Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
„Timmi, komm, du musst dich umziehen!“
„Ja gleich.“ Kurz war es still, dann hallten wieder metallisch klingende Töne durch das Haus.
Bernd kam ins Bad. „Sitzt die Fliege richtig? Sag mal, seit wann hat Timmy ein Xylophon?“
Angela konnte nicht antworten, sie verschwand gerade hustend in einer Wolke von Haarspray. Bernd riss das Fenster auf.
„’Tschuldigung. Das ist aus dem Kindergarten. Gestern sollten sie ein Spielzeug mitbringen und durften sich etwas aus dem Kindifundus aussuchen. Er kam mit dem Ding an. Danach habe ich ihn kaum mehr gesehen.“
„Was hat er dagegen getauscht?“
„Den Jeep.“
„Waas, den teuren batteriebetriebenen Jeep gegen ein Spielzeuginstrument mit acht Tönen?“
„Ja. Du wirst es nicht glauben, er kann inzwischen alle gängigen Kinderlieder darauf spielen. Hat er sich selbst beigebracht.“
Wie auf Stichwort erklang laut und fröhlich „Hänschen klein“ aus Timmis Zimmer. Gefolgt von „Alle Vögel sind schon da.“ Pause. Eine neue Melodie. Angela legte den Kopf schief.
„Hör mal! Ist das nicht der Anfang von ‚Freude schöner Götterfunken’? Wo hat er das aufgeschnappt?“
Seite an Seite standen sie in der TĂĽr und lauschten. VerblĂĽfft sahen sie sich an.
Die Melodie brach ab.
„Menno, hier fehlen ganz viele Töne“, schrie Timmi.
Er kam ins Bad gerannt.
„Mami das geht nicht, es ist zu kurz.“
„Was ist zu kurz, Schatz?“
„Das Ksillifon, da fehlt was.“
„Liebes, das ist ein Spielzeug. Es reicht doch für Hänschen Klein.“
„Aber ich kann nix Schönes spielen.“
„Das klang wunderschön. Du musst dich jetzt umziehen, wir kommen sonst zu spät.“
„Ich komm’ aber nur, wenn das Ksillifon auch mit darf.“
„Meinetwegen, aber wenn wir in die Kirche gehen, bleibt es im Auto! Jetzt zieh dich aus, bitte.“
„Okeeee. Mami, gibt’s bei der Hochzeit auch Essen? Ich hab’ Hunger.“
Bernd lachte. „Und ob! Ein italienisches Buffet, der Tisch wird sich biegen vor erlesenen Köstlichkeiten.“
„Ich will Pommes“, tönte es aus dem Knäuel aus T-Shirt, Shorts und wedelnden Armen.
***
Timmi saĂź auf der Kirchenbank und sah sich staunend nach allen Seiten um.
„Mami, warum hängt der Holzmann da?“
Angela seufzte. In dem Moment setzte die Orgel ein und ersparte ihr die Antwort. Die Festgemeinde erhob sich mit „Ahhh“ und „Ohhh“, als das Brautpaar langsam den Gang entlang schritt. Timmi würdigte Tante Biggi keines Blickes. Er stand mit offenem Mund da und starrte auf die riesigen Orgelpfeifen. Angela konnte spüren, wie sein kleiner Körper von den Schwingungen der tiefen Töne vibrierte. Als die letzte Note verklungen war, zuckte er zusammen, als würde er aus einer Trance erwachen.
„Mamiiii“, begann er aufgeregt und zupfte an Angelas Ärmel.
„Psst. Jetzt nicht. Nachher beantworte ich deine Fragen.“
Timmi lieĂź den Gottesdienst erstaunlich brav ĂĽber sich ergehen. Sobald Orgel oder Chor einsetzten, sprang er gleichsam elektrisiert auf und sog die Musik ein wie ein ausgetrocknetes Feld den lange ersehnten Regen. Seine Augen strahlten.
Nach der Zeremonie folgten Glückwünsche und Fotoshootings. Die Stimmung war so bunt wie die Festkleidung der Gäste. Erste Sektkorken knallten.
Angela stand in inniger Umarmung mit ihrer Schwester. Biggi löste sich und sah sich um. „Wo ist dein Sohn?“
Plötzlich erklang die Orgel. Einzelne, suchende Töne. Sie gingen über in ‚Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium.’
Nur die Melodie, mit einem einzigen Finger gespielt.
Dann wurde es zweihändig, mehrstimmig und laut. Biggi blickte zur Kirche.
„Was ist da los, übt Richie noch? Falsches Repertoire, nachher soll er Tanzmusik spielen.“
Angela ahnte etwas. „Ich komme gleich wieder.“
Sie ging in die Kapelle zurĂĽck und kletterte zur Empore hinauf.
Richard hämmerte voller Elan in die Orgeltasten. Timmi stand daneben, sein rechter Fuß tappte im Takt. Er wiegte ekstatisch sich hin und her, die Augen halb geschlossen. Mit den Händen imitierte er Richards Bewegungen.
Angela staunte.
„Was machst du denn hier? Komm runter, Tante Biggi möchte ein Foto mit allen Kindern machen.“
„Guck mal, Mami, hier sind viel mehr Töne als auf dem Ksillifon.“
Richard prustete los.
Er hielt inne und sah Angela durchdringend an.
„Wusstest du, dass euer Sohn hochmusikalisch ist?“
„Nein, ich ahne es erst seit gestern.“
„Ich geh’ zu Biggi“. Timmi verschwand.
Richard sah ihm verwundert nach.
„Ich wollte gerade gehen, da kam er. ‚Womit machst du die Musik?’. Dann ist er an die Tasten gegangen und hat die Ode an die Freude angestimmt. Einfach so, aus dem Gehör. Liegt das bei euch in der Familie?“
Angelas Lächeln wirkte etwas schief.
„Kann ich nicht sagen. Wir haben ihn direkt nach seiner Geburt adoptiert und wissen nichts über seine Eltern.“
„Oh. Ihr solltet ernsthaft über Musikunterricht nachdenken.
***
Die Feier in der nahe gelegenen Bürgerhalle begann ausgelassen und fröhlich. In lärmenden Grüppchen rannten die Kinder nach draußen.
Als das Buffet angerichtet wurde, sah sich Angela nach ihrem Sohn um. Im Saal war er nicht. Sie ging in den Hof.
„Katja, hast du Timmi gesehen?“
„Der spielt mit den anderen da hinten.“ Vage zeigte das Mädchen Richtung Spielplatz.
Dort wurde Angela nicht fündig. Zu diesem Zeitpunkt machte sie sich noch keine Gedanken, denn er war öfter mit den anderen Kindern an ihr vorbei gerannt. Bis ihr bewusst wurde, dass das letzte Mal mindestens zwei Stunden her war. Die Zeit war wie im Flug vergangen.
„Jungs, wisst ihr, wo Timmi ist?“
„Der hat vorhin mit uns gespielt, dann fand er es langweilig und ist weg. Keine Ahnung, wohin.“
„Danke.“
Angela rannte zum Saal zurĂĽck. Wo war Timmi? Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, fragte die Kinder auf dem Weg. Atemlos kam sie an ihren Tisch zurĂĽck.
„Timmi ist weg.“
„Vorhin war er hier, bist du sicher, Schatz?“ Bernd legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
„Keins von den Kindern weiß, wo er ist.“
Eine fieberhafte Suche begann. Keine Spur von Timmi!
Angela war den Tränen nahe.
„Wir müssen die Polizei rufen. Vielleicht ist er losgewandert und hat sich verlaufen. Hoffentlich ist er nicht angefahren worden. Oder gar entführt!“
„Beruhige dich, er kennt die Verkehrsregeln recht gut für sein Alter. Wir suchen jetzt die unmittelbare Umgebung ab, dann rufen wir an.“
Der Junge blieb unauffindbar.
Keiner interessierte sich fĂĽr das Essen. Wer nicht nach Timmi suchte, stand wie ein schĂĽtzender Ring um Angela und Bernd.
***
„Blaue Hose, weißes Hemd, kleine Fliege. In dem Aufzug sollte er schnell gefunden werden“, meinte der Polizeibeamte.
„Wir haben ihn überall gesucht, wo kann er nur sein?“ Angela hatte Tränen in den Augen.
„Ich gebe die Beschreibung durch. Beruhigen Sie sich, er hat sicher beim Spielen die Zeit vergessen. Wenn er Hunger hat, wird er wieder auftauchen. Vielleicht hat er sich schmutzig gemacht und traut sich nicht her. Wir werden ihn finden.“
Die Stimmung hatte einen gewaltigen Dämpfer bekommen. Das Brautpaar eröffnete dennoch das Buffet. Während der Brautvater das Vaterunser sprach, ging die Tür zum Saal langsam auf. Auf der Schwelle stand Timmi, an der Hand eines älteren, vornehm aussehenden Herren.
„Timmi!“, schrie Angela mitten in das „... unser tägliches Brot gib uns heute ...“, rannte los, hob ihren verdutzten Sohn hoch und drückte ihn ganz fest an sich. „Wo warst du? Wir haben dich überall gesucht.“
„Ich bin doch nur zur Musik gegangen.“, murmelte Timmi.
Fragend sah sie den Fremden an.
„Guten Abend. Mein Name ist Dr. Egbert Praetorius.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin Titularorganist an der Matthäuskirche.“ Er gab Angela die Hand.
„Ich habe heute Nachmittag für das Orgelkonzert geübt. Ihr Sohn ist in die Kirche gekommen und hat zugehört. Als ich pausierte, sprach er mich an. ‚Kannst du mir die Musik geben? Ich will das auch können.’ Ich fragte ihn, ob seine Eltern wüssten, wo er ist. Er nickte.
Ich zeigte ihm ein paar kleine Etüden. Dann ging er. Als ich später auf dem Heimweg war, fand ich ihn weinend an der Straßenecke. Den Weg zur Kirche wies ihm der Kirchturm. Den Rückweg hingegen fand er nicht. Aus seiner Beschreibung schloss ich auf die Bürgerhalle und erlaubte mir, ihn her zu geleiten. Er ist hochbegabt. Wir müssen uns dringend unterhalten. Dieses Kind braucht ganz spezielle Förderung. Ich möchte ihn unterrichten.“
„Wir haben ihn überall gesucht, Sie können sich nicht vorstellen ...“
„Doch“, unterbrach Praetorius sie mit einem Lächeln. „Ich habe selbst Kinder, wenngleich sie inzwischen groß sind.“
Er ging in die Hocke.
„Junger Mann. Wenn du mir versprichst, dass du nie mehr wegläufst, lege ich ein gutes Wort für dich ein. Verstanden?“
„Ja, Herr Torius.“, sagte Timmi kleinlaut. Er sah zu Angela hoch, einen flehenden Ausdruck in seinen Augen.
„Mami, darf ich die Musik lernen mit Herrn Torius? Ich muss einfach! Die macht mich ganz flügelig!“
„Schatz, darüber reden wir ein anders ...“
Biggi unterbrach sie und wandte sich an den ungeplanten Gast.
„Herr Praetorius, dürfen wir Sie zum Essen einladen? Als Dankeschön, weil Sie unseren ausgebüchsten Minimeloman heil zurück gebracht haben.“
Timmi sprang erfreut in die Luft.
„Au ja! Und wenn Richie müde wird, dann spielen Herr Torius und ich das Funkenlied.“
Letzte Aktualisierung: 25.08.2006 - 20.34 Uhr Dieser Text enthält 9345 Zeichen.