Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Oktober 2006
Im Käfig
von Barbara Peters

Er wusste nicht mehr, wie lange er schon hier festgehalten wurde. Die Tage der Gefangenschaft glichen einander wie ein Ei dem anderen. Nichts durchbrach die öde Gleichförmigkeit.

In der ersten Zeit seines Aufenthaltes in dem zwei mal zwei Meter großen Käfig gab es Unterbrechungen, die den endlosen Fluss der Tage und Nächte zerteilten.
Damals wehrte er sich noch, wusste, dass außerhalb des Käfigs etwas Wichtiges, etwas Großes auf ihn wartete.
Was war es? – Freiheit?
Er ließ das Wort in Gedanken auf seiner Zunge zergehen. Es schmeckte nach etwas, das ihm gut tun würde - er sehnte sich nach allem, was dieses Wort umschloss, aber ihm fehlte jede Vorstellung von seiner Bedeutung.
Damals war alles anders gewesen. Heller, schärfer – schmerzhafter.
Er war mit aller Gewalt gegen die Gitterstäbe seines Käfigs gesprungen, hatte versucht, sie zu verbiegen. Sie auszureißen. – Sie waren unbezwingbar – stahlhart. Er hatte keine Chance gehabt.

Die Wärter waren unruhig geworden. Seine verzweifelten Tobsuchtsanfälle weckten ihre Angst.
Dann wurden sie ausgetauscht. Der Dunkle trat in sein Leben. Der mit dem gierigen Blick.

Nächtelang lag er auf dem Boden seines Käfigs und schlug mit dem Kopf rhythmisch gegen die Gitterstäbe:
Links – rechts – links – rechts...
Stab – Leere – Stab – Leere...
Die Bewegung hatte etwas Beruhigendes, etwas Betäubendes. Genau das brauchte er. Wenn ihn nach einiger Zeit der dumpfe Schwindel erfasste, wenn das Dröhnen unter der Schädeldecke lauter und lauter und das Leben erträglicher wurde, dann konnte er über den Dunklen nachdenken. Über ihn und seinen gierigen Blick.

Worauf war die Gier des Anderen gerichtet?
Sein Blick fiel auf die entzündeten, blutigen Wunden an seinen Gliedmaßen. Auf die Stellen, an denen seit Jahren die eisernen Fesseln scheuerten. Auf die Ketten, die der Dunkle regelmäßig nachzog, um zu verhindern, dass die Schmerzen nachließen.

Er war seit Ewigkeiten – so schien es ihm zumindest – an die Eisenstäbe seines Käfigs gefesselt. Und es war der Augenblick gewesen, in dem der Dunkle die Ketten an die Stäbe geschlossen hatte, als ihm schlagartig klar wurde, worin die Gier seines grausamen Peinigers bestand. Der Wärter brauchte das Leid seines Opfers, lebte von den Qualen, die er ihm zufügte.
Hier lag er nun, täglich in der Reichweite des Dunklen. Er allein musste das ganze Ausmaß der Qualen erdulden, als Einziger.

Manchmal kamen andere Wärter, um ihn sich anzusehen. Aus Neugierde.
„Was ist aus ihm geworden?“
„Wisst ihr noch, wie er tobte? Damals...“
Sahen sie seine Wunden nicht? Bemerkten sie nicht, wie er litt?
„Man muss hart durchgreifen!“ Das war die Stimme des Dunklen. „Er ist gefährlich!“
Die anderen nickten. Sie wussten es aus eigener Erfahrung..., die Anfälle,..., sein Schreien...
Bei diesen Besuchen stand der Dunkle stolz neben dem Käfig. Für gewöhnlich legte er die rechte Hand entspannt auf eine der Ketten, die sein Opfer fesselten.
Der Gefangene war sich dieser Hand immer bewusst. Die kleinste Bewegung konnte dazu führen, dass der Dunkle die Fesseln ruckartig verkürzte. In seinem Hirn würden die Schmerzen explodieren.

Er war gefügig geworden, lag reglos und starr auf dem Betonboden. Die Wärter waren beeindruckt. Der Dunkle hatte den Gefangenen im Griff! Er war fähig! Begabt!

Im Laufe der Jahre kamen die Menschen seltener an seinen Käfig. Ein Wesen, das bewegungslos dalag und über die Besucher hinweg mit trüben Augen auf den am anderen Ende des Weges liegenden Rosengarten stierte, war langweilig.
Im November blühten keine Rosen.
Die Rosen blühten nicht und der Dunkle verfrachtete ihn ins geheizte Haus in den gekachelten Innenkäfig. Dort lag er – auf dem gefliesten Boden... , blicklos... , reglos... - fühllos?
Er hatte aufgehört zu denken. Er lebte nicht mehr, er existierte nur noch...

„Mama! Da haben sie einfach einen Menschen in den Käfig gesperrt!“
Wie aus weiter Ferne hörte er die Worte. Lohnte es sich die Augen zu öffnen?
Ein Kind stand im triefenden Regenmantel an der Hand einer Frau vor dem Käfig. Sein Blick glitt von den schreckgeweiteten Kinderaugen bis zu dessen vom Morast der aufgeweichten Wege verschmutzten Schuhen.
„Das ist kein Mensch. Das ist ein Neger“, antwortete die Frauenstimme.

Mühsam hob er den Blick wieder zu dem Kindergesicht. Und da sah er das Wunder.
Das Kind weinte. Es weinte um ihn.

Letzte Aktualisierung: 25.10.2006 - 22.00 Uhr
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