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November 2006
Die Fremden
von Esther Schmidt

"Sie kamen in Schiffen, in riesigen Raumschiffen, die Schatten über unsere Städte und Dörfer warfen und die Welt in Dunkelheit tauchten. Sie kamen mit überlegenen Waffen und einer Technik, der wir nichts entgegenzusetzen hatten.
Wir versuchten es trotzdem. Wir kämpften – und wir starben. Sie warfen uns um Jahrhunderte zurück, zerstörten unsere Gebäude, unsere Technik, unsere Wirtschaft. Ganze Kontinente entvölkert, blieb niemand mehr, der die Toten hätte begraben können. Massengräber klafften wie offene Wunden in verwilderten Äckern. Aasfresser vermehrten sich, strichen in Rudeln durch das Land.
Doch sie töteten nicht alle. Sie versklavten die Überlebenden, zwangen uns, den Mördern zu dienen. Wer sich widersetzte, verursachte nicht den eigenen Tod. Er musste zusehen, wie andere für seine Vergehen getötet wurde. Sie kannten alle Facetten der Grausamkeit, wussten zu quälen, über die natürlichen Grenzen hinaus. Ihre Chemikalien verhinderten die erlösende Ohnmacht. Sie folterten bis zum Tode, und dann riefen sie ihr Opfer ins Leben zurück, um es weiter missbrauchen zu können.
So beugten wir unsere Nacken und unsere Knie – doch niemals unsere Seelen. Wir verschlossen unseren Mund, unseren Geist – doch niemals unsere Augen. Wir dienten – und wir lernten. Wir lernten die Grausamkeit, die kalte Berechnung, wir lernten die Wissenschaft und die Technik, die der unseren so überlegen war. Wir lernten zu warten.
Jetzt ist unsere Zeit gekommen. Der Widerstand sammelte sich, der Geist der zersplitterten Nationen wurde vereinigt. Wir erheben uns, und wir werden kämpfen.“
"Sehr pathetisch!"
Der Schreiber zuckte zusammen und die Tinte hinterließ einen unschönen Klecks auf dem Papier. Unwillig drehte er sich zu dem Mann um, dessen spöttisches Gesicht über seiner Schulter schwebte.
"Tebrim! Musst du dich immer so anschleichen?"
Der andere grinste.
"Es bleibt mir ein Rätsel, Simon, wie ein schreckhafter Bücherwurm wie du in den Widerstand gehen konnte."
"Es werden eben nicht nur dumpfe Schläger gebraucht", entgegnete der Schreiber säuerlich. "Und was treibt dich in die gefürchtete Nähe von Büchern?"
„Inara ist da – und sie hat einen der Fremden dabei!“
„Was?!“ Simon sprang auf und ballte die Fäuste. Verrat! Bisher kannten die Fremden das Hauptquartier des Widerstandes nicht, hatten nicht geahnt, wie nahe es ihrer Hauptstadt war.
„Wie viele sind es?“
Tebrim lachte
„Nur einer, Simon, nur einer, mach dir nicht in die Hose! Wir brauchen dich als Übersetzer!“
Die Sprache der Fremden war nicht geeignet für die Zungen der Opfer. Die Diener hatten gelernt, zu verstehen, um gehorchen zu können, aber es war schwieriger, die Sprache der Eroberer auch zu sprechen. Simon gehörte zu den wenigen, denen es gelungen war, die merkwürdigen Laute verständlich genug nachzubilden, um tatsächlich kommunizieren zu können.
Mit klopfendem Herzen folgte Simon dem bulligen Soldaten durch die Gänge ihrer unterirdischen Festung, und als er den Raum betrat, sträubten sich ihm die Nackenhaare, als er das fremdartige Wesen, den verhassten Feind, dort zwischen seinen Freunden sitzen sah.
Die Fremden waren riesig. Selbst ihre Frauen überragten Simon um mindestens eine Kopfeslänge. Ihre Haut wirkte schwammig und war bei den meisten von einem gelblichen weiß. Manche waren aber auch von dunklerem Ton, bis hin zu einem fest schwarzen Braun. Sie waren hässlich - und dieses Individuum um so mehr, als es sich um einen alten, männlichen Vertreter seiner Gattung handelte.
Simon ballte die Fäuste, um sich selbst Mut zu machen. Dann atmete er tief ein und trat auf den Alten zu.
"Ich spreche deine Sprache, Herr."
Er biss sich auf die Lippen, aber das Wort war schon gefallen. Sie hatten ihm diese Anrede eingeprügelt, hatten jede mangelnde Ehrerbietung mit Stromstößen durch seinen Halsring geahndet. Sie saß zu tief. Er nahm sich vor, im Folgenden weniger unterwürfig zu sein. Dieser Fremde war ein Gefangener, waffenlos und allein. Sie mussten ihn nicht mehr behandeln wie einen Herrn.
Langsam hob der Fremde den Kopf und sah Simon an, offensichtlich überrascht von dessen Sprachfähigkeit. Er öffnete den Mund und sagte langsam und mit bemühter Deutlichkeit: „Ich bin alt. Ich habe ein schwaches Herz. Ihr könntet mich foltern, aber ihr riskiert dabei, mich zu töten. Statt dessen könnte ich euch helfen.“
Simon war so perplex, dass er den Alten nur stumm anstarrte. Seine Freunde wiederum blickten ihn an, begierig, zu erfahren, was der Fremde gesagt hatte, aber Simon brauchte einen Moment, um sich klar zu werden, was die Worte des Alten bedeuteten. Schließlich fragte er:
„Wieso? Warum bist du bereit, deine eigene Rasse zu verraten?“
Der Alte zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte er:
„Weil es nicht richtig ist. Wir dürften nicht hier sein.“ Er schwieg, aber Simon wusste, er würde noch etwas sagen, also ließ er ihm Zeit. Schließlich blickte der Fremde hoch.
„Wir haben unsere eigene Welt zerstört, darum mussten wir sie verlassen. Wir flogen durch das All in einer Starre, die dem Tod sehr ähnlich war, bis wir eure Welt fanden. Sie schien uns jung und unverbraucht, und sie war unsere einzige Hoffnung.“
„Aber sie gehörte euch nicht“, warf Simon ein.
Der Alte nickte.
„Die Schiffe wurden mit den besten von uns bestückt – den Klugen, den Reichen, den Mächtigen. Vielleicht hat das künstliche Koma uns verändert. Vielleicht aber sind wir tatsächlich so, wie ihr uns sehen müsst: böse, grausam, herrschsüchtig. Macht ist verführerisch – sehr verführerisch. Und hier hatten wir Macht, jeder von uns konnte ein kleiner König werden.“
Er atmete tief ein und schüttelte den Kopf.
"Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, euch zu unterstützen. Aber ich weiß, wenn ihr siegen solltet, werdet ihr keinen von uns am Leben lassen. Zu viel haben wir euch angetan, zu tief sitzt der Hass.“
„Das ist sehr richtig“, pflichtete ihm Simon ruhig bei.
„Wir sind die letzten unserer Welt“, sagte der Alte. „Wenn wir nicht mehr sind, ist unsere ganze Kultur vergangen, unsere Geschichte, unsere Literatur, unsere Musik. All das Schöne, das war, das Erhabene und Großartige, wird verschwunden sein.“
„Und ebenso der Schmerz und das Leid, das ihr gebracht habt“, gab Simon zurück. Der Fremde lächelte schwach.
„Es tut mir leid, dass ihr nur die schwarzen Seiten unseres Wesens gesehen habt. Aber es gibt andere. Inara wird dir davon erzählen können.“
"Das kann sie sicher", gab Simon zurück, "und sie wird sich hüten, etwas anderes zu tun, denn sie trägt noch immer den Sklavenring um den Hals."
Der Alte schüttelte traurig den Kopf.
"Ich weiß, es ist schwer. Ich bitte euch, mir zu vertrauen, aber nach allem, was wir euch angetan haben, ist das nahezu unmöglich."
Simon dachte einen Moment lang nach.
"Vielleicht wird es einfacher, wenn du mir sagst, was dich dazu bewogen hat, dich gegen deine eigene Art zu wenden."
Der Alte nickte.
„Es war Inara", sagte er. "Sie spielt ein Instrument. Ich weiß nicht, wie ihr es nennt, aber es ähnelt einem Instrument von unserer Welt. Als ich es gesehen habe, wusste ich, dass wir kein Recht haben, hier zu sein.“
„Ein Instrument?“, Simon sah den Alten verständnislos an.
„Ein Zupfinstrument. Inara hat darauf gespielt. Sie spielt wunderbar. Sie ist eine Virtuosin. Und als ich sie hörte, wurde mir klar: wir zerstören eure Kultur, um unsere zu erhalten. Aber wir hatten unsere Chance, unsere Welt. Dieses hier ist die eure, und ihr werdet eure eigene Kunst haben, eure Schönheit, eure Erhabenheit. Ihr steht noch am Anfang, darum schauen viele von uns auf euch herab, aber ihr werdet wachsen und blühen. Ihr habt das Recht darauf, ebenso, wie wir es hatten. Ihr werdet euren eignen Homer haben, euren Leonardo da Vinci, euren Mozart. Und vielleicht gelingt es eurer Rasse, die Fehler zu vermeiden, die wir Menschen begangen haben."

Letzte Aktualisierung: 08.11.2006 - 19.22 Uhr
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