Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juli 2006
Du entkommst mir nicht!
von Sabine Poethke

„Und hier noch einmal in geordneter Reihenfolge: acht, neun, dreizehn, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, neunundvierzig. Zusatzzahl: drei. Superzahl: eins. Die Angaben sind wie immer ohne Gewähr. Vielleicht gibt es an diesem Wochenende einen Gewinner des Jackpots. Sie freuen sich dann über fast fünfzehn Millionen Euro! Damit verabschiede ich mich und gebe zurück …“
Ich sah Frederike an. Sie starrte ungläubig auf das Stück Papier. Dann schrie sie los: „Jaaaaa, jaja, ja! Sechs richtige! Superzahl eins! Peter, wir, wir haben den Jackpot geknackt!“
„Du! Wir sind nicht verheiratet! Es ist dein Lottoschein.“
„Das bisschen Geld wird mich nicht verändern!“ Sie lachte.
Ich konnte mich nicht wehren, stimmte mit ein. Und wir lachten und lachten. Ich nahm Rike in den Arm und wirbelte sie im Kreis herum.
‚Fünfzehn Millionen!’ Trotzdem, ganz wohl war mir bei dem Gedanken nicht.
„Peter, ich rufe die Kinder an. Von jetzt an haben wir ausgesorgt. Wahnsinn!“ Sie wählte mit zittrigen Fingern die Nummer ihres Sohnes.
Ich fand Tom ganz in Ordnung. Die Zicke, seine Ehefrau, mochte ich nicht sonderlich. Ich konnte nicht genau sagen, warum. Miriam hatte so etwas an sich … Etwas Komisches eben.
„Tom, schnapp dir deine Frau und kommt her! Sofort! Kurz vorm Kino? Vergesst es, DAS HIER ist tausendmal wichtiger! Klar, bis gleich! Nein, verrat ich nicht!“ Frederike legte auf. Sie strahlte über das ganze Gesicht.
„Was hältst du von einer Flasche Port? Soll ich dazu etwas Leckeres kommen lassen? Chinesisch?“ Schon nahm sie wieder den Hörer auf.
In mir begann das Hochgefühl die Bedenken vollkommen zu übertönen.

Es klingelte. Der Lieferant mit der Knusprigen Ente und die Kinder trafen zeitgleich ein.
Bis wir um den Tisch saßen, sagte Frederike kein Wort. Sie grinste nur bis über beide Ohren. Auch ich hatte auf Toms Fragen nicht geantwortet. Auf Miriams schon gar nicht, nur gelächelt.
„Wir haben im Lotto gewonnen!“
Tom sah seine Mutter groß an. „Echt? Glückwunsch! Vierer, Fünfer oder Sechser?“ Er ahnte nicht, um wie viel es sich handelte.
„Fünfzehn Millionen. Pi mal Daumen. Hoffentlich müssen wir mit niemandem teilen!“
Der Rest des Abends verlief im Hoch der Gefühle. Die Stimmung wurde ausgelassener und wir köpften noch einige Flaschen …
Je später es wurde, desto höher wuchsen die Träume. Sie waren schon echt groß, bevor die Kinder nach Hause gingen. Die Uhr zeigte auf kurz vor drei.
Unser Promillegehalt war nicht der Niedrigste. Da wanderten die Gedanken auf eigene Reisen. Hoffentlich spielte Frederike nicht den Rest unseres Lebens die Gönnerin. Ob ich wohl einen eigenen Anteil bekommen würde? Oder war ich jetzt ihr Gigolo?
„Peter, alles klar?“
Ich schob die Gedanken beiseite. „Komm, genug gefeiert. Lass uns schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Liegen Glück und Leid dicht beieinander?“ Rike kuschelte sich an mich.
„Was meinst du? Willst du dein Geld spenden?“ Ich setzte mich auf und sah sie an. Sie würde doch jetzt nicht überschnappen?
„Wenn der Lottogewinn ein großes Glück ist, wird uns dann in gleichem Maße Unglück bevor stehen?“
‚Uns nicht, dir. Es ist dein Lottogewinn!’, schoss es mir in den Sinn.
„Rike, was du für Gedanken im Kopf hast. Schlaf jetzt lieber.“ Ich küsste ihre Stirn, war zu müde zum Philosophieren.
Heftiges Keuchen weckte mich. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was los war. Frederike lag zusammengekrümmt neben mir und krächzte „Asthmaspray“.
„Rike, wo ist es, ich kann es nicht finden!“ In mir wuchs die Panik.
Ich sah in ihren hervorquellenden Augen die nackte Angst. Ihr Gesicht nahm eine violette Farbe an.
„Badschrank!“, presste sie hervor.
Ich rannte, suchte fieberhaft. Im Spiegelschrank, im Medikamentenschrank. Nichts!
„Ich kann es nicht finden!“, schrie ich.
Ihr Blick wirkte glasig. Sie röchelte „Notarzt“, dann fiel sie in Ohnmacht.

„Todeszeitpunkt: 4.50 Uhr. Reanimation erfolglos. Es tut mir leid.“ Der Arzt sah mich an.
Ich saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, stumm, in meinem Hirn nur Platz für eine Frage: ‚Liegen Glück und Leid dicht beieinander?’
„Sagen Sie, sind solche Anfälle häufiger vorgekommen? Hatten Sie kein Asthmaspray zur Hand? Haben Sie versucht zu beatmen?“ Der Doktor sah kurz von seinen Unterlagen auf.
Ich schüttelte den Kopf.
„Hätte vermutlich auch nicht geholfen. Ich stelle den Totenschein aus. Asthmaanfall mit plötzlichem Herzstillstand.“
Später tauchte die Polizei auf, stellte Fragen. „Bei überraschenden Todesfällen nicht zu alter Menschen handhaben wir es so …“, versuchte mich einer zu beruhigen.
Tom und Miriam standen mir zur Seite. Ich hatte sie angerufen, nachdem der Arzt und die Sanitäter gegangen waren. Sie kamen sofort. Tom wirkte fassungslos und um Jahre gealtert.
Er rauchte in der Küche eine Zigarette nach der anderen. Miriam saß ihm gegenüber. Als ich herein kam, verstummte sie. Ich hatte genau gehört, was sie zu Tom gesagt hatte.
Was wird nun aus dem Lottogewinn. Ist jetzt alles seins? Oder gehört es dir, Tom!?
Falsche Schlange, wie konnte sie jetzt ans Geld denken.
Nachdem der Leichentransport weg war, schickte ich sie nach Hause. Ich brauchte Ruhe.
Ich stand vor dem leeren Bett und nahm den Lottoschein aus der Schublade.
‚Das Leben ist ungerecht!’, dachte ich gerade, da sah ich es: Das Asthmaspray! Es lag unter dem Bett. Der weiße Aufsatz lachte mich regelrecht aus.
‚Wieso habe ich es heute Nacht nicht gesehen. Vielleicht würde Rike noch leben. Hatte ich es etwa nicht sehen wollen?!’ Entsetzen packte mich.
Ich schluchzte laut, Tränen liefen über mein Gesicht. Ich nahm dieses verfluchte Spray und warf es mit Wucht in den Mülleimer.

In den Tagen bis zur Beerdigung zerfraßen mich Selbstzweifel. Den Lottoschein hatte ich bisher nicht eingelöst. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Geld haben wollte.
Miriam fragte mich danach. „Du willst den Gewinn doch nicht verfallen lassen! Fünfzehn Millionen!“ Wir erfuhren aus den Medien, dass es nur einen Jackpottgewinner gab.
Ich versteckte den Schein gut.
Dann geschahen seltsame Dinge. Jeden Tag fand ich Asthmaspray in der Wohnung. Wieder und wieder warf ich es in den Müll.
Nachts, genau 4.50 Uhr, klingelte das Telefon. Erst Stille am anderen Ende, dann hörte ich jemanden atmen. Schneller und schneller! Röcheln und … Aufgelegt.
Ich versuchte, mit Tom darüber zu reden.
„Mensch, mach dich nicht verrückt, Peter! Du konntest es nicht verhindern!“
Wirklich nicht?
Am Tag der Beerdigung war ich restlos mit den Nerven fertig. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Ich lag im Wohnzimmer, seit Rikes Tod mied ich mein Bett, als mein Handy mir eine SMS signalisierte. Ich las ein Wort: WARUM?, blickte auf 8, 9, 13, …
Ich sah nach dem Absender, das Display verschwamm vor meinen Augen: Frederike!
Als ich Tom und Miriam die Nachricht zeigen wollte, war sie nirgendwo zu finden.
So, als hätte es sie nie gegeben! Vielleicht wurde ich verrückt. Als Strafe für mein Versagen Rikes Tod zu verhindern?
Auch nach der Beerdigung legte sich meine Unruhe nicht. Ich vermutete in jedem Schatten Frederike. Wenn das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich ihr rotglühendes Gesicht oder – noch schlimmer - das Asthmaspray.
Ich wurde zu einem nervlichen Wrack.
Ich rief Tom an. „Tom, sei so lieb und schau heute bei mir rein. Ich muss mit dir reden! Allein, ohne deine Frau. Bitte!“
Auch wenn Miriam nicht mehr nach dem Gewinn fragte, ich wusste genau, dass sie scharf darauf war. Ich wollte das Glitzern in ihren Augen nicht sehen, wenn ich Tom den Lottoschein gab. Ich hatte viel darüber nachgedacht. Nur so, hoffte ich, bekäme ich meine innere Ruhe wieder.
Tom nahm den Schein, versicherte mir, dass ich das Richtige tat.
„Ihn verfallen zu lassen, macht Mum auch nicht wieder lebendig! Wir sorgen für dich, sie hätte das so gewollt. Nun mach dich nicht fertig, das Leben geht weiter!“
Ja, das Leben ging weiter. Und wie! Ich hatte keine Ruhe. Überall schien Rike zu sein. Ich wusste nicht, was sie noch von mir wollte. Den Lottogewinn hatte Tom eingelöst. Doch sie war noch da. Ich bekam Telefonanrufe, sie schickte Mails, malte ihren Schatten an die Wände. Im Bad roch es aufdringlich nach ihrem Parfüm.
Doch immer, wenn ich dachte es gäbe einen Beweis, dass sie im Haus herumspukte, war er verschwunden.
Ich hielt es nicht länger aus.
Ich hielt es nicht länger aus! Ich ging zur Kripo. Unterlassene Hilfestellung, vielleicht Mord?
Ich erzählte ihnen vom Lottoschein, dem Abend vorher und wie am nächsten Tag das Asthmaspray unter dem Bett lag.
Der Polizeipsychologe tippte erst auf Stress, dann auf das falsche Opfer-Syndrom.
Später kam doch die Frage auf, ob ich vielleicht meine Lebensgefährtin auf dem Gewissen hatte. Durch die Millionen lieferte ich ihnen ein Motiv für die Tat. Ich wurde in den Augen der Justiz als Täter interessant.
Viel wichtiger, ich gestand, dass ich es ihr absichtlich vorenthalten hatte. Ich war fix und fertig!
Tom und Miriam glaubten, ich könnte Frederike nur nicht los lassen. Sie begannen die Welt zu bereisen.
Seit Wochen sitze ich in U- Haft. Fluchtgefahr; zu viel Geld innerfamiliär. Ich warte auf meine Verhandlung. Rike schweigt und verfolgt mich nicht mehr.
Für sie scheine ich der gerechten Strafe entgegen zu sehen …

… Zur gleichen Zeit in der Karibik …
Miriam winkt dem Kellner. „Bitte noch eine Pina Colada!“ Sie räkelt sich auf ihrer Liege und sieht hinüber zu Tom. Ein zufriedenes Lächeln liegt auf ihren Lippen.
‚Wenn es so einfach war, dem Alten einen Mord einzureden, wie leicht wäre es, einen Mord wie einen Unfall aussehen zu lassen?’
Sie schließt die Augen und beginnt zu träumen …

© Sabine Poethke 2006

Letzte Aktualisierung: 22.07.2006 - 08.19 Uhr
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