Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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August 2006
Tanzende Schmetterlinge
von Julia Breitenöder

Roland lag auf im Wohnzimmer auf dem Boden. Er beobachtete Mama und Papa. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Worte ablesen. Die Blicke und Gesten hingegen gaben ihren Gefühlen deutlich Ausdruck. Sie stritten. Schon wieder.
Roland wandte sich dem Radio zu, zog den Lautstärkeregler ganz nach oben. Augenblicklich begann sein Körper zu vibrieren, ein angenehmes Kribbeln erfüllte seinen Bauch. Es durchfloss seine Nervenbahnen, breitete sich aus bis in die Fingerspitzen. Er schloss die Augen, bunte Punkte wirbelten wie Schmetterlinge durch die Dunkelheit, leise pulsierend ergriff ihn ein sirrendes Glücksgefühl.
Das Land der schwingenden Töne. Seine Zuflucht, der Ort, an dem er sich nicht gehörlos fühlte. Hier war sein Körper das Ohr, die Musikschmetterlinge trugen ihm die Klänge zu.
Abrupt wurde seine Reise auf den Flügeln der Musik beendet. Mamas Hand auf seiner Schulter, zornig blitzende Augen, Lippen, die die Worte überdeutlich formten: „Wieso tust du das immer wieder? Du kannst es sowieso nicht hören. Du bist taub!“
Zu seinem nächsten Geburtstag bekam Roland ein eigenes Radio und Kopfhörer. Zuerst freute er sich sehr darüber. So konnte er jederzeit in die erregende Welt der Musik eintauchen. Niemand würde sich über die Lautstärke beschweren.
Es funktionierte nicht.
Die berauschenden Wellen erreichten ihn nicht, blieben in der verschlungenen Enge des Kopfhörerkabels stecken.
„Siehst du, das habe ich gleich gesagt.“ Mama schüttelte den Kopf. „Du kannst keine Musik hören, es geht einfach nicht. Der Arzt hat es dir erklärt.“
Rolands Hände durchschnitten die Luft. „Ich kann es fühlen“, formten seine Gebärden. Mama schaute ihn lange an. Roland wusste, sie konnte seine Liebe zur Musik nicht nachvollziehen, ahnte nicht, wie unvergleichlich sich dieses Prickeln und Flattern anfühlte.
Zwei Wochen später richtete Papa den Hobbyraum im Keller für Roland her. Dämmmaterial an Wänden und Decke, eine nackte Glühbirne, Papas alte Anlage mit großen Boxen in der Ecke, daneben ein Sofa mit ausgeblichenem Bezug. Für Roland der schönste Raum der Welt.
Er schloss die Tür hinter sich. Vorsichtig legte er eine Kassette ein. Sanftes Kitzeln im Bauch. Langsam drehte er die Lautstärke höher. Die Musikschmetterlinge flatterten durch seinen Körper, immer schneller, ergriffen Besitz von ihm. Glücklich ließ Roland sich auf den Wogen der vibrierenden Musik treiben.
***
„Das ist der neuste Stand der Technik. Es vollbringt wahre Wunder!“ Stolz hatte der Arzt das winzige Implantat präsentiert, das ihm, einmal ins Ohr eingesetzt, das Hören ermöglichen sollte. Roland war misstrauisch.
Als der Arzt nach der Operation das weitere Vorgehen skizzierte, kamen in seinem Kopf tatsächlich Töne an, die zu den Lippenbewegungen passten.
Nach einem Vierteljahrhundert der Stille sehnte Roland sich nach Geräuschen jeder Art. Er wollte sich Hals über Kopf in die Welt der Hörenden stürzen, freute sich auf Hundegebell, Verkehrslärm und Kindergeschrei. Doch seine Ohren brauchten Zeit. Schnell wurden ihnen die neuen Töne zu viel, der Kopf schmerzte und verlangte nach absoluter Ruhe. Widerwillig passte Roland sich dem Tempo an, das seine Sinne ihm vorgaben. Schritt für Schritt trat er während seines Reha-Aufenthalts in das Reich des Hörens ein.
Als er entlassen wurde, konnte Roland es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Endlich, endlich würde er seine geliebte Musik richtig hören können. Sein Herz schlug vor Aufregung schneller. Ohne Jacke oder Schuhe auszuziehen, lief er zur Anlage, legte eine CD ein, drückte mit zitternden Fingern auf „Play“.
Es tat weh. Die Laute, die seine Ohren erreichten, waren verzerrt, schrill. Sie quälten ihn. Roland stoppte die CD, suchte eine andere aus. Das einzig Pulsierende waren die Schmerzen in seinem Kopf, seine Ohren wollten die ungewohnten Geräusche aussperren. Roland wechselte von CD zum Radio. Vergebens wartete er darauf, von den Klängen ins Reich der Schmetterlinge getragen zu werden.
„Gut Ding will Weile haben“, beschwichtigte ihn sein Arzt bei der Nachuntersuchung. „Geben Sie Ihren Sinnen Zeit, sich langsam an die neuen Erfahrungen zu gewöhnen. Sie werden sehen, es lohnt sich.“
Roland suchte weiter nach seinem neuen Zugang zum Reich der Töne. Er blieb hartnäckig, ließ sich von den scheinbar disharmonischen Klängen nicht entmutigen. Mit jeder CD wurde es erträglicher, seine Ohren gewöhnten sich an verschiedene Tonlagen, er konnte einzelne Instrumente unterscheiden, Gesang hob sich von der Musik ab.
Rolands CD-Sammlung wuchs stetig, gemeinsam mit Freunden besuchte er Konzerte. Er lauschte aufmerksam, saugte die Musik in sich auf. Manchmal verlor er sich darin. Etwas war anders als vorher. Er konnte nicht mehr mit den Noten verschmelzen, in die Klänge eintauchen, im Strudel der Töne versinken. Die Musikschmetterlinge schlugen in einer verschlossenen Kiste in einer weit abgelegenen Ecke seines Bewusstseins schwach mit den Flügeln.
***
Schon seit Tagen freute Roland sich auf den Opernbesuch mit seiner Freundin Iris. Sie hatten Karten für eine hoch gelobte Inszenierung von „Tosca“ ergattert.
Iris war völlig in das Geschehen auf der Bühne versunken, als Roland ihren Arm berührte. „Das Hörgerät funktioniert nicht“, signalisierte er mit einem Griff ans Ohr. Er versuchte ein Lächeln, in seinen Ohren summte es laut. Es irritierte ihn, die Sänger nur pantomimisch agieren zu sehen, während sich das Summen in ihm zu einem schrillen Pfeifen steigerte.
Ärgerlich schüttelte Roland den Kopf. Gerade, als er aufstehen wollte, um den Konzertsaal zu verlassen, verstummte das Pfeifen und mit lautem Krachen zersprang in ihm der Deckel der Kiste.
Wild wirbelten die Schmetterlinge heraus. Eine Spirale aus buntflügeligen Geschöpfen schraubte sich empor, verharrte einen Moment, dann stürzten die grazilen Wesen in die Tiefe. Eine schillernde Kaskade näherte sich dem Boden. Kurz vor dem Aufprall wurden die filigranen Flügel geschwungen, die Schmetterlinge gewannen an Höhe, formten eine flirrende Wolke.
Roland blieb auf seinem Platz. Sein Körper vibrierte unter den anstürmenden Wellen der Töne, auf seinem Gesicht lag ein staunendes Lächeln. Die Musikschmetterlinge umtanzten ihn.
Ohne Vorwarnung nahm das Implantat seinen Dienst wieder auf. Roland hielt sich die Ohren zu, hatte Angst, die Schmetterlinge zu verlieren. Die schillernden Flügel standen kurz still, dann vermischten sich gehörte und gefühlte Klänge, jeder Ton brachte neue Schmetterlinge hervor, die sich dem tanzenden Schwarm anschlossen.
Ein Schwindel erregendes Gefühl des Glücks pulsierte durch Rolands Körper. Mal brandeten gewaltige Klangwogen gegen seine Brust, mal kitzelten ihn einzelne Noten zart am Kopf. Um ihn herum flatterten unzählige Musikschmetterlinge in schillernden Farben, untrennbar verschmolzen mit den Tönen im Tanz der Musik.

Letzte Aktualisierung: 25.08.2006 - 20.30 Uhr
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