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November 2006
Ein Fluss sein und nicht ruhen
von Ana Stern

Jeder unserer Urgroßväter hat irgendetwas erfunden. Hat mit etwas angefangen, das wir heute noch machen, weil die vor uns es schon taten. Jimmys Urgroßvater zum Beispiel hat das „Lied der toten Flasche“ erfunden. Obwohl wir es recht häufig singen, singen wir auch vieles anderes. Also ist Jimmy kein wichtiger Mann unserer Clique.
Cunks’ Urgroßvater hat das Wetten bei Hundekämpfen erfunden. Hundekämpfe sind wichtig, denn man weiß nie, wann es einen von ihnen gibt. Wenn sich zwei Hunde in einem Hinterhof die Schnauzen blutig beißen, dann weiß ich binnen weniger Minuten Bescheid und wir alle kommen und wetten. Um Geld, um Whiskey und in guten Zeiten auch um Joints. Die Hundewetten sind, wie schon gesagt, wichtig. Deswegen ist Cunks auch ein Mädchen bei uns, auf das viele hören.
Lukes Urgroßvater hatte die Idee, eigene Feiern am Shallow Creek abzuhalten, obwohl die Ältesten damals viele dafür straften. Lukes Urgroßvater kümmerte es nicht und so auch niemanden sonst von uns. Letztlich sagte niemand der anderen mehr etwas dagegen. Luke kommt direkt nach mir. Er ist meine rechte Hand.
Wir sind fast alle. Also von denen zwischen zwölf und fünfundzwanzig. Ich kann mich nicht beklagen. Wir sind stark, denn wir haben einander. Mein Urgroßvater war übrigens der erste von uns. Deswegen bin ich „Inyan (1)“, die Anführerin. Mein Wort ist Gesetz und ich kenne alle. Ich kenne die Ja-Sager unter uns, die Ohne-Gedanken-im-Kopf. Die Verlässlichen, die Mit-dem-Fels-Wandernden. Die Zweifler, die Hühner-ohne-Federn. Wir sind die Armee, die niemand sehen will. Weil wir den anderen zeigen, dass wir den jetzigen Weg verachten.

Jetzt ist es Juli und wir hatten schon drei Hundewetten in zwei Wochen. Wir haben ein neues Mitglied und Jimmy hat sein erstes Lied erfunden. Alles wäre in Ordnung, eigentlich sogar besser noch als „in Ordnung“. Gäbe es nicht diesen Neuen im Reservat. Er wolle nicht zu uns gehören, sagt er, aber behauptet das, was niemand wagen würde zu verbreiten.
„Mein Ururgroßvater war Sitting Bull.“
Der erste der lacht, ist Rox. Weil Rox völlig dumm und noch dazu verrückt ist, nimmt ihn sonst keiner ernst. Aber jetzt stimmen alle in sein Lachen mit ein, so viel verrückter als Rox selbst ist das, was der Neue da sagt.
Luke legt zwei Finger in den Mund und sein gellender Pfiff lässt alle verstummen. Sie sehen mich an. Ich blicke den Neuen an. Alle schauen zwischen uns beiden hin und her. Dann sage ich: „Du scheinst mir gar nicht dumm zu sein. Warum erzählst du so etwas?“
Er zuckt mit den Schultern. „Ich denke nicht, dass mein Vater mich anlügen würde.“
„Dein Vater ist ein Säufer!“, schreit jemand und ich muss grinsen. Denn das trifft auf die meisten Väter der Anwesenden zu.
„Ja“, sagt der Neue. „Aber wenn er mir Geschichten erzählt hat, die sein Vater ihm erzählt hat, dann war er nüchtern. Wer etwas anderes behauptet, der lügt ganz einfach. Weil nur ich das wissen kann.“
Er gibt also zu, dass sein Vater ein Säufer ist. Normalerweise drehen an diesem Punkt die meisten vollkommen durch. Prügeln sich krankenhausreif mit Leuten von uns. Diese andere Reaktion macht alle nun sprachlos. Es ist eine Blöße, mit der auch ich mich blamiert fühle.
„Niemand hat das Recht zu behaupten, er stamme in direkter Linie von Sitting Bull ab“, sage ich laut und damit meine ich auch alle anderen. Sie wissen es, schweigen und wagen es höchstens, zustimmend zu nicken.
„Niemand hat das Recht zu behaupten, er stamme in direkter Linie von Sitting Bull ab, wenn das eine Lüge ist.“
Die direkte Erwiderung erregt Wellen des Zorns in mir. „Du bleibst dabei?“, sage ich schließlich.
Er reckt sein Kinn vor. „Ja.“
In der Stille nicke ich Luke zu. Die Sache ist noch nicht aus der Welt.

Zwei Tage später gehe ich mit ein paar Leuten zum Laden vom alten Eta-Ma Gozua (2), um ein paar Kaugummis mit Coca Cola-Geschmack zu klauen, weil wir Lust darauf und nichts Besseres zu tun haben. Aus der Tür kommt uns der Neue entgegen. Sein linkes Auge ist blau, seine Arme sind voller Blutergüssen und übel zerkratzt. Wir blicken uns an, er und ich, stumm und trotzig. Luke macht einen Schritt nach vorne, aber weil kein Zeichen von mir kommt, verharrt er.
„Du bist also Inyan?“, fragt der Neue.
„Ja. Und du bist hoffentlich schlauer“, erwidere ich.
„Ich weiß jetzt, dass du deinen Namen nicht verdienst. Wenn ihr es so haben wollt: Du bist eher Wasser, das dem Fels ausweicht und ihn umfließt. Das seid ihr alle.“
Luke prescht vor und holt aus. Ich sehe zu, wie der Neue die Augen schließt und nichts tut. Und dann zu Boden fällt. Luke kehrt an meine Seite zurück. Er sieht mich an, will, dass ich ihm ein positives Signal für sein Handeln gebe. Aber ich kann ihn nicht anschauen. Der Neue sieht mich so unverwandt an, am Boden liegend und mit anschwellender Wange. Ich drehe mich um und gehe.

Es ist spät und ich hole die Wäsche von der Leine. Kangi (3) ein schwarzer Mischlingshund, streift um meine Beine. Früher war er unter allen Streunern der Beste bei jeder Hundewette. Bis er ein Bein verlor und ich ihn mit nach Hause brachte, halbtot wie er war. Niemand glaubte daran, dass er überleben würde. Heute denkt keiner darüber mehr nach. Er ist einfach da. Wenn Kangi nicht in einer Ecke liegt und döst, läuft er immer jemandem aus meiner Familie hinterher. Weil meine Mutter schon schlafen gegangen und mein Vater noch unterwegs ist, bleibe ich als Einzige übrig. Ich mag Kangis Gesellschaft. Sie ist einfach und gut. So wie mein Zuhause, wenn ich mich danach sehne und mich ein bisschen zurückziehen will - von unserer Revolution, die niemals ausbricht.
Als Kangi sich plötzlich entfernt, denke ich mir nichts dabei. Erst als er nicht wieder zurückkommt, drehe ich mich suchend um.
Der Neue steht hinter mir und streichelt meinen Hund.
„Er ist ein netter Kerl“, sagt der Neue dann. „Findest du nicht?“ Wieder sieht er mich so an, wie vor dem Laden. Kangi wedelt mit dem Schwanz.
„Sicher“, erwidere ich und pfeffere ein Hemd in den Wäschekorb. „Was hast du hier zu suchen? Niemand kommt hierher ohne meine Erlaubnis.“
„Ich dachte, man kann besser mit dir reden, wenn du nicht deine Leute um dich hast.“
„Wer sagt, dass ich mit dir reden will?“
„Ich würde gerne darauf ankommen lassen. Inyan.“ Sein Blick ruht so unverwandt auf mir, dass es mich verwirrt. Ich bringe Gegner sonst immer aus der Fassung, weil ich mutig auftrete und mich gut ausdrücken kann. Ich habe den Eindruck, als hätte ich bei ihm genau das Gegenteil bewirkt. Beide Seiten sind neugierig.
„Niyaha (4). Ich heiße hier Niyaha.“
„Du hast einen Lakota-Namen. Was ist dann dein Problem? Mir scheint, deine Eltern wollen die alten Traditionen bewahren.“
Ich verdrehe die Augen. „Ein Versuch ändert nichts daran, dass man eigentlich doch schon aufgegeben hat. Er ist eher Pflicht, als freier Wille. Oder Ehrgeiz. Oder sogar Stolz.“
Der Neue erhebt sich. Seine ruhigen, fließenden Bewegungen überraschen mich. Was habe ich erwartet? Einen gebrochenen jungen Mann, nur wegen einer lächerlichen Prügelei? Ich schäme mich ein wenig.
„Komm mit“, sagte der Neue und winkt Kangi zu sich. Und weil mein Hund ihm folgt, tue ich es Kangi gleich.

Seinen Namen hat niemand von uns erfragt. Es ist eine verschrobene Art und Weise, jemanden zu schneiden. Ich weiß seinen Namen immer noch nicht, als wir am Shallow Creek vorbeigehen, aber ich kenne bereits seine Geschichte.
Seine Mutter war eine Lakota aus dem Reservat, ebenso wie sein Vater. Sie verließen es, um in der Stadt ihr Glück zu machen. Von windigen Geschäftsmännern betrogen, landeten sie schnell im Nirgendwo eines urbanen Slums zwischen Schwarzen, Chinesen und Indern. Der Vater versoff das Geld, das die Mutter mit kleinen Jobs verdiente. Ihr Sohn brach die Schule ab und begann ebenfalls zu arbeiten. Kurz darauf machte sich der Vater und Ehemann davon. Der jämmerliche Rest der Familie kehrte zurück in unser Reservat. Ohne Geld und verachtet. Rückkehrer sind selbst bei den anderen so etwas wie Verräter, die mit ihrem Wiederauftauchen nur ihre Schuld bekennen.
„Niemals wäre ich zurückgekehrt“, sage ich schließlich.
„Du bist eine stolze junge Frau. Das ehrt dich. Aber du könntest deine Wurzeln nicht vergessen. Aus diesem Grund bist du doch überhaupt Inyan.“
„Ich bin es, weil mein Urgroßvater damit begann.“
„Bist du dir sicher?“
„Bist du der Nachfahre von Sitting Bull?“, schieße ich zurück und fixiere ihn.
Er grinst.

Im leichten Abendwind drehen sich kleine, bunte Papierräder. Verblasste Plastikblumen, behangen mit glitzerndem Band, schwanken hin und her. Kangi schnuppert an einem Teddybär, dessen Fell farblos und stumpf ist. Als würde er bald zu Stein werden.
Ich pfeife meinen Hund zurück, natürlich vergebens. Kangi hat ein Zuhause, aber er bleibt ein Streuner. Gehorsamkeit entspricht nicht sein Wesen.
„Warum wolltest du zum Friedhof?“, frage ich.
„Ich habe die Gräber der Städter gesehen.“ Der Neue holt tief Luft und lässt seinen Blick über die trostlose Grablandschaft schweifen. „Sie erzählen Geschichten von Familien und Traditionen. Die Orte, wo wir unsere Leute begraben, sind heute stumm.“
„Du redest anders als die Jungs bei uns.“
„Und du bist anders“, erwidert er da, „wenn du deine Meute nicht bei dir hast.“ Er zeigt auf sein blaues Auge. „Nicht wahr?“
Mir fällt keine Antwort ein und ich schaue auf die Gräber. Das letzte Sonnenlicht tastet sich über sie hinweg, zieht sich langsam zurück an den Horizont.
„Ich verstehe wirklich nicht, was du von mir willst.“
„Ich verstehe nicht, was ihr wollt. Ich meine - wenn sich doch nichts ändert.“
Schweigen. Wir starren in die Ferne.
Genug Moral für einen Abend, beschließe ich für mich. Und frage nach seinem Namen.
„Welchen willst du hören?“, fragt er zurück.
Ich grinse. „Sitting Bull?“
„Das ist schwierig. Ich bin doch dann schon tot.“
„Na und?“ Kangi kommt zu mir gelaufen und legt seine vernarbte Schnauze in meine Hände.
„Solange man dich noch reden hört, ist das doch egal.“

Ana Stern

(1) „Fels“
(2) „Der-mit-Regen-im-Gesicht“
(3) “Krähe”
(4) „Feder“

Letzte Aktualisierung: 19.11.2006 - 14.24 Uhr
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