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September 2006
Bergpredigt
von Luzia Fischer

Wolfgang studierte aufmerksam die Wandertafel. Mit dem Zeigefinger tippte er auf ein grau eingezeichnetes Kästchen. „Alles klar, … wir befinden uns hier.“
Lydia blickte interessiert in die entgegengesetzte Richtung, zu den Souvenirständen, die sich außerhalb des Parkplatzes aneinander reihten. Dort wurden kleine Brocken vom Kreidefelsen, Feuersteine und Bernsteinschmuck angeboten. Wolfgangs Vater hatte sie gebeten, ein Kreidestück von den berühmten Felsen mitzubringen.
Wolfgang betrachtete die gelbe kurvige Linie auf der Tafel. „Der Weg führt zuerst hinauf bis zur Aussichtsplattform“, murmelte er.
„Von dort aus geht es über den Gipfel und dann hinunter zum Meer. Wir laufen am Ufer entlang bis zum Sassnitzer Hafen und fahren später mit dem Bus zum Parkplatz zurück.“
Das dunstige Licht verschwand allmählich und ein paar Sonnenstrahlen sickerten durch den grauen Morgenhimmel. Lydia fröstelte in ihrem leichten Sommerkleid. Sie wollte nur dieses Mitbringsel für ihren Schwiegervater kaufen und danach mit dem Wagen weiter.
Eine Gruppe von Leuten zog an ihnen vorbei, ausgerüstet für eine Bergwandertour, mit Trekkingschuhen, Kniebundhosen und Rucksack.
Ihr Stöcke klapperten auf dem unbefestigten Schotter.
„In knapp vier Stunden müssten wir die Strecke geschafft haben.“
Lydia vergaß die Stände und betrachtete entsetzt ihren Mann.
„Du meinst das nicht ernst, oder? Ich bin überhaupt nicht für eine Bergwandertour angezogen!“
Wolfgang schaute sie von oben herab an. „Für die paar Meter brauchen wir keine Ausrüstung. Das schaffst du schon.“
Sie zeigte auf die Gruppe Wanderer, die gemächlich auf die grüne Anhöhe zumarschierte.
„Was haben dann diese Leute vor?“
„Meinst du die Flachlandtiroler? Für die ist ein Hügel von zweihundert Metern schon ein Berg. Komm, lass uns aufbrechen! Für ein lumpiges Stück Kreide gebe ich doch kein Geld aus.“
Er lief voraus.
„Das ist keine gute Idee, Wolfgang. Wir wollten doch mit dem Wagen zum Hafen, … dann mit dem Schiff…“
Wolfgang reagierte nicht. In seinen Gedanken war er längst auf dem Kreidefelsen. Lydia stakste widerwillig in ihren Riemchensandalen hinter ihm her, während er
vorneweg lief und begeistert die Schönheiten der Natur lobte. Der Abstand wurde immer größer.

Alle paar Meter musste sie stehen bleiben, um kleine Steinchen aus ihren Sandaletten zu schütteln. Als sie sich aufrichtete, war Wolfgang verschwunden.
„Rücksichtsloser Sturschädel!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf und sah sich ratlos um.
Der Weg teilte sich. Spontan entschied sie sich für die rechte Abzweigung und hastete schimpfend weiter.
„Besserwisser … Volldepp … Blödmann!“
Lydia stolperte über Wurzeln und abgebrochene Zweige.
„Egoistisches Arschloch … Scheißkerl!“

Der Trampelpfad schlängelte sich durch uralte Laubbäume und hohe Büsche. Der Waldboden wurde feucht und glatt. Lydia schlitterte vorwärts und klammerte sich hastig an einen herabhängenden Ast. Angestrengt schnappte sie nach Luft, während sie sich weiter krampfhaft festhielt. Etwas Schwarzes, Zappelndes seilte sich von oben ab und stoppte ruckartig vor ihren Augen. Lydia ließ kreischend los. Der Ast federte zurück, knallte erst an ihr Kinn und schrammte über ihr ganzes Gesicht.
Ein spitzer Aufschrei. Sie rutschte weg und landete unsanft auf einer knüppeldicken Baumwurzel.

Mit breit gegrätschten Beinen saß sie da und wusste nicht, ob sie laut fluchen oder sich bedauern sollte.
Alles war still. Nur der Wind säuselte hämisch in den mächtigen Ästen. Niemand kreuzte ihren Weg.
Lydia blickte sich ängstlich um und schluchzte auf.
Die Wimperntusche verteilte sich langsam über ihr Gesicht. Fahrig wischte sie sich über die Augen und betrachtete niedergeschlagen ihre ramponierten Sandaletten.
Ihre sonst gepflegten Hände sahen schmutzig aus, und verdammt! Ein Fingernagel war eingerissen.
Ihre Niedergeschlagenheit verwandelte sich in unbändige Wut. Sie war zornig auf Wolfgang, weil er nie zuhören konnte. Seine Sturheit brachte sie zur Raserei. Er entschied rücksichtslos über ihren Kopf hinweg und musste immer seinen Willen durchsetzen.
Im nächsten Moment sprang Lydia schreiend hoch und zappelte wild herum. Es kribbelte am ganzen Körper. Sie waren überall, kleine lästige Biester. Es brannte schmerzhaft an ihren Armen und Beinen. Mit fuchtelnden Handbewegungen streifte sie die Waldameisen ab und ergriff schließlich die Flucht.

Lydia stolperte weiter. Ihre Gedanken verdunkelten sich noch mehr, verfärbten sich geradezu schwarz.
„Von wegen Schönheiten der Natur!“, regte sie sich auf. „Ich pfeif auf die Natur und ihr Ungeziefer!“
Nach der nächsten Biegung mündete der Pfad wieder in den Hauptweg. Zuerst verspürte sie Erleichterung, dann erneute Wut.
Weit vorne sah sie Wolfgang. Sie erkannte ihn sofort an seiner massigen Statur und der Art, wie er sich bewegte.
Lydia brabbelte in sich hinein.
„Wie der Mann schon läuft! Wie ein Neandertaler, der gerade den aufrechten Gang entdeckt hat.“
Sie machte ihn nach. Ließ ihre Arme seitwärts nach unten hängen, während sie sich schwerfällig von einem Bein auf das andere plumpsen ließ. Ihr Kopf ruckte bei jedem Schritt erst vor und dann zurück.
Er drehte sich nicht einmal um, als würde es ihn nicht interessieren, ob sie ihm folgte.
Es knackte kurz. Der Absatz an einer Sandalette war abgebrochen. Sie verlor den Halt, knickte um und spürte ein scharfes Stechen in ihrem Knöchel.
Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie weiter. Lydia gab sich alle Mühe, ihn einzuholen. Sie konnte es nicht erwarten, ihm ins überhebliche Gesicht zu schreien, dass sie seine Sturheit endgültig satt hatte.

Wolfgang stand nahe am steilen Abhang und blickte gebannt nach unten, auf das Ufer. Dort lagen sie. Unzählige Kreidebrocken, zwischen grauen Feuersteinen und leuchtenden Kieseln.
Entschlossen trat sie hinter ihn, die Hände geballt.
„Ich werde nicht weitergehen!“, herrschte sie ihn mit hoher Stimme an.
Keine Antwort.
Lydia bebte am ganzen Körper.
„Hast du gehört? Ich werde keinen Schritt mehr laufen!“
Endlich wandte er sich ihr zu und musterte sie halb entsetzt, halb amüsiert.
Barfüssig stand sie vor ihm und funkelte ihn an. Ihre Haare waren zerzaust, das Gesicht verschmiert, die Arme und Beine mit roten Pusteln übersät.
„Durch welches Unterholz bist du denn gerobbt?
Wutentbrannt hielt sie ihm die Sandaletten hin.
„Deinetwegen sind sie ruiniert! … Ich habe mir einen Fingernagel eingerissen, wurde von widerlichen Ameisen angegriffen und mein Knöchel ist verletzt!“
Wolfgang brach in polterndes Gelächter aus. Bevor er einen Schritt zurück machte, schüttelte sich sein schwerer Körper vor Lachen. Es blieb ihm im Hals stecken, sein Gesicht erstarrte, und er ruderte wild mit den Armen.
Seine Füße rutschen nach hinten weg, er plumpste bäuchlings über den Abhang und schlitterte nach unten.
Lydia starrte ungläubig zu der Stelle, wo ihr Mann eben noch gestanden hatte. Vorsichtig trat sie an die Kante. Wolfgang klammerte sich verzweifelt an einem mickrigen Strauch fest. Das kurze Gestrüpp in den Händen sackte er ruckartig, Stück für Stück, tiefer, bis eine stämmige Birke seine Rutschpartie stoppte.
Zitternd und kreidebleich richtete er seinen Oberkörper auf, ganz langsam und vorsichtig. Mit großen Augen stierte er entsetzt zu ihr hinauf. Sein lautloser Mund formte ein Wort: „Hilfe!“

Nachdenklich betrachtete sie ihren Ehegatten. Seltsam. Er wirkte schmaler, kleiner.
Ihr erster Gedanke war schnellstens Hilfe zu holen. Dann entschied sie sich anders. So lange er sich nicht bewegte, konnte ihm nichts passieren.
Jetzt musste er ihr zuhören.



Letzte Aktualisierung: 23.09.2006 - 14.38 Uhr
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