Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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September 2006
Paul
von Marion Pletzer

Aufmerksam beobachtete Dr. Sören Facher seinen Patienten, der abseits von den anderen an einem Tisch saß.
Was geht nur in ihm vor? , fragte er sich zum wiederholten Mal.
Der Mann hielt einen Kohlestift in der Hand, mit dem er in schnellen Strichen über ein Blatt Papier huschte. Seine Finger waren lang und feingliedrig, wie die eines Klavierspielers. Plötzlich hielt er einen Moment inne, wischte dann das Blatt zur Seite und begann von neuem. Auf dem Boden verstreut lagen bereits zahlreiche Zeichnungen.
Seit seiner Einweisung in die Klinik vor vier Wochen hatte er kein Wort gesprochen. Wenn er nicht zeichnete, starrte er vor sich hin. Von den Menschen um ihn herum, nahm er keine Notiz.
Er wirkt wie jemand, der seine Seele verloren hat, dachte Dr. Facher. Er bückte sich und hob einige der Blätter auf. Jede Zeichnung zeigte das Gesicht eines kleinen Mädchens. Mal lachte es fröhlich, mal spiegelte sich Traurigkeit in den dunklen Augen.
Wieso zeichnete er dieses Kind? War es seines?
„Hilf mir, Damiano. Damit ich dir helfen kann“, murmelte er.

Auf dem Weg in sein Büro sann er über eine neue Behandlungsstrategie nach. Es musste einen Weg geben, das Innerste des Patienten zu erreichen.
Jeder Mensch entwickelt Schutzmechanismen, um mit traumatischen Erlebnissen fertig zu werden. Diese zu entdecken und den Menschen die nötigte Hilfe zu geben, war die Herausforderung, die er an seinem Beruf liebte.
Der Arzt rief sich das Telefongespräch in Erinnerung, das er mit Damiano Portos Vater geführt hatte. Wieso war der Mann seinen Fragen ausgewichen? Und warum erhielt Damiano niemals Besuch?
Nach einiger Ãœberlegung entschied er, am Abend die Familie Porto aufzusuchen.
Möglicherweise erfuhr er bei einem persönlichen Gespräch was dahinter steckte.

Am nächsten Morgen erschien Damiano Porto pünktlich in Dr. Fachers Behandlungszimmer.
„Bitte setzen Sie sich.“ Widerstandslos gehorchte Damiano. Seine schmale Gestalt verschwand fast in dem mächtigen, schwarzen Ledersessel.
Der Arzt beugte den Oberkörper vor und verschränkte die Finger ineinander. Hoffentlich klappte sein Plan.
„Herr Porto, ich habe gestern ihre Familie besucht.“
Damianos Gesicht zeigte keine Regung. Den Kopf halb gesenkt, verlor sich sein teilnahmsloser Blick in dem dunklen Muster des Kelim-Teppichs.
„Ihre Mutter hat mir etwas für Sie mitgegeben.“ Sören Facher nahm einen braunen Stoffhund vom Schreibtisch und hielt ihn dem Patienten hin. Damiano starrte weiter auf den Teppich. Nach einer Weile hob er die schlaff in seinem Schoß liegenden Hände und ergriff den Hund. Langsam begann der den weichen Stoff zu kneten,
führte das Kuscheltier an seine Nase und atmete den Geruch ein.
Unerwartet formten seine Lippen ein Wort. Lautlos.
„Paul“, wiederholte er. Seine Stimme klang krächzend, als hätte er Jahre nicht gesprochen.
Paul. Ella. Bilder schoben sich vor sein geistiges Auge.

Damiano schaute in den Rückspiegel. Ella schlief, das Gesicht halb in ihren Schmusehund Paul vergraben.
Sie wirkte so zerbrechlich. Ihre Wangen schimmerten rosa, wie die Malven im Garten des Hauses in Florenz. Er lächelte. Alles würde gut werden.
Er konzentrierte sich auf die Straße. Lichter blendeten ihn und er kniff die Augen zusammen.
Ich muss eine Pause machen, sonst schlafe ich ein, dachte er. Ein Schild wies auf den nächsten Rastplatz hin. Damiano drehte das Radio lauter und summte leise mit.

Auf dem Rastplatz standen nur wenige Autos. Trotzdem parkte er abseits. Dort, wo die Laternen nur spärliches Licht warfen.
Bevor er die Lehne seines Sitzes nach hinten klappte, schaute er nach Ella. Ihre Decke war verrutscht. Sorgfältig zog er sie über das schlafende Kind. Ohne den laufenden Motor würde es im Wagen schnell kalt.

„Papi!“ Damiano schreckte auf, als Ellas verschlafene Stimme in sein Bewusstsein drang.
„Was ist denn, Piccolina?“
„Ich muss Pipi. Und ich habe Durst. Sind wir schon da?“
„Nein. Papi braucht eine Pause. Wir fahren gleich weiter.“
„Ich will zu Mami!“
„Bald.“ Damiano kramte in einem Rucksack herum, der im Fußraum lag. „Hier ist Saft. Möchtest du einen Riegel?“
„Erst Pipi machen.“
„Na schön.“ Er reckte sich und sah auf die Uhr. 4.30 Uhr. Drei Stunden hatte er geschlafen. Das musste reichen. Bald würde es hell. Er half Ella beim Aussteigen und brachte sie hinter ein Gebüsch.
Wenige Minuten später schnallte er sie in ihrem Kindersitz fest und drückte ihr den Saft und den Müsliriegel in die Hand. Dann fuhr er los.

(K)„Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Seit gestern wird die fünfjährige Ella Porto vermisst. Sie wurde am Abend von ihrem Vater nicht nach Hause zurückgebracht. Da die Eltern seit einiger Zeit getrennt leben, fürchtet die Mutter des Kindes, dass er versuchen wird, die Tochter nach Italien zu entführen. Kindesentziehung ist eine Straftat, die - .“(/K)
Verdammt! Damiano stellte das Radio ab. Bis zur österreichischen Grenze benötigte er mindestens noch zwei Stunden. Wenn jetzt schon die Meldung im Radio lief, würde er es nie nach Italien schaffen.
Verdammt! Verdammt! Er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
„Was ist denn, Papi?“, nuschelte Ella zwischen zwei Bissen.
„Nichts.“
Auf dem nächsten Rastplatz hielt er an.
„Ich komme sofort wieder.“ Wenige Schritte neben dem Wagen blieb er stehen und tippt eine Nummer in sein Handy.
„Patricia? Ich bin’s.“
„Damiano, endlich! Wo bist du? Geht es euch gut?“
„Ja, ja. Hör zu! Du musst mir helfen. Ich fürchte, ich komme mit Ella nicht über die Grenze. Können wir für eine Weile bei dir bleiben? Bis sich alles beruhigt hat.“
„Beruhigt? Du spinnst. Bring Ella zurück. Dann wird sich alles aufklären.“
„Nein!“ Er schrie fast. „Cornelia wird sie mir wegnehmen. Für immer. Kapierst du das nicht?“
„Damiano, beruhige dich. Cornelia ist am Ende. Sie hat entsetzliche Angst. Rede mit ihr!“
„Ist mir scheißegal, wie es der geht. Reden? Das versuche ich seit Wochen. Bist du eigentlich meine Schwester oder ihre?“, zischte er in den Hörer. Ein Pärchen beobachtete ihn bereits.
„Patricia, ich muss weiter“, drängelte er.
„Na schön, kommt her. Wir reden hier.“
Damiano sprang ins Auto und fädelte sich in den fließenden Verkehr. Nur nicht auffallen.
Seine Hand tastete nach der Straßenkarte. Aus den Augenwinkeln orientierte er sich und suchte den schnellsten Weg zu Patricias Wohnort.
Nach einer Weile verließ er die Autobahn und wechselte auf eine Landstraße. Es begann zu regnen.
„Papi, wo ist Mami? Ich will zu Mami.“ Ella quengelte.
„Wir sind bald da.“
Plötzlich tauchte im Rückspiegel ein Polizeiwagen auf.
Wie konnten sie ihn so schnell finden?
Seine Hände umklammerten das Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervortraten. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer.
„Ihr dürft sie mir nicht wegnehmen“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Damiano trat das Gaspedal durch. Der Wagen schoss vor. Die Nadel auf seinem Tacho wanderte: 100, 120, 140 Stundenkilometer.
„Ich will zu Mami!“ Ella weinte. Ihre Hände patschten auf
den Kindersitz.
„Ella, hör auf!“ Ihr leises Schluchzen nahm er nur am Rande wahr.
Gab es denn hier nirgendwo eine Abzweigung? Er musste von der Hauptstraße runter.
Die Straße machte einen Bogen. Für einen Moment verschwand er aus dem Blickfeld der Polizei. Ein Feldweg. Damiano bremste hart, die Reifen quietschten. Sie verloren die Haftung auf dem nassen Asphalt.
Nein! Oh Gott, dachte er, als der Wagen ins Schleudern geriet. Plötzlich drehte sich alles, die Welt stand Kopf. Lichtblitze bohrten sich in sein Gehirn.
„Mami!“ Ellas Angstschrei endete abrupt. Paul prallte an der Windschutzscheibe ab und landete auf Damianos Brust. Er nahm noch Ellas Geruch wahr, der aus Pauls Fell strömte. Dann verlor er das Bewusstsein.

„Herr Porto? Möchten Sie mir etwas über Paul erzählen?“, fragte Dr. Facher.
Damiano hob den Kopf. Sah ihn an. Zum ersten Mal mit klarem Blick.
„Paul ist hier. Aber Ella ist fort. Ich habe sie getötet.“
Erneut zog sich ein Schleier über seine Augen. Er sprach nie wieder ein Wort.

Letzte Aktualisierung: 23.09.2006 - 14.34 Uhr
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