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November 2006
Erkenne es!
von Melanie MĂĽller

„Hexe, Hexe“, schrieen alle Kinder im Chor. Einige warfen kleine Steine über den wackeligen Zaun. „Hexe!“, riefen sie wieder und stoben auseinander, aus Angst, die gebückte, zahnlose Frau würde aus einem Fenster ihres schiefen Häuschens schauen und die Kinder mit einem einzigen Blick verzaubern.

Damals waren wir zu Zehnt, alle Kinder unseres kleinen Dorfes in Schleswig-Holstein. Seit einigen Jahren waren wir meist nur noch zu Zweit. Derselbe Weg wie damals. Er schlängelte sich vorbei an den vielen, surrenden Windmühlen zur See. Und auch dieses Mal beschleunigte ich meinen Schritt als wir an dem kleinen Gärtchen vorbeikamen. Sören nahm meine Hand und hielt mich zurück.

„Langsam, mein Mädchen. Was ist denn plötzlich?“, fragte er. Ich schaute zu Boden, weil ich wie ein ängstliches Kind reagiert hatte. Er zog mich an sich, Wärme strömte durch meinen Körper und spülte das unbehagliche Gefühl im Magen weg. Diese Idylle wurde durch das quietschende Geräusch eines alten Fensterscharniers zerrissen. Ich fuhr auf und schlug mit meinem Kopf hart gegen Sörens Unterkiefer. Vom Schmerz betäubt hörte ich wie durch Nebel eine Stimme: „„Das Wasser wird kommen. Es wird kommen! Seht euch um! Erkennt es! Lauft nicht weg! Das Wasser, es wird kommen…“

Angst stieg in mir auf, im Reflex schnappte ich Sörens Hand und rannte los. Wir jagten nebeneinander her, bis wir völlig außer Atem am Strand ankamen. Ich warf mich keuchend in den Sand, während Sören sich gegen eine große Eiche lehnte. „Ist alles okay bei Dir, Steffi?“, fragte er, als er wieder zu Atem kam. „Ja, ich habe mich nur erschreckt“, sagte ich und musste auf einmal losprusten. Wir hatten doch tatsächlich noch Angst vor der „Hexe“! Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, setzten wir uns in einen alten Strandkorb, dem man die Jahre ansah, in denen er Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Der Strand wirkte übervoll, viele Leute waren mit ihren Kindern oder Hunden hergekommen, um die angenehme Augustsonne auszunutzen. Ich holte mein Buch und eine Decke aus der Tasche und breitete sie über uns beide aus, um uns vor dem Wind zu schützen. Es war dieselbe Prozedur wie immer, Sören legte seinen Kopf an die Seite des Korbes und ich lehnte mich an ihn und las, während er sich von seiner Nachtschicht erholte.

Ich musste auch eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, hatte sich um uns herum alles verändert. Der Himmel war grau und Blitze zuckten herab. Das Wasser wurde unruhig und der Wind peitschte die Wellen immer höher. Ich schüttelte Sören wach und schrie ihm ins Ohr, dass wir gehen sollten. Er kam nur sehr langsam zu sich und verstand mich zuerst nicht. Ich zeigte aus dem Strandkorb aufs offene Meer. Sein Blick folgte meiner Hand und seine Augen weiteten sich entsetzt. Ich sah mich um. Es musste Panik ausgebrochen sein. Überall lagen vergessene Taschen und Handtücher. Sören schleuderte die Decke zu Boden. Wir sprangen gleichzeitig auf und rannten los. In diesem Augenblick fing es in Strömen an zu regnen. Mein Buch! Ich trug es noch in den Händen. Ruckartig blieb ich stehen, um es zu verstauen. Da! Ein kleiner Fleck im Meer! Ich drehte mich ganz herum und versuchte zu erspähen, was es war. Sören rief mich aus einiger Entfernung, doch das nahm ich nur noch am Rande wahr. Das war ein Kind! Es kämpfte gegen die Wellen, die es immer weiter ins Meer zogen und riss den Mund auf, als schriee es um sein Leben, aber das Tosen der Wellen verschluckte jeden Laut.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Plötzlich wurde ich ganz ruhig, weil ich wusste, was zu tun war. Ich lief los, währenddessen zog ich mein T-Shirt über den Kopf. Sören lief noch in die andere Richtung und nahm meinen Rettungsversuch nicht wahr. Ich ließ das Kind nicht aus den Augen, aus Angst die nächste Woge könnte es für immer davontragen. Als die erste Welle in meine Schuhe schwappte, zog ich scharf die Luft ein. Es war eiskalt! Ich warf mich ins Wasser und war zuerst wie betäubt. Doch ich wusste, dass das Kind mich brauchte, also ignorierte ich meinen Körper und schwamm in die Richtung in der ich es das letzte Mal gesehen hatte. In diesem Augenblick schossen mir die Worte der alten Frau in den Kopf: „Seht euch um!“ Ja, ich hatte mich umgesehen und dies würde wahrscheinlich das Leben des Kindes retten. Dazu war ich wild entschlossen. Nach wenigen Zügen, die eine Ewigkeit dauerten, hatte ich das Kind erreicht. Es kämpfte sich kraftlos nach jeder Welle an die Oberfläche, um dort gierig nach Luft zu schnappen und dann wieder zu versinken. Ich griff nach ihm und bekam es an der Schulter zu fassen. Ich zog es näher zu mir. Als das Kind merkte, dass es nicht allein war, krallte es sich in seiner Angst an mir fest. Ich erschrak, denn nun sanken wir beide. Das eiskalte Wasser schlug über uns zusammen. Ich hatte nicht genug Kraft gegen die Wellen und das Kind anzukämpfen. Als wir wieder an der Oberfläche waren, schrie ich ihm zu: „Lass mich los, hörst Du?“ Aber das Kind verstand mich nicht und schlang seine dünnen Ärmchen nur noch fester um meinen Hals. „Dann hör wenigstens auf zu strampeln“, sagte ich mehr zu mir selbst, denn ihm wich langsam die Kraft aus den Gliedern. Sein Gewicht drückte mich nach unten, aber ich versuchte zum Strand zurück zu gelangen. Ich weiß nicht, wie lange ich gegen die Wassermassen kämpfte. Meine Glieder waren schon ganz taub und ich merkte kaum, dass ich mir den Fuß an einem Stein stieß. Ich dachte nur daran, uns in Sicherheit zu bringen. Ich schwamm mit geschlossenen Augen, weil das Wasser in ihnen brannte. Nur ab und zu blinzelte ich durch meine nassen Wimpern, um mich zu orientieren. Endlich sah ich Sören. Er hatte mein Verschwinden in seiner Panik erst spät gemerkt. Er kam nun auf uns zu, nahm mir das Kind ab und zog mich und das Kleine auf den Sand. Ich bemerkte, dass der gesamte Sand nass war und das Dröhnen der Wellen immer stärker wurde. Wo kam all das Wasser her?

„Wir müssen hier weg!“, rief mir Sören zu, während er das Kind in seine Arme nahm. Sein Ärmchen baumelte kraftlos herunter. Ich rappelte mich auf und versuchte hinter ihm herzulaufen. Die Worte der alten Frau fielen mir ein und stoppten mich: „Lauft nicht weg!“

„Steffi, was machst du denn schon wieder?“, tönte Sörens besorgte Stimme.
„Gib mir das Kind“ Ich schwang mich rittlings auf den untersten Ast der dicken Eiche und streckte die Arme nach dem Kind aus. Die alte Frau hatte heute schon einmal recht gehabt und mich durch ihre Worte zu dem Kind geführt. Wieso sollte ich jetzt weglaufen, obwohl sie uns davon abgeraten hatte? Sören schaute mich nur zweifelnd an und gab mir dann aber das kleine Bündel nach oben. Er kletterte höher und so reichten wir das zitternde Kind Ast für Ast höher, bis wir einige Meter über dem Boden saßen. Ich setzte mich ganz nah an den Baum und lehnte das kleine, schluchzende Paket zwischen den Stamm und mich. Sören war kurz nach mir hoch geklettert, rutschte hinter mich und beugte sich schützend über das Kind und mich. Wir waren vor dem Regen durch das dichte Blätterdach geschützt. Mehr Angst machte uns das Wasser, das von unten anstieg. Es rollte wie eine meterhohe Wand über den Boden und fraß alles, was sich ihm in den Weg stellte. Wir schmiegten uns noch dichter aneinander und warteten, bis das Unwetter nachließ.

Wie wir später erfuhren, wurden viele der Menschen, die am Strand gewesen waren und wegliefen von den Wassermassen erfasst und starben in den Fluten. Mir klingen heute noch die Worte im Ohr: „Das Wasser wird kommen. Es wird kommen! Seht euch um! Erkennt es! Lauft nicht weg!“


Letzte Aktualisierung: 22.11.2006 - 18.13 Uhr
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