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August 2006
Zwanzig Euro
von Anne Zeisig

„Ich rette Dich, wenn Du einsam bist, wenn die Schule Dir stinkt, wissen wir, Du und ich, ich rette Dich, wenn ... “

Kim seufzte tief und reckte sich zur Seite, um den Ton der Stereoanlage voll aufzudrehen. Dann ließ sie sich auf das Schlafsofa zurück fallen. Ihre Blicke wanderten über die Poster an der Wand.
„Joe“, flüsterte Kim. Er war der Frontmann der Group OIKOT´HO.
„Hammergeile Stimme.“ Die 15-jährige rieb über ihre Gänsehaut an den Unterarmen.
Kims Augen hefteten sich auf Joes Gesicht. Seinen Mund hatte er zu einem `Etwas-Lächeln´ hochgezogen und die geschlossenen Lippen glänzten feucht. Sie setzte sich auf und wiegte ihren Kopf sachte hin und her. Joes Augen folgte ihrer Bewegung. Hinter dem Dunkelbraun seiner Iris hätte man leicht ein Geheimnis vermuten können. Aber sie wusste alles über ihn. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, das Jüngste von fünf Kindern. Der Vater ein Säufer. Nun hatte er es geschafft mit seiner Stimme und den vier Jungs an den Instrumenten.
„Ultrageiler Sound.“

„Ich rette Dich, wenn die Außenwelt Dich ignoriert, wenn Dich keiner akzeptiert, Du und ich, zusammen machen wir alles möglich, wenn ... “

„Diese Drums.“
Kim hielt inne und hangelte sich die ´Girls and more´ vom Bücherregal, ohne ihre Augen von Joe abzuwenden.
Sie seufzte abermals, senkte ihren Kopf, und blätterte hastig in der Jugendzeitschrift, bis zur Rubrik mit den Veranstaltungshinweisen.
„Das Konzert ist ja bereits in zwei Wochen.“ Kim stand auf, holte ihre Geldbörse aus der Schreibtischschublade und zählte das Ersparte. „Mist!“ Ihr fehlte noch über die Hälfte für das Ticket. Sollte sie ihre Mutter anpumpen?
Kim fegte das Geld mit einem Wisch vom Tisch.
„Der Schnaps ist ihr wichtiger!“, schrie sie gegen die Lautstärke der Musik an.

„Ich rette Dich, steh auf, lass alles raus, wenn der Frust Dich übermannt, fühl meine Hand, Du und ich, wir ... “


. . .

Kim schaute in den Spiegel der weißgekachelten Bahnhofstoilette. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und band das schulterlange Haar im Nacken zu einem Knoten. Sie sah an sich hinab. Der weiße Kittel war viel zu weit. Egal. Aus der rechten Tasche fingerte sie ein Raumdeodorant und sprühte eine kräftige Brise in den Raum. Sie nahm das Kleingeld von dem Porzellantellerchen und ließ es in die linke Kitteltasche klirren. Kaum einer der Toilettenbesucher zeigte sich großzügig. Sie bezahlten fünfzig Cent und oft musste sie sich Beschimpfungen über den Preis anhören. Manche hofften, ohne Bezahlung an ihr vorbeihuschen zu können. Vornehmlich Frauen waren das. Dabei waren die Damentoiletten stets besonders verunreinigt.
„Pah! Damen!“, sagte die 15-Jährige und scheuerte das Handwaschbecken.
„Kim? Kim! Bist du `s?“
Sie schnellte herum. Verdammt!

„Ich rette Dich, wenn Deine heißen Tränen Löcher in den Stein schlagen, Du und ich ... “

Er fummelte an seiner Krawatte herum und stellte die Aktentasche auf den Fliesenboden.
Was um alles in der Welt hatte ihr Englischlehrer morgens, kurz vor Neun, auf einer Bahnhofstoilette zu suchen?
Nun fuhr er sich mit seiner rechten Hand durchs schüttere Haar: „Wir vermissen Dich bereist seit einer Woche im Unterricht! Hat Deine Mutter das Anschreiben nicht erhalten?“
Kim zuckte mit den Schultern.
„Was machst Du hier?“
„Arbeiten.“
„Morgens?“
Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Nachmittags und abends war hier nichts mehr frei, Herr, Herr ... “, sie musste ihm wenigstens eine Erklärung geben, „Herr Morchstätt. Aber ich brauche das Geld.“, presste sie mühsam hervor. „Das ist nicht von Dauer. Ein paar Tage nur.“
Eine ältere, grauhaarige Dame betrat den Raum. „Damen?“
Kim wies mit dem ausgestreckten Arm nach hinten links.
Nun zuckte Herr Morchstätt mit den Schultern: „Finanzielle Probleme?“
Die 15-Jährige nickte und begann, den Spiegel über dem Handwaschbecken zu polieren.
„Aber Du versaust Dir den Abschluss, das weißt Du.“
`Pah! Sind eh zu wenig Ausbildungsplätze vorhanden.´
Sie hörte die Klospülung und wenig später erschien die Alte und warf fünfzig Cent auf das Tellerchen. Kim ließ das Geldstück in ihre Kitteltasche gleiten.
Als sie sich umdrehte, war ihr Englischlehrer nicht mehr da. Sie setzte sich auf einen Holzstuhl nahe der Eingangstür und stöpselte die Kopfhörer ihres MP-Drei-Players in die Ohren.

„Ich rette Dich ...“

„Joe“, flüsterte sie. So angenehm waren nicht alle Vormittage.

. . .

Ihre Mutter empfing sie mittags im Bademantel und mit zerzausten Haaren. Ungeduldig hörte sie sich Kims Erklärungen wegen des Schuleschwänzens an. „Wegen eines Konzertes mit Hotten-Totten-Musik machst Du Blau und spielst Klofrau?“
Die Ohrfeige der Mutter brannte heiß.
Kim rieb sich die Wange und kniff die Augen zusammen: „Wenn Du weniger saufen würdest, dann wäre das auch für dich ein Job, anstatt zum Sozialamt zu rennen!“
„Das muss ich mir von meinem eigen Fleisch und Blut sagen lassen!“
Kims Mutter schwankte und holte erneut aus, um ihre Tochter zu schlagen. Aber die 15-Jährige wich zurück und schloss sich in ihrem Zimmer ein.
Kim wählte den höchsten Lautstärkepegel der Stereoanlage und ließ sich auf ihr Sofa fallen.
Joe sah sie vom Poster aus an mit seinen dunkelbraunen geheimnisumwitterten Augen.
`Bald stehst du vor mir! Lebensgroß. Zum Greifen nah!´ Kim lachte laut, stand auf und tanzte.

„Dieser Sound geht ins Blut. Die ganze Welt tanzt um mich herum. Es ist seine Stimme, die süchtig macht. Er hat die Übermacht. Keine Wut. Keine Einsamkeit. Ich bin bereit. Für Joe.“

. . .

Kim harkte die Toilettenbürste in die Halterung und drehte sich herum. Herr Morchstätt war wieder da. Er räusperte sich auffällig laut.
„Wieviel Geld benötigst du?“
Sie versprühte den Raumduft.
`Was geht ihn das an?´
„Zwanzig Euro.“
Morchstätt lachte.
„Nur zwanzig Euro? Mein Gott! Und ich dachte, Du hättest vielleicht eine horrende Handyrechnung abzuzahlen. Man kennt das ja. Teenies und Dauergespräche!“
Die 15-Jährige stellte die Deoflasche hart auf die Spiegelablage: „Eine hohe Telefonrechnung? Das, Herr Morchstätt, kann mir nicht passieren!“
Sie öffnete den Vorratsschrank und entnahm eine Rolle Toilettenpapier, um sie auf der Herrentoilette in einer der Kabinen in den Halter zu stecken. Er folgte ihr und stellte sich dicht hinter Kim.
„Du bist vernünftig und hast die Kosten im Griff. Oder?“
Sie drehte ich herum und berührte in der Enge seinen Körper. Er wich nicht einen Zentimeter zurück. Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Auge.
„Ich habe kein Handy.“ Kim stieß ihn unsanft beiseite und zwängte sich aus der Kabine.
Er hielt sie an beiden Schultern fest. „Lächerliche Zwanzig Euro könntest du bei mir an einem Abend verdienen!“
Ihr Herz klopfte wild. `Diese Sau.´

„Ich rette Dich, wenn der Pauker, das Schwein, Dir an die Wäsche will, dann kill ich ihn ... “

„Es wären einige Gäste da, die du bedienen müsstest.“ Er räusperte sich abermals. „Nette Leute.“
Sie nahm die Flasche mit der Chlorbleiche aus dem Schrank, drehte sich herum und hielt die geöffnete Flasche vor ihre Brust.
„Sie! Sie!“ Kim schnappte nach Luft und mit einem Schwall übergoss sich der Flascheninhalt auf Sakko und Hose des Englischlehrers.
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und lachte: „Na, na! Nun freu dich nicht zu früh! Selbstverständlich erwarte ich auch, dass du vorher ein paar leckere Sandwichs zubereitest.“
Kim schluckte schwer am wenigen Speichel. „Was soll ich tun?“
„Die Häppchen reichen und für gutgefüllte Gläser sorgen.“ Er zwinkerte mit den Augen. „Dia-Abend. Unser letzter Wales Urlaub. Meine Frau würde sich über Hilfe freuen. Sie hat leider wieder einen Rheumaschub.“ Er fingerte am Knoten seiner Krawatte und rückte diese zurecht. „Übermorgen? Achtzehn Uhr?“

. . .

„Joe ist da. Auf der Bühne singt er, mein Superstar. Mein Multitalent. Sein knackiger Po wippt im Takt. Oh Joe. Und ich schrei, damit er mich hört.“

„Joe! Ich liebe dich! Rette mich, denn du bist unerreichbar für mich!“

Anne Zeisig, August 2006




























Letzte Aktualisierung: 27.08.2006 - 19.58 Uhr
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