Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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September 2006
Place des Palmiers
von Renate Hupfeld

Schon von draußen hörte sie durch das geöffnete Fenster Pianospiel. Sie erkannte die Abschiedssonate von Beethoven. Pauline war da am Werk. Malwida blieb im Schatten einer Palme stehen und lauschte.
Das Palais von Bürgermeister Denis war nur einen Katzensprung vom Maison Arnaud entfernt. Das gastliche Haus am Place des Palmiers würde sie in guter Erinnerung behalten, vor allem Alphonse Denis Vorträge über Hyères und Spaziergänge in der Umgebung. Ihr blieb jedoch sein Buch, ein guter Begleiter auf vielen Wanderungen. Heute würde es der letzte Ausflug zusammen mit Pauline sein.
Erst als das Musikstück verklungen war, ging sie hinein und ließ sich zu ihrer Freundin führen. Wie erwartet, saß die in Gedanken versunken am Klavier. So kannte sie diese sensible Seele. Manchmal war das junge Mädchen beim Spielen so ergriffen, dass Tränen liefen. Malwida erinnerte sich dann an die Zeit, als sie selbst achtzehn gewesen war, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Lieber war ihr die andere Pauline. Die wanderte plaudernd neben ihr durch die Landschaft der Provence, sammelte seltene Pflanzen für ihr Herbarium und war immer auf der Suche nach Motiven zum Zeichnen.
Vorsichtig näherte sie sich der Pianospielerin und strich ihr sanft über die Schulter. Sofort wandte Pauline sich um und schaute mit warmen dunklen Augen zu ihrer Freundin hoch. Dann erhob sie sich, damit sie einander in die Arme schließen konnten.
Hand in Hand schlenderten sie durch die Gassen der Altstadt, überquerten den Marktplatz und erreichten den Weg mit den großen Pflastersteinen. Sie stapften steil bergauf zu den verwitterten Gemäuern der alten Burganlage, von wo sich ihnen ein unbeschreibliches Panorama in alle Richtungen bot.
„Kann eine Landschaft schöner sein?“, schwärmte Malwida. „Berge und Täler in der einen Richtung, in der anderen sanft abfallende Gärten mit blühenden Orangenbäumen, Oliven und Myrten bis hinunter zum Meer. Das unvergleichliche Zusammenspiel von Formen, Farben und Licht, wie es mein Lehrer Carl Morgenstern beschrieb, wenn er von der Faszination des Südens sprach.“
„Die Farben der Provence“, sagte Pauline. „War Morgenstern hier in Südfrankreich zum Malen?“
„In Italien war er, aber die Landschaften auf seinen Bildern sind dieser hier sehr ähnlich.“
„Sieh mal da unten, unsere Mauernische“, rief die Jüngere. „Wie still sie dort liegt! Kaum vorstellbar, dass hier noch vor einer Woche der Mistral gewütet hat. Wie ein Derwisch hat er an der Pinie gezerrt. Jetzt steht sie da, als sei nichts geschehen.“
Malwida holte ihr braunes Skizzenbuch hervor und blätterte darin, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
„Hier siehst du den sturmgebeugten Baum und das da bist du, Pauline. Schau, wie dir der Rock über den Kopf fliegt.“
Sie lachten.
„Heute dagegen ist so ein herrlicher Tag, windstill und strahlend blauer Himmel. Lass uns auf Motivsuche gehen“, schlug Pauline vor.
Sie ließen sich durch Wälder und Wiesen treiben, bis sie einen geeigneten Platz gefunden hatten. Dann tauschten sie die Skizzenbücher und jede zauberte mit spitzem Bleistift Strich für Strich das ihnen zu Füßen liegende Panorama auf das Papier, eine weite Ebene mit einem von Zypressen und Laubbäumen gesäumten Flusslauf, einer Kirche zwischen vereinzelten Häusern, idyllisch eingebettet vor der Kulisse der Bergketten des Massivs.
‚Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stunden in Freiheit und Liebe’, schrieb Malwida unter das ihrer Weggefährtin gewidmete Bild.
Sie tauschten die Bücher zurück. Auch Pauline hatte eine Widmung geschrieben:
‚Dort erhebt sich niemals Lärm….Seinen Traum kann man träumen, bis er endet und ihn dann von vorne beginnen, 4. Mai 1845, P.’
Schweigend blieben sie nebeneinander sitzen, bis die Sonne sich schon fast bis zur Felsspitze hinuntergesenkt hatte. In wehmütiger Stimmung machten sie sich auf den Heimweg.

Am nächsten Tag wurde wieder zeitig gefrühstückt, damit man jede Stunde dieses Frühlingstages ausnutzen könnte. Der Erzieher war schon mit den Kindern unterwegs, Malwida und ihre Schwägerin ließen sich noch etwas Zeit. Mit einem prächtigen Rosenbouquet in den Händen kam das Mädchen herein und stellte es auf den Tisch.
„Das ist abgegeben worden für Mademoiselle von Meysenbug.“
Malwida sog den wunderbaren Duft der Blüten ein. Jeden Tag schickte Victor ihr Blumen. Diesmal war sogar ein geschriebener Gruß dabei. Sie griff das Kärtchen und las seine Worte: ‚Denke über mein Angebot nach.’ Unwillkürlich stieg eine leichte Röte in ihre Wangen.
„Diese Aufmerksamkeiten wirst du vermissen“, sagte die Schwägerin, die sie lächelnd beobachtet hatte.
„Ach, Caroline“, seufzte Malwida. „An die Abreise mag ich gar nicht denken. Warum müssen wir nur zurück in die Kälte? Die schöne Zeit sollte nie zu Ende gehen. Das Leben hier tut einfach gut. Ich sehe es doch an dir. Seit unserer Hinreise warst du nicht ein einziges Mal krank.“
„Das war der Sinn der Unternehmung. Insofern kann man sagen, dass dieser Winter fern der Heimat ein Erfolg war. Übrigens auch für dich, Liebes. Wenn ich nur an deine traurigen Augen zu Beginn der Reise denke! Du bist aufgeblüht wie eine schöne Blume. So kannte ich dich vorher nicht, umschwärmter Liebling der Männer.“
„Was willst du denn damit sagen?“
„Da ist nicht nur dein treuer Blumenspender, dessen tägliche Zeichen seiner Zuneigung wohl mehr als deutlich sind. Letztens habe ich beobachtet, wie unser Vermieter dich angesehen hat. Monsieur Arnaud ist ein reicher Witwer in den besten Jahren. Und in Toulon auf dem Tanzboden warst du unumstrittene Ballkönigin, hat man mir erzählt.“
Dieses Getratsche! Malwida konnte das nicht ausstehen. An den Ball in Toulon wollte sie sich gar nicht erinnern. In Zukunft würde sie an Veranstaltungen dieser Art nicht mehr teilnehmen. Während der Heimfahrt auf der Küstenstraße hatte sie im Anblick der aufgehenden Sonne entschieden, sinnvollere Wege für sich zu finden.
Die Ältere tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
„Du hast so viele Chancen hier“, fuhr sie fort. „Manchmal frage ich mich…Ich meine…Im nächsten Jahr wirst du dreißig.“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, entgegnete die Jüngere.
„Ich will dir nicht zu nahe treten“, schränkte die Schwägerin ein. „Aber dennoch…Morgen bist du doch wieder bei Victor eingeladen. Abschiedsabend. Von Frau zu Frau gesprochen: Wäre der nicht eine ideale Partie? Aristokrat aus besten französischen Kreisen, Besitzer eines stattlichen Anwesens am Place des Palmiers, dazu in einer pittoresken Landschaft mit wohltuendem Klima. Und wie ich gehört habe, hat er ein Faible für deutsche Literatur und Musik. Das alles kommt dir doch entgegen…Oder stört dich seine Gehbehinderung?“
Malwida schüttelte heftig den Kopf.
„Damit hättest du auch wenig zu schaffen, hat er doch genügend Geld, um jede nur mögliche Betreuung sowie die Beschaffung von Hilfsmitteln zu regeln.“
„Bitte, Caroline, lassen wir dieses Thema.“
„Ist ja schon gut. Vergiss meine Worte…Ich sehe, du hast dein Muslinkleid angezogen und die Tasche gepackt. Das heißt, du machst heute einen Ausflug.“
„Richtig.“ Malwida war erleichtert.
„Dieser Tag gehört den Fischersleuten und dem Meer.“
„Hätte ich mir ja denken können, dass es dich da noch einmal hinzieht. Lass dir von Johanna Brot und Käse einpacken.“
„Mach ich, du Liebe. Sicherlich machst du jetzt gleich deinen Spaziergang, solange es noch nicht so heiß ist.“
„Ich mache mich bald auf den Weg. Wir sehen uns beim Abendessen zusammen mit Herrn Ludwig und den Knaben. Die werden von ihrer Exkursion auf die Halbinsel einiges zu erzählen haben.“
„Hoffentlich nicht wieder, dass einer vom Esel gefallen ist!“, lachte Malwida und griff nach Sonnenhut und Leinentasche, die auf einem Stuhl bereit lagen. Sie ging um den Tisch herum, beugte sich zu Caroline herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Flackerndes Licht warf dunkle Schatten auf die Gesichter. Nach literarischen und musikalischen Darbietungen im Salon hatte sich der kleine Kreis in Korbsesseln auf der Terrasse niedergelassen, die stufenlos in den üppig grünen Garten führte. Herrlich duftende bengalische Rosen rankten in langen Kränzen an zwei Säulen, sanft beleuchtet von vereinzelten Öllampen.
Nicht nur die Abende mit diesen lieben Menschen würden ihr fehlen, auch Victors Nähe. Er saß zu ihrer Linken und wies gerade den Kammerdiener an, Tee und Gebäck zu servieren. Es war, als spürte sie seine Zuneigung körperlich. Sie dachte an sein Angebot. Heute würde er nach ihrer Antwort fragen. Ein verlockender Gedanke, den Aufenthalt im Süden zu verlängern und in diesem Hause zu wohnen, in gediegenem Ambiente mit reichlich ausgestatteter Bibliothek und einem Garten zum Träumen. Nie zuvor hatte sie ein so angenehmes und anregendes Leben geführt. Caroline hatte Recht gehabt, es war, als sei sie aufgeblüht. Nie war sie so frei gewesen.
Doch wirklich frei?
War da nicht ein zartes Pflänzchen in ihrem Herzen? Das hatte den langen Winter überstanden und begann sich wieder zu regen. Je näher der Tag der Abreise kam, desto intensiver erinnerte sie sich an den Herbsttag des vergangenen Jahres, wie überrascht sie gewesen war, als Theodor in aller Herrgottsfrühe am Postwagen gestanden und ihr zum Abschied Blumen mit einem Umschlag überreicht hatte. ‚Seine Gedanken lassen ihn keinen Schlaf finden’, stand darauf und darin lag ein Gedicht, ein ihr gewidmetes Sonett voller Liebe, Sehnsucht und Hoffnung.
„Wie freue ich mich, dass ihr heute wieder meine Gäste seid“, begann der Hausherr. „Ich danke euch für eure Vorträge, Isabel für die Rezitation der Goethegedichte, Pauline für das Klavierspiel und dir, Malwida für deinen unvergleichlichen Gesang.“
Sein Blick blieb an ihren Augen hängen.
„Weniger erfreulich ist der Anlass.“
Er nahm ihre Hand in die seine und sah sie sehnsüchtig an.
„Muss es denn wirklich sein, liebe Malwida?“
Sie spürte Tränen aufsteigen und entzog ihm ganz sachte ihre Hand.
„Entschuldigt mich bitte.“ Es fiel ihr schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie stand auf und lief zur Tür hinaus auf den Place des Palmiers.

www.renatehupfeld.de

Letzte Aktualisierung: 22.09.2006 - 19.32 Uhr
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