Der Tod aus der Teekiste
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Dezember 2006
Der Tau der Unschuld
von Fran Henz

Schreie weckten sie. Verschlafen blinzelnd schwang Felica die Beine aus dem Bett und tapste mit nackten Füßen zur Tür. Am Ende des Korridors blieb sie an der Treppe stehen und blickte hinunter in die Halle. Auf dem Marmorboden lagen im Schein der Kerzen leblose Gestalten. Sie erkannte den Herzog und seine Frau; Eliane, die älteste Tochter, die ihr gestern eine Ohrfeige gegeben hatte; Henri, den Haushofmeister und Jeanette, eines der Zimmermädchen.
Betäubt stieg sie die Treppe hinunter und umklammerte das Spielzeug in ihrer Hand, als könne es ihr Kraft geben. Waren die Revolutionäre aus Paris bis hier her in die Bretagne gekommen? Aber dann wäre nur die herzogliche Familie ermordet worden, nicht die Dienstboten. Sie ging quer durch die Halle, vorbei an den regungslosen Körpern zur Küche, von wo die Schreie kamen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie spähte vorsichtig durch die angelehnte Tür.
Auf dem großen Küchentisch lag eines der Zimmermädchen in einem weißen Leinennachthemd und schrie. Aus dem Nichts glitt ein schwarzer Schatten wie ein riesiger Falter über den Tisch und verhüllte alles bis auf die nackten Füße. Die Schreie verstummten und in der Stille wurde ein widerliches, schmatzendes Geräusch hörbar, während die Füße zu zucken begannen.
Ein Schauer huschte über Felicias Rücken, und sie begriff, dass sie laufen sollte. So schnell und so weit, wie sie konnte. Im selben Moment, als sie diesen Gedanken in die Tat umsetzten wollte, stand er vor ihr. Mit ihren acht Jahren reichte sie ihm gerade bis zur Hüfte. Als er in die Knie ging, kräuselte sich sein schwarzer Umhang auf dem Boden.
Er war jung und besaß ein anziehendes Gesicht. Glatt und vornehm blass mit regelmäßigen, perfekt aufeinander abgestimmten Zügen. Die schön geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem gewinnenden Lächeln und entblößten starke weiße Zähne.
Männer wie ihn hatte sie aus der Ferne mit Elaine und ihren Freundinnen beobachtet. Bei Festen oder Soireen, wenn sie sich heimlich in einem Schrank oder hinter einer Chaiselongue verborgen hatte, um einen Blick in eine Welt zu werfen, von der sie niemals ein Teil sein konnte.
„Sieh an, welch köstliches Kleinod …“ Auch seine Stimme klang sanft wie eine Frühlingsbrise. Beruhigend. Betörend.
Sie spähte über seine Schulter in die Küche. Die nackten Beine des Küchenmädchens hingen regungslos vom Tisch. Felicias Blick wanderte weiter, entdeckte die hingestreckte Gestalt neben dem Herd. Dichtes blondes Haar quoll unter der Haube hervor. Vor dem Zubettgehen hatte sie kichernd eine Haarnadel aus der goldenen Fülle gezogen und wie eine Siegestrophäe geschwenkt, während sie im Bett auf und ab hüpfte.
Schlaf jetzt, Felicia, es ist schon spät
Ich hab dich lieb, Maman

Eine Träne rann über ihre Wange, als sie begriff. Sie starrte das schöne Ungeheuer vor sich an. Die Bestie, die ihre Mutter und all die anderen hier getötet hatte. Warum sah er nicht aus wie der Mörder, der er war? Warum war kein Blut auf seinem weißen Spitzenjabot?
Er streckte die Hand aus und fing die Träne mit seinem Zeigefinger auf. Sie glitzerte im Licht der Kerzen. „Wie schön, der Tau der Unschuld.“ Er benetzte seine Lippen damit und seufzte auf. „Es ist lange her, dass ich Unschuld gekostet habe.“
Er lächelte sie an und voller Grauen bemerkte sie, dass sich seine schwarzen Pupillen in wirbelnde rote Strudel verwandelten. „Und ich wäre ein Narr, wollte ich nicht mehr davon.“
Starr vor Angst blickte sie in diese seelenlosen Augen. Sie konnte ihm nicht entkommen, als er sich zu ihr beugte und seine kalten Lippen ihren zitternden Mund streiften, die nächste Träne von ihrer Wange fortküssten und weiter zu ihrem Hals glitten.
Seine Arme schlossen sich um sie in einer grausamen Parodie von Zärtlichkeit. Ihr Herz hämmerte. Es gab keine Rettung. Sie war ein Kind, wehrlos, ausgeliefert einem Ungeheuer, das alle erwachsenen Menschen im Haus getötet hatte.
„So zarte Haut, so süßes Blut …“, schnurrte er an ihrem Ohr.
Ihre steifen Finger umklammerten das Spielzeug, das sie in den Falten ihres Nachthemds verborgen hielt, als könnte sie sich damit wegwünschen an einen sicheren Ort. Warum war sie nicht geflohen, als sie die Gelegenheit gehabt hatte? Jetzt war es zu spät, er würde sie töten wie die anderen. Aber sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht heute.
Verzweifelt und überzeugt von der Sinnlosigkeit ihres Tuns, riss sie das buntbemalte Holzschwert hoch und rammte es ihrem Angreifer in die Brust. Bemerkenswerterweise drang die stumpfe Klinge mühelos in den harten Körper. Sein Kopf fiel zurück und ein erstaunter Ausdruck trat in seine Augen. Seine Arme lösten sich von ihr, er taumelte zurück und presste die Finger auf das Holzstück in seiner Brust.
Ängstlich betrachtete sie ihn. Sah, wie sich seine schönen Züge verzerrten, wie das Fleisch von seinem Gesicht gleich einer tönernen Maske absplitterte und den Schädel zum Vorschein brachte. Begleitet von einem entmenschten Schrei löste sich seine Gestalt in einem flirrenden Nebel auf, als verschlinge ihn ein Schwarm Glühwürmchen. Dann war der Spuk vorbei.
Stille senkte sich über die Halle des Schlosses.
Felicia wusste nicht genau, was gerade geschehen war, aber das Schwert trug zweifellos keinen geringen Anteil an ihrer Rettung. Vorsichtig hob sie es auf und presste es dankbar an die Brust. Dann ging sie zu ihrer Mutter in die Küche, setzte sich neben sie und bettete den Kopf in ihrem Schoß. Ihre Finger strichen zärtlich über das blonde Haar, eine ihrer Tränen fiel auf die kalte Wange.
Morgen würde sie überlegen, was weiter zu tun war.
Morgen würde sie das Häufchen Staub zusammenfegen und von den Klippen aus in alle Himmelsrichtungen verstreuen.

Letzte Aktualisierung: 23.12.2006 - 07.34 Uhr
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