Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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August 2006
Graben Sie!
von Andreas Schröter

Liebe Mitarbeiter der BILD-Zeitung,

Ich bin sauer – richtig sauer. Darüber, dass meine Leistung einfach nicht anerkannt wird. Warum tauche ich in keiner Kriminal-Statistik der Polizei auf? Warum hat es niemals einen Zeitungsbericht über mich gegeben? Warum gibt es keine griffige Bezeichnung für mich, die sich gut in einer Schlagzeile machen würde? Der „Fox-Killer“ zum Beispiel. Das würde mir gefallen.

Wenn es einen Anfang meiner Geschichte gibt, dann liegt er 31 Jahre zurück. Damals änderte sich mein Leben abrupt – damals wurden mir die Augen geöffnet – damals wusste ich plötzlich, wofür es sich zu leben lohnt. Damals – 1975 – erschien „Fox on the Run“ von Sweet, das göttlichste Stück Musik, das jemals produziert wurde. Bis heute. 3:24 Minuten lang.

Sie sind doch nicht etwa anderer Meinung, oder? Kein vernünftig denkender Mensch kann anderer Meinung sein.

Ich war eine Woche vor der Platten-Veröffentlichung zwölf geworden und meine Eltern hatten mir einen kleinen Plattenspieler geschenkt. Mono natürlich, der Lautsprecher befand sich im hochklappbaren Deckel. Nicht besonders teuer, weil meine Eltern kein Geld hatten. Sicher, aus heutiger Sicht müsste man den Klang wohl als „grauenhaft“ bezeichnen. Aber das machte mir nichts. Ich hörte „Fox on the Run“ von kurz nach eins, wenn die Schule aus war, bis abends um neun, wenn ich ins Bett musste. Brian Connollys Stimme von morgens bis abends. Ich liebte es und ich liebe es bis heute.

Meine kleine Schwester sagte einmal, ich solle das Gedudel endlich leiser machen. Ihre Wunde musste genäht werden. Mike Tucker, Steve Priest, Andy Scott und der göttliche Brian machten kein „Gedudel“. Das merkte sie sich. Mein Vater schrie mich vier Wochen später an, ich solle den Mist sofort ausstellen, sonst würde er den Plattenspieler aus dem Fenster werfen. Ihm fehlte fortan ein Schneidezahn. Kurz darauf wohnte ich nicht mehr zu Hause. Irgendwas mit „schwer erziehbar“ hörte ich mal. Egal, ich durfte den Plattenspieler und die Single – meine einzige Single – mitnehmen, und allein das zählte. In meinem neuen Zuhause hatte ich sehr gelehrige und verständige Mitmenschen – allerdings erst, nachdem mein Zimmergenosse eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus verbracht hatte. So konnte ich relativ unbehelligt erwachsen werden – mit meiner täglichen Dosis „Fox on the Run“.

Die seltsamen Menschen, mit denen ich heute zu tun habe, behaupten, ich hätte Schwierigkeiten mit Frauen – ich hätte noch niemals mit einer Frau ... na, Sie wissen schon. Abgesehen davon, dass ich nicht wüsste, was die das angeht, stimmt es schlichtweg nicht. Im Gegenteil. Ich hatte immer Erfolg bei Frauen. Ich war neunzehn, als ich zum Beispiel diese Touristin aus Norwegen kennen lernte. Lia. Sie hatte unglaublich große Brüste, war aber ansonsten schlank – eine Kombination, die ich ausgesprochen gerne mag. Schade, dass wir einen so unterschiedlichen Musikgeschmack hatten. Nachdem ich ihr „Fox on the Run“ vorgespielt hatte, meinte sie: „Was, eine solche Teenie-Kacke hörst du dir an?“ Die Spitze des Schüreisens drang direkt in ihr Gehirn. Irgendwas Ekelhaftes spritzte aus ihrem geöffneten Schädel. Niemand bekam unsere kleine Auseinandersetzung mit. Ich verscharrte sie in einem Wald. Ihre Leiche wurde bis heute nicht gefunden, weil sie niemand vermisste oder weil niemand auf die Idee kam, in Witten an der Ruhr nach ihr zu suchen – was weiß ich.

Oder Julianka aus Kasachstan: Sie arbeitete als Au-Pair-Mädchen in Herne. Wir lernten uns im August 1986 in der Wittener Werkstatt kennen. Später in meinem Auto kam sie erfreulich schnell zur Sache. Merkwürdig fand ich nur, dass sie auch dann noch redete, als reden längst überflüssig war. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Während ich ihr den Slip über die Pumps zu ziehen versuchte (was in einem Auto nicht ganz einfach ist), sagte sie in ihrem gebrochenen Deutsch, sie fände diese Wittener Werkstatt als Tanzschuppen ja ganz originell, aber sie könne es nicht ausstehen, wenn die Leute heute immer noch nach der Musik aus den 70ern ausflippten – diese schrecklichen Sweet zum Beispiel. Als gebe es heute keine gute Musik mehr.

Ich erdrosselte sie mit dem Überspielkabel, das ich immer im Auto hatte, weil die Batterie so schwach war. Schade, dass ich sie vorher nicht noch gefragt hatte, waher sie überhaupt „The Sweet“ kannte. War Brians Berühmtheit sogar bis nach Kasachstan vorgedrungen? Sagenhaft, aber eigentlich kaum verwunderlich! Schließlich sind „The Sweet“ die Größten. Der Stelle, die ihr Slip vorher bedeckt hatte, widmete ich mich natürlich noch ausgiebig, bevor ich sie zu ihrer ganz persönlichen kleinen Beerdigung brachte.

Und da sagen diese Leute, ich hätte keine Erfahrung mit Frauen! Auch sie wurde niemals gefunden. Auch sie vermisste niemand. Auch sie vermutete niemand in Witten an der Ruhr. Wie gesagt: Aus heutiger Sicht empfinde ich das als ärgerlich. Der Fox-Killer, als der ich in die Geschichte der Serientäter hätte eingehen können, wurde nie bekannt.

Heute bin ich dreiundvierzig Jahre alt und lebe in einem großen, modernen Haus. Ich muss mich nicht um mein Essen kümmern und gehe nicht arbeiten. Alles ist wunderbar geregelt. Und trotzdem gefällt es mir nicht sonderlich. Am schlimmsten ist natürlich, dass ich keinen Plattenspieler haben darf. Auch dass ich das Gebäude nicht verlassen darf, ist alles andere als komfortabel. Wissen Sie, hier laufen sehr viele in weiß gekleidete Menschen herum, und manchmal wollen die sich mit mir unterhalten. Aber das sagte ich ja schon. Und sie sind schrecklich eigensinnig. Zum Beispiel beharren sie auf ihrer Meinung, dass es diese beiden Mädchen – Lia und Julianka – niemals gab, dass ich sie einfach nur erfunden habe. Die sollen sich doch um ihren eigenen Scheißdreck kümmern! Ich weiß gar nicht, warum die sich überhaupt so für mich interessieren. Das habe ich früher in noch keiner WG erlebt. In ihrem arroganten Fachchinesisch gebrauchen sie manchmal das Wort „schizophren“. Totaler Blödsinn! Aber was kann man gegen soviel Borniertheit tun? Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe denen schon tausendmal haarklein erklärt, wo ich Julianka verscharrt habe. Am Waldeingang schräg gegenüber dem Haus Schneer Weg 48 in Witten Rüdinghausen – direkt hinter den Glas- und Papiercontainern. Das sage ich ihnen immer wieder. Sie antworten nur „Ja, ja“, und dann höre ich nichts mehr davon. Bis zum nächsten Gespräch dieser Art. Schrecklich!

Ich frage Sie: Was soll das? Ich bin der Fox-Killer und ich will als solcher bekannt werden. Ich will auch einmal in der Zeitung stehen. Bitte sorgen Sie dafür! Viel schlimmer als hier kann es im Knast auch nicht sein. Glauben Sie mir wenigstens? Tun Sie mir bitte einen Gefallen: Graben Sie! Graben Sie an der Stelle, die ich Ihnen genannt habe. GRABEN SIE!

P.S.: Mögen Sie „Fox on the Run“?

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Dominik Bernstein

© Andreas Schröter 2006

Letzte Aktualisierung: 27.08.2006 - 16.21 Uhr
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