Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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September 2006
Ein Leben
von Christine Hettich

Wie alles begann
Es fing ganz harmlos an. Gedächtnislücken!
Damit kann man leben, dachte ich. Meine Tochter sah das anders. Sie schleppte mich in eine Klinik. Dort sollte ich eine Uhr malen und lauter absurde Tests über mich ergehen lassen. Danach fiel die Diagnose: Alzheimer im Frühstadium. Es traf mich wie das Fallbeil einer Guillotine. Ich fühlte nur noch eine große Leere in mir. Mein Geist sollte mich also verlassen, während mein Körper weiterhin funktionieren würde. Wie kann man eine solche Vorstellung ertragen? Trübe Gedanken kamen aus den Tiefen meiner Seele empor.

Der Widerstand
Meine wahre Natur ist die einer Kämpferin. Noch waren die Mechanismen meines Denkens nicht entgleist. Ich war lediglich vom ICE in einen Bummelzug umgestiegen. Warum sollte ich nicht die Gelegenheit nützen und ein letztes Mal die verschiedenen Etappen meines Lebens durchgehen? In mir reifte langsam die Idee, so viele Eindrücke und Erinnerungen wie möglich in meinem Hirn aufzunehmen. Vielleicht ließe sich auf diesem Weg so etwas wie ein kleiner Vorrat einrichten für die Tage, an denen mein Geist anfangen würde, sich davonzumachen. Meine Tochter war von dieser Idee begeistert und schlug mir eine gemeinsame Reise vor. Sie würde mich an all die Orte, die eine größere Rolle in meinem Leben gespielt hatten, begleiten. An einem warmen Frühlingstag verließen wir meine Wahlheimat, die Stadt der Buddenbrooks.

Der Aufbruch
Unsere Tour soll in Heidelberg beginnen, meiner Geburtstadt. Das Haus, in dem ich eine glückliche Kindheit verbracht hatte, kommt mir fremd vor. Ich versuche, mich zu erinnern. Die Zeiten waren hart gewesen, so kurz nach dem Krieg, doch meine Eltern besaßen einen unerschütterlichen Optimismus, einen festen Glauben an das Gute im Leben. Das ist die Philosophie der einfachen, aufrichtigen Menschen. Inzwischen ist alles anders geworden, schneller, unpersönlicher. Als Vater starb, hatte ich mir gerade mal zwei Tage freigenommen. Der Zeitpunkt war nicht günstig. Ich hielt damals eine Reihe von Vorlesungen über die Französische Revolution. Das war mein Spezialgebiet.
„Ob du zum Schloss gehen möchtest, habe ich gefragt Mama.“
Die Stimme meiner Tochter holt mich in die Gegenwart zurück. Ich will einfach „ja“ sagen, doch im Moment fällt mir das Wort nicht ein und so nicke ich nur. Als ich Verena frage, ob wir noch zu meiner früheren Uni fahren können, schaut sie mich merkwürdig an und antwortet sanft: „Aber Mama, da waren wir doch bereits.“

Weitere Etappe
Am nächsten Tag setzen wir unsere Reise nach Freiburg, die Stadt der Bächle, fort. Dort habe ich Karl, den Mann meines Lebens, kennen gelernt. Wenn ich an ihn denke, legt sich eine Aura der Traurigkeit um meine Seele. Es ist nicht vielen Menschen vergönnt, solch eine tiefgründige Liebe zu erleben, wie die Unsrige es war. Die Einsamkeit, in die mich sein Tod stürzte, war kaum erträglich. Bedrücktheit steigt in mein Herz, die Erinnerungen schmerzen mich. Ich stelle mir die Frage, ob es nicht auch eine gewisse Erlösung mit sich bringen würde, gar keine Gedanken mehr zu haben. „Nein, nein, niemals“, schreit eine Stimme in meinem Kopf, „das werde ich nicht zulassen. Ich will lieber Kummer erleben als gar nichts mehr zu spüren. Ich werde meinen Geist noch dermaßen mit Empfindungen voll stopfen, dass ich bis zum Ende meiner Tage daran zehren kann.“
„Mama, bitte, du musst etwas leiser sein.“
Meine Tochter behauptet, ich hätte laut geredet. Unsinn! Ich bin doch nicht verrückt.

Frankreich
Die folgende Etappe unserer Reise befindet sich in Frankreich, unweit von Grenoble, in Vizille. Es handelt sich um das Museum der Französischen Revolution.
Es ist in einem prunkvollen Schloss untergebracht. Wir schlendern zuerst durch den Park, entlang der Wasserstellen mit den zahlreichen kleinen Kanälen. Den Rosengarten erahnen wir von Weiten, so betörend ist sein Duft. Ich muss an den kleinen Prinzen denken und an seine einzigartige Rose. Ob sie wohl wieder vereint sind? Ob auch Karl und ich uns wiedersehen werden? Mein Mann war zeit seines Lebens ein überzeugter Atheist. Ich zähle mich eigentlich ebenfalls dazu, aber wer weiß, vielleicht gibt es doch so etwas wie eine übergeordnete Macht. Zwei Seelen, die sich dermaßen geliebt haben wie unsere, finden womöglich allein durch die Kraft der Liebe wieder zueinander.
In den Innenräumen bleibe ich vor einem Danton-Portrait stehen.
„Was waren Dantons berühmte Worte vor der gesetzgebenden Versammlung 1792?“, frage ich mein kleines Mädchen. Das flutscht einfach so aus mir heraus. Ich kann nicht verstehen, dass ich mir mühelos solch eine Jahreszahl merken kann, dafür aber oft nicht mehr weiß, was ich vor gerade fünf Minuten getan habe.
„De l´audace, encore de l´audace, toujours de l´audace. Das war, so scheint mir, auch dein Motto Mama.“
Ja, sie hat Recht, ich bin immer ziemlich wagemutig gewesen.
Am Ausgang fällt mein Blick auf ein Gemälde: Napoleon in seiner ganzen Pracht. Ich muss schmunzeln.
„An was denkst du gerade, Mutter?"
„Kannst du dich an deine Wellensittiche erinnern?"
„Aber natürlich, Napoleon der Erste und Napoleon der Zweite.“
„Hat nicht sehr lange gelebt der Zweite“, sage ich grinsend.
„Wahrscheinlich wollte er den wahren Fakten entsprechen“, lacht meine Tochter.
„Napoleon der Dritte hat Papa verhindert.“
„Da hat er ganz schön in die Geschichte eingegriffen, was?"
„Ich glaube er war es leid immer den Käfig putzen zu müssen.“
Wir lachen so laut, dass sich die Leute umdrehen. Ich falle Verena in die Arme. Warum kann diese Umarmung nicht ewig dauern, dann wäre ich auch bereit, alles Weitere zu akzeptieren. Ich will versuchen, sie in meinen Zellen zu speichern und wenn alles aus meinem Gedächtnis weichen sollte, kann mir denn nicht zumindest die Liebe bleiben?

Die Stadt auf dem Wasser
Wir müssen in Venedig sein, denn wir sitzen in einer Gondel. Still und leise gleitet sie über das Wasser. Ich habe keine Ahnung, wie wir hierher gelangt sind und traue mich nicht, Verena zu fragen. Ich habe das Gefühl, dass für mich die Sonne langsam schwarz wird, es ist die Farbe der Bedrohung, des nicht Greifbaren. Ich erkenne die Rialto-Brücke, auch den Markus-Platz. Ich soll hier gewesen sein auf meiner Hochzeitsreise. Ich entsinne mich, Bilder laufen in meinem Kopf ab. Ich höre Karl singen: “Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur. Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr.“ Er war ein Schiller-Fan, mein Mann.

Das Wesen des Schmerzes
Ich möchte die Reise abbrechen. Dies ist unvermeidbar, da ich immer deutlicher spüre, wie knapp die Zeit wird. Mehr und mehr fällt mein Geist unter die Macht tragischer Monster. Wie gesagt, ich bin eine Kämpferin, ich habe lange Zeit versucht, sie zu besiegen oder zumindest auf sicherer Distanz zu halten. Als nichts mehr half, wollte ich sogar mit ihnen verhandeln, doch auch mit diesen verzweifelten Versuchen bin ich kläglich gescheitert. Sie kommen mir stets ein Stück näher. Manchmal kann ich sie sogar anfassen. Es ist, als ob man das Wesen des Schmerzes berühren würde. Meine Welt hat sich verändert. Sie scheint nun in zwei Teile gespalten, ein Äußeres und ein Inneres aber keines hat mehr zu dem anderen Zugang. Zunehmend fühle ich mich in mir selbst wie gefangen.

Zurück in Lübeck
Wir sind wieder zu Hause. Nun sitze ich in Verenas früherem Kinderzimmer.
„Ach, hier bist du, geht es dir gut Mama?"
„Weißt du noch, Liebes, als du klein warst und nie einschlafen wolltest? Tausend Mal kamst du zurück ins Wohnzimmer.“
„Kein Wunder, bei deinen skurrilen Gute-Nacht-Geschichten“. Bei diesem Satz fängt sie herzlich zu lachen an.
„Wieso, was war damit?"
„Also, während meine Freundinnen mit Pumuckl und Sandmännchen aufgewachsen sind, hörte ich so was wie „der Tod“, oder „der Weg zum Friedhof“, von Thomas Mann. Ich erinnere ebenfalls an die ganze Palette der Edgar Allan Poe Werke, von deinem Lieblingsthema ganz zu schweigen. Da ging es schließlich nicht nur um „Liberté, Égalité, Fraternité“, sondern es sind auch jede Menge Köpfe gerollt.“
„Aber du liebtest doch diese Geschichten.“
„Sicher, Mama, ich liebte sie und noch viel mehr liebte ich die leidenschaftliche Art in der du sie erzähltest. Und mit diesem Schelmenblick der ihr aus ihrer Kindheit geblieben ist, fügt sie hinzu: „Aber mit Robespierres Kopf unter dem Bett kann man nicht mehr einschlafen.“

Die Entfernung
Die Welt da draußen entfernt sich immer mehr von mir, oder umgekehrt, wer weiß das schon. Um wenige Zeilen zu schreiben benötigte ich inzwischen Stunden. Das glaube ich zumindest, habe aber keine vernünftige Vorstellung von Zeit mehr. Es handelt sich um etwas, das früher einmal wichtig war.
Früher.
Ich werde meine Gedanken nicht mehr lange auf Papier bringen können. Ich merke, dass die Gespenster, mit denen ich meinen Geist teilen muss, jetzt auch meine Schrift infiltrierten. Es ist ein neuer Raum in den ich mich hineinbegebe. Heute morgen hat sich eine alte Frau in meinem Zimmer aufgehalten, ihre Augen waren glanzlos, ohne Ausdruck. Ich habe versucht mit ihr zu sprechen, Kontakt aufzunehmen doch sie schaute nur ins Nichts, dorthin wo einst der Spiegel stand.

Der Gang zum Friedhof
Verena und ich sind zum Friedhof gegangen. Ich ahne, dass es mein letzter, bewusster Ausflug sein wird. Wir stehen am Grab meines geliebten Mannes. Ich kann mich vage an eine Inschrift erinnern. Ich bitte meine Tochter, sie mir vorzulesen. „All mein Sehnen will ich, all mein Denken in des Lethe stillen Strom versenken, aber meine Liebe nicht.“ Die Worte erreichen mich, die Stimme meines Kindes kommt mir entfernt vor. „War eben ein Schiller-Fan, der Papa.“
Es ist kalt, ich glaube inzwischen ist es Herbst, oder Winter vielleicht? Ob aus meinem Geist auch so was wie ein Grab wird? Meine Seele ist leer, meine Gedanken verlieren sich. Dennoch spüre ich einen eigenartigen Frieden, dieser Ort strahlt Ruhe aus. Vielleicht kann ich etwas davon aufsaugen.

Letzte Aktualisierung: 03.09.2006 - 14.36 Uhr
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