Bitte lächeln!
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Oktober 2006
Ani’Ma-A
von Susanne Ruitenberg

Ohne Hast schlenderten Jillian und Lennart nach der Schule heimwärts. Niemand wartete dort auf sie, kein warmes Mittagessen stand auf dem Tisch.
„Komm, wir gehen über die Hintergasse, vielleicht ist Minouchia im Garten.“ Jillian zog ihren großen Bruder am Ärmel.
„Du und dein Katzentick. Meinetwegen.“ Lennart versuchte zu lächeln wie ein Erwachsener, der auf ein spielendes Kind herabsieht.
Vor Hausnummer fünf türmte sich Sperrmüll. Lennart stieß einen Pfiff aus. „Die haben aufgeräumt.“
„Was ist das?“ Jillian zog ihren Bruder zum Mount Mobiliar. Sie bückte sich. Unter einem Stapel Zeitungen lag ein Buch. Es hatte einen dunkelgrünen, zerkratzten Ledereinband, der Goldschnitt war fleckig.
„Das nehmen wir mit.“
„Und wenn es jemandem gehört?“ Lennart zog eine Augenbraue hoch.
„Es war doch im Müll.“ Sie hatte es sich bereits unter den Arm geklemmt.
„Du musst mal wieder deinen Kopf durchsetzen.“
„Ach, sei nicht immer so brav.“

Zuhause angekommen, klappte Lennart den Buchdeckel vorsichtig auf.
„Dies sind die Formeln von Helderweirt Borgwegen. Bitte mit Sorgfalt anwenden!“, stand in verschnörkelter Schrift auf der ersten Seite. Lennart blätterte weiter.
„Wow“, entfuhr es ihm. Ihr Fund war eine Schatzkammer! Zeichnungen von Fabelwesen, Formeln, geometrische Figuren, Sternenbilder, Planeten ...
Als er in der Mitte ankam, rief Jillian: „Halt an, was ist das?“
Lennart strich behutsam das Papier glatt. Die Ränder der Doppelseite waren kunstvoll verziert mit dschungelartiger Vegetation, dazwischen verbargen sich Vögel und Tiere. Sie sahen so lebendig aus, als könnten sie im nächsten Moment aus dem Buch spazieren.
Auf der linken Seite stand in riesigen Lettern ‚Nach der Formel von Allem’, rechts ein Gedicht. Jillian beugte sich vor und las laut:

„Ondaria, innen von Allem
hältst die Welten in deiner Hand
bewahre sie, hinab zu fallen
in die Graue Weite, feindliches Land.
Die Burg, sie steht im Lumawald
ich eile zu ihr, ich komme bald
so bitte ich dich, lass mich herein
der Welten-Nomade möchte ich sein.“


Das ist schö...“ Auf einmal vibrierte der Raum, tiefes Summen erklang, als säßen sie im Inneren eines Bienenstockes. Jillian klammerte sich an Lennart. Sie versuchten, wegzulaufen, doch die Luft hatte sich membranartig verdichtet und hielt sie fest. Fremdartige Blätter materialisierten aus dem Nichts und schwebten herab. Der Boden verschwand, sie fielen, fielen ...

Lennart wunderte sich. Warum war das Gras so hoch? Wo war er? Eine beigefarbene Katze stand vor ihm, auf Augenhöhe.
Auf Augenhöhe?
Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, riss sie ihr Maul auf und fauchte. Mit einem erschrockenen „Wuff“ machte Lennart einen Satz rückwärts, landete sicher auf seinen ...
vier Pfoten!
Entsetzt blickte er an sich herunter. Sein Herz hämmerte in einem ihm unbekannten Takt. Beiges Fell. Wie die Katze.
‚Jilli?’
Langsam kam sie auf ihn zu.
‘Len?’
‚Was ist mit uns passiert? Hilfe!’ Er winselte, musste sich beherrschen, um nicht davon zu rennen.
‚Das ist doch lustig!’ Sie machte einen Buckel. ‚Ich wollte schon immer wissen, wie sich eine Katze fühlt.’
Sie beschnupperten sich. Lennart spürte, dass sein Schwanz wedelte. Plötzlich hob die Katze eine Pfote und gab dem Hund eine Kopfnuss.
‚Aua. Was soll das?’ Er klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und ließ die Ohren hängen.
Jillian setzte sich majestätisch hin, leckte ihre linke Vorderpfote ab und putzte sich damit das Näschen.
‚Ich musste es einfach tun.’
‚Das ist nicht witzig, wir sind hier verloren, und du streitest.’
‚Dafür können wir Gedanken hören, außerdem ist es interessant hier.’

Lennart kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr.
‚Lass uns lieber herausfinden, wo „hier“ ist.’

Sie schlängelten sich durch das Gras, bis sie auf einer sandigen Ebene standen. Ein Schmetterling flog vorbei.
Jillian duckte sich, ihr Schwanz peitschte hin und her. Ihr Kinn vibrierte, sie gab kleine Maunzlaute von sich und sprintete los.
‚He, wo willst du hin?’ Lennart hechtete hinterher. Auf einmal bekam er Lust, die Katze auf einen Baum zu jagen. Leider gab es hier keine.
Ein Schatten erschien unvermittelt über ihnen. Etwas Großes schwebte vom Himmel hinab.
‚Deckung!’ Lennart rannte nach rechts, Jillian nach links.
Ein großer Vogel packte den Hund, flog eine Wende, schnappte sich die Katze. Die Geschwister zappelten hilflos, jaulten und kreischten. Sie flogen ins Gebirge, in ein grünes Tal voller Riesenbäume.
‚Len, was macht der mit uns?’ Jillian versuchte, das Vogelbein zu kratzen.
‚Halt still, sonst fällst du.’
Sie schwebten auf eine Baumkrone zu. In einem Nest sperrten vier Jungvögel ihre Schnäbel auf. Die Tiere waren größer als Lennart.
‚Neiiiin, ich bin nicht essbar!’
Jillian schloss die Augen. Der Vogel warf die Geschwister mitten in seine Brut und flog davon. Sofort wurden sie mit Schnabelhieben traktiert. Fauchend schlug Jillian um sich. Len bellte aufgeregt. Seine Angst beflügelte seinen Körper zu akrobatischen Drehungen, er versuchte, nach allen vier Vögeln gleichzeitig zu beißen. Er bekam das Maul voller Federn, die nach Blut schmeckten. Vor seinem inneren Auge sah er sich einen Vogel zu blutigen Klumpen zerfetzen, ihm die Gedärme herausreißen. Der Gedanke erregte ihn, Speichel troff von seinen Lefzen.
Jillian schlängelte sich aus dem Gewühl hinaus und sprang auf den Rand des Nestes.
‚Len, hierher.’
Alle vier Schnäbel konzentrierten sich jetzt auf den Hund.
„WIEEP!“ Der hohe Ton zerrte an seinen eigenen Ohren.
Lennart arbeitete sich zum Rand vor und stellte die Vorderpfoten darauf. Mit den Hinterpfoten versuchte er verzweifelt, empor zu klettern, die Tötungsfantasien verflogen, er dachte nur noch ans Überleben.
‚Hilf mir!’
‚Wie denn, ohne Hände?’
Mit einem Kraftakt stemmte sich Lennart hoch. Unsicher balanciere er auf den Zweigen. Waren Hunde immer so tollpatschig, oder lag es an ihm?
‚Mir nach!’
Jillian fuhr die Krallen aus und kletterte geschickt hinab.
‚He, nicht so schn...’ KRAKS!
Der Ast, auf dem Lennart balancierte, gab nach.
‚Lenni!’
Entsetzt sah Jillian, wie ihr Bruder in seinen sicheren Tod stürzte. Dann stoppte das Krachen und Rascheln. Als hätte sie ihr Leben lang einen Katzenkörper gehabt, hastete Jillian nach unten. Instinktiv setzte sie ihre Pfoten auf sichere Stellen.
Ihr Bruder war bäuchlings auf einem dicken Ast knapp über dem Boden gelandet, die Beine hingen rechts und links herunter. Er war zerkratzt, aus seinem Maul lief ein dünnes Rinnsal Blut. Still lag er da. Jillian leckte ihm das Gesicht. Nichts. Sie setzte sich auf die Hinterpfoten und stimmte den melancholischen Trauergesang der Katzen an.

‚Wer weint hier? Wir fühlen Besucher in unserer Welt.’
Jillian machte einen Buckel und blickte sich um.
‚Hier sind wir.’
Ein Fischotter und ein Gorilla sahen zu ihr hinauf.
‚Wer seid ihr? Könnt ihr mir helfen? Ein großer Vogel hat uns hergetragen. Mein Bruder ist gefallen. Ich glaube, er ist tot.’
‚Nicht in dieser Gestalt.’

Der Otter rollte sich zu einer Fellkugel zusammen. Die Kugel wurde unförmig, größer, dann streckte sie sich, aus den Vorderbeinen erwuchsen Arme, der Kopf nahm menschliche Züge an. Schließlich stand dort ein junger Mann. Seine Kleidung war grau wie Gewitterwolken, sein braunes Haar voller Wassertropfen. Die Augen wechselten ständig die Farbe, dem Himmel gleich.
Der Gorilla war inzwischen zu den Geschwistern hinauf geklettert. Jillian sträubte ihr Fell und ging langsam rückwärts.
‚Keine Angst, kleines Mädchen.’
‚Woher weißt du, dass ich ein Mädchen bin?’

Sie legte ihre Ohren flach.
‚Ich bin Borgas, Hüter der Tiere. Ich sehe, dass du ein Menschenkind bist.’
Behutsam hob er Lennart hoch und schulterte ihn. Dann kletterte er nach unten.
Er duckte sich kurz und kniete kurz darauf in Menschengestalt da, größer und stämmiger als Wodar, mit einem dichten Vollbart. Er legte Lennart eine Hand auf. Jillian sprang zu Boden.
„Nur eine leichte Gehirnerschütterung. Bruder, etwas Wasser bitte.“
Wodar knetete Luft. Eine kleine graue Wolke entstand, schwebte über Lens Kopf und regnete los. Lennart schlug die Augen auf.
‚Mein Kopf!’
‚Lenni!’

Jillian tänzelte um ihn herum und beschnupperte ihn.
‚Danke! Könnt ihr uns auch heim bringen?’
„Wie habt ihr her gefunden, ihr seid doch von der Erde?“, frage Wodar.
‚Ja. Ihr nicht?’
„Nein. Es gibt so viele Welten wie Dimensionen. Hier in Ondaria werden sie von der Burg der Ewigkeit zusammen gehalten. Wir sind deren Wächter. Deshalb hören wir auch eure Gedanken.“
‚Ondaria? Das Wort kam in dem Buch vor!’
„Buch?“
‚Wir haben im Müll ein altes grünes Buch gefunden. Die Formeln von Helderweirt Borgwagen oder so ähnlich. Ich habe ein Gedicht vorgelesen, plötzlich waren wir hier.’
„Ihr habt das Buch gefunden! Wie kommt es in eure Welt? Ihr hättet euch aber einen besseren Landeplatz suchen können als Ani’Ma-A. Wisst ihr, was das ist?“ Borgas’ Grinsen spaltete fast sein Gesicht. Die Geschwister schüttelten den Kopf.
Wodar ergriff das Wort.
„Es ist unsere Sträflingsinsel. Die Gefangenen dürfen sich frei bewegen. Der Haken ist, jeder wird zu dem Tier, das am meisten seinem Charakter entspricht. Nur Borgas kann seine Form frei wählen.“
„Ihr seid als Hund und Katz’ gelandet, weil ihr Geschwister seid. Ihr liebt euch, streitet aber oft. Lennart ist der Beschützer. Jillian immer keck. Habe ich Recht?“ Borgas streichelte beide. Sie nickten.
„Wir bringen euch erst zur Burg, dann nach Hause. Jetzt seid ihr Weltennomaden, Teil von Ondaria, ihr dürft jederzeit wiederkommen. Ach ja, eins noch:
Borgas schloss die Augen. Die Geschwister duckten sich. Lennart spürte, wie seine Beine in alle Richtungen gezogen wurden. Kopf und Schwanz schrumpften. Die Vorderbeine wurden zu Armen. Langsam stand er auf, prüfte sich. Alles richtig. Erleichtert grinste er Jilli an, die ihm sofort einen Knuff versetzte: „Na, als Hund warst du aber nicht die Leuchte, Bruderherz.“
Wodar machte ein Zeichen. Die Luft flimmerte. Die Brüder hielten den Spalt auf.
„Kommt.“
Lennart ergriff Jillians Hand.
Weltennomaden! Allein der Klang des Wortes erfüllte ihn mit Vorfreude.
Gespannt darauf, was sie noch erleben würden, zog er seine Schwester durch den Riss.

Letzte Aktualisierung: 29.10.2006 - 09.54 Uhr
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