Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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September 2006
Das kleine, hutzelige MĂ€nnchen macht Urlaub
von Esther Schmidt

Es war einmal ein kleines, hutzeliges MĂ€nnchen, das lebte in einem hohlen Baum tief im grĂŒnen Wald. Jeden Abend saß es auf der Bank neben seiner TĂŒr, rauchte sein Maispfeifchen und ließ den Duft des Tabaks behaglich in die BĂŒsche schweben. Meistens gesellte sich dann das Eichhorn zu ihm, und sie unterhielten sich ĂŒber alles schöne, was ihnen Freude machte und alles trĂŒbe, was sie traurig stimmte.
„Kleines, hutzeliges MĂ€nnchen“, sagte das Eichhorn einmal. „Jedes Mal, wenn ich zu deinem Baum komme, mag es sein, wann es will, finde ich dich hier auf deiner kleinen, hölzernen Bank sitzend und dein Maispfeifchen rauchend.“
„Das ist wahr“, antwortete das MĂ€nnchen und nickte bedĂ€chtig.
„Bist du niemals fort gewesen?“, fragte das Eichhorn.
„Warum sollte ich denn fort gehen?“, fragte das MĂ€nnchen zurĂŒck und schĂŒttelte den Kopf. „Habe ich nicht alles, was ich brauche? Meine Bank ist hier, mein Baum, mein Pfeifchen und mein Freund, mit dem ich mich unterhalten kann.“ Dabei sah es das Eichhorn vielsagend an.
Das Eichhorn wurde recht verlegen und freute sich ĂŒber die Worte des kleinen, hutzeligen MĂ€nnchens. Dennoch genĂŒgte ihm die Antwort nicht. Es lebte am Rande des Waldes und manchmal sprang es in den GĂ€rten der Menschen umher um ihr Tun zu beobachten.
„Viele Menschen gehen fĂŒr eine Weile in die Welt hinaus und kommen dann zurĂŒck. Sie nennen es ‚Urlaub machen’.“
„Warum tun die Menschen das?“, fragte das MĂ€nnchen.
„Weil sie etwas lernen, wenn sie viel von der Welt sehen“, entgegnete das Eichhorn. Das erschien dem kleinen, hutzeligen MĂ€nnchen sehr klug, und so beschloss es, ebenfalls Urlaub zu machen.
So packte es seine Siebensachen: Sein Niespulver, sein Taschentuch, seinen Sonnenhut, seinen Regenschirm, seinen Tabak und sein Pfeifchen. Und dann legte es noch eine Nuss hinzu, denn sonst wÀren es ja nur sechs Sachen gewesen. Das alles band es in das Taschentuch und machte sich munter auf den Weg.

Bald erreichte das kleine, hutzelige MĂ€nnchen eine große Stadt. Als es auf dem Marktplatz stand, staunte es nicht schlecht ĂŒber die fremden und bedeutsamen Dinge, die es sah. Am meisten aber staunte es darĂŒber, dass so viele Leute auf den Straßen unterwegs waren.
„Wie viele Menschen es gibt!“, sagte es verwundert, „viel mehr, als man zĂ€hlen kann!“
Es dachte an seinen Baum, den niemand mit ihm bewohnte, und an seinen Wald, den niemand mit ihm teilte, und plötzlich kam es sich sehr einsam vor. Hier gab es so viele Menschen, die alle miteinander reden konnten. Das MĂ€nnchen hatte nur das Eichhorn, das mit ihm auf der Bank saß, und auch das kam nur am Abend, denn es hatte sein eigenes Nest hoch oben in den Baumwipfeln. Diese Menschen hier lebten nahe zusammen in einer großen Stadt, und es erschien dem MĂ€nnchen selbstverstĂ€ndlich, dass sie alle gute Freunde sein mussten.
Aber seltsam, die Menschen saßen weder auf BĂ€nken, noch redeten sie miteinander. Statt dessen liefen sie durcheinander. Jeder von ihnen schien ein eigenes, geheimnisvolles Ziel zu haben, so wie die Ameisen, die ĂŒber ihren HĂŒgel huschen, alle beisammen und doch jede fĂŒr sich. Das kleine, hutzelige MĂ€nnchen begann sich zu fragen, wohin denn jeder von ihnen so dringend wollte, und warum der eine dorthin strebte, wo ein anderer gerade her kam. Gab es denn nicht einen Ort, wo sie alle sein wollten?
Da bemerkte das MĂ€nnchen eine Handvoll Leute, die einem gleichen Ziel zustrebten, und beschloss, ihnen zu folgen.
Mitten in der Stadt erreichten sie einen großen Garten mit Wiesen und BĂ€umen. Hier gefiel es dem kleinen, hutzeligen MĂ€nnchen viel besser, als auf den grauen Straßen zwischen den eckigen HĂ€usern. Aber die Leute ließen sich nicht auf den grĂŒnen Wiesen des Gartens nieder, sondern liefen immer weiter hinein. So ging auch das MĂ€nnchen hinterher. Mehr und mehr Menschen gesellten sich zu ihnen, und das MĂ€nnchen war schon sehr gespannt, was es am Ziel des Weges, finden wĂŒrde.
Schließlich gelangten sie an einen Zaun, der war aus Holz und Draht gebaut, und viele Menschen standen davor und konnten nicht hinein, obwohl sie es gerne wollten. Doch weil das MĂ€nnchen so klein und hutzelig war, konnte es durch ein Loch zwischen den Brettern schlĂŒpfen. Neugierig trat es hinter einen Vorhang und stand plötzlich einem großen Mann mit langen, schwarzen Locken gegenĂŒber. Seine Jacke war ĂŒber und ĂŒber mit glitzernden Steinen benĂ€ht Sie flimmerte und funkelte, dass dem MĂ€nnchen ganz schwindelig wurde.
"Wer bist du denn?", fragte der Mann mit der Glitzerjacke.
"Ich bin das kleine, hutzelige MĂ€nnchen", antwortete das kleine, hutzelige MĂ€nnchen, "und wer bist du?"
"Was? Du weißt nicht, wer ich bin, du Zwerg?" Der Mann in der Glitzerjacke stemmte die HĂ€nde in die Seiten, warf sich in die Brust und schĂŒttelte den Kopf, dass seine schwarzen Locken flogen. "Jeder kennt mich! Ich bin ein Star!" Dann winkte er hochmĂŒtig mit der Hand und zeigte auf die Menschen, die vor dem Vorhang auf der Wiese saßen. "Sieh nur! All diese Leute sind gekommen, nur um mich zu sehen! Ich weiß nicht einmal, wie viele es heute Abend sind! Dort gehörst du hin, nicht hier her, auf die BĂŒhne!"
Das kleine, hutzelige MĂ€nnchen bekam ganz große Augen, und es wurde auch fast ein bisschen neidisch auf den Mann in der Glitzerjacke. Ihn besuchte nur das Eichhorn, aber zu diesem Mann kamen so viele Menschen, dass er sie nicht einmal zĂ€hlen konnte! Der Mann in der Glitzerjacke musste etwas ganz besonderes sein, dass er so viele Freunde hatte.
Plötzlich fĂŒhlte das MĂ€nnchen, dass ihn jemand am Kragen packte und unsanft zu den anderen Leuten auf die Wiese warf.
"Aua!", sagte das kleine, hutzelige MĂ€nnchen, als es neben einem blonden MĂ€dchen auf seinem Hosenboden landete. Das MĂ€dchen hatte leuchtende Augen und rote Wangen.
"Hast du ihn gesehen?", fragte es ganz aufgeregt.
"Ich habe einen Mann in einer Glitzerjacke gesehen", gab das MĂ€nnchen zurĂŒck.
"Oh, wie wunderbar!", jubelte das MĂ€dchen und klatschte begeistert in die HĂ€nde. "Hast du aber ein GlĂŒck!"
"Bist du ein Freund von dem Mann in der Glitzerjacke?", wollte das MĂ€nnchen wissen.
"Oh ja!", nickte das MĂ€dchen. "Ich liiiiebe ihn!"
"Weißt du denn, was er sich zum Geburtstag wĂŒnscht?", frage das MĂ€nnchen. Das blonde MĂ€dchen sah verwundert aus.
"Nein", antwortete es, "das weiß ich nicht."
"Weißt du denn vielleicht, was ihn traurig macht?", wollte das MĂ€nnchen wissen.
"Nein", antwortete das blonde MĂ€dchen, "das weiß ich auch nicht."
"Und weißt du dann aber", versuchte es das MĂ€nnchen noch einmal, "was ihn zum lachen bringt?"
"Nein", entgegnete das blonde MĂ€dchen. "Das weiß ich auch nicht. Du stellst aber komische Fragen."
Da hörte das kleine, hutzelige MĂ€nnchen auf, Fragen zu stellen, denn es hatte verstanden. Es rappelte sich auf, legte seinen Regenschirm mit dem Taschentuchbeutel ĂŒber die Schulter, und nachdem es sich artig verabschiedet hatte, machte es sich auf den Heimweg.

Als das Eichhorn am nÀchsten Tag zum hohlen Baum kam, sah es das kleine, hutzelige MÀnnchen auf seiner Bank sitzen und sein Pfeifchen rauchen.
„Hat dir dein Urlaub gefallen?“, fragte das Eichhorn.
„Nun, nun“, antwortete das MĂ€nnchen. Es wiegte bedĂ€chtig den Kopf. „So und so.“
„Und was hast du gelernt in deinem Urlaub?“, fragte das Eichhorn weiter.
„Ich habe gelernt, dass die Welt sehr groß ist, und dass es so viele Menschen gibt, dass niemand sie zĂ€hlen kann.“
„Das ist sehr klug“, sagte das Eichhorn. „Und was hast du noch gelernt?“
„Ich habe gelernt, dass sogar ein einzelner Mensch so viele Freunde haben kann, dass er sie nicht zĂ€hlen kann.“
„Das ist sehr interessant“, sagte das Eichhorn. „Und was hast du noch gelernt?“
„Ich habe gelernt, dass ein einziger Freund völlig ausreichend ist, wenn es ein [I]richtiger [/I]Freund ist“, sagte das kleine, hutzelige MĂ€nnchen, und sah das Eichhorn ernst an. Da freute sich das Eichhorn und wurde ganz verlegen.
„Da hast du aber wirklich viel gelernt, in deinem Urlaub“, sagte es bewundernd.
„Ja“, sagte das kleine, hutzelige MĂ€nnchen und ließ ein paar Rauchwolken in die Luft schweben. „TatsĂ€chlich glaube ich, dass ich alles gelernt habe, was man wissen muss. Und darum muss ich auch nie wieder Urlaub machen.“

Letzte Aktualisierung: 27.09.2006 - 10.18 Uhr
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