes, buntes Tuch und band es im Nacken zusammen.
Dann machte ich einen langen Spaziergang.
Wieder daheim, warf ich mich aufs Bett und heulte. Weinkrämpfe schüttelten mich, doch ich spürte keine einzige Träne. Ich weinte nach innen. Der Krebs hat meine Haare gefressen. Nun frisst er mich auf.
Das Telefon läutete, ich hob nicht ab. Ein Klopfen an der Tür, jemand rief. Ich machte nicht auf. Ich wollte niemanden sehen.
Am nächsten Morgen lag ich noch immer angezogen auf dem Bett. Ich hörte ein Schaben und Kratzen an der Tür, ein „Na, endlich!“, und dann stürmte Mona herein. Sie nahm mich in die Arme, strich mir behutsam über den Kopf. Schnell richtete sie das verrutschte Tuch, ehe der Hausmeister mich sehen konnte, und versicherte ihm, dass alles in bester Ordnung sei. Nur zögernd entfernte er sich.
„Ich möchte keine Scherereien in meinem Haus“, sagte er beim Hinausgehen und warf mir einen misstrauischen Blick zu.
Ich zeigte Mona den Brief. Sie las und zerriss ihn.
„Pack ein paar Sachen zusammen. Du verreist.“
Sie telefonierte.
„Mein Bruder hat in seiner Pension noch ein Zimmer frei. Dort bist du gut aufgehoben. An den Wochenenden komme ich nach.“
Sie ließ keinen Einwand gelten, schob mich aus der Wohnung, setzte mich in den Zug. „Am Bahnhof in Kufstein wirst du von meinem Bruder abgeholt.“
Es ging mir alles zu schnell, doch ich war unfähig, mich zu widersetzen.
Zwei Wochen Urlaub in dem schönen Kurort taten mir gut. Ich ging jeden Tag spazieren. Die Berge, die gute Luft, die freundlichen Menschen – alles trug bei zu meiner Genesung. Ich fühlte mich befreit, auch wenn es noch schmerzte und Monas Besuche wirkten wie warmer Sommerregen auf vertrocknete Erde.
Heute Morgen stand ich vor dem Spiegel, ohne Kopftuch. Zaghaft fielen ein paar Sonnenstrahlen durchs Fenster. Mein Herz begann heftig zu schlagen. Auf meinem Kopf sprießten Haare, raspelkurz und rötlich. Ich zog an ihnen. „Au!“ Ich lächelte, wählte Monas Nummer und flüsterte: „Ich liebe dich, in alle Ewigkeit!“
Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 23.27 Uhr Dieser Text enthält 4737 Zeichen.