Königin für eine Nacht von Julia Breitenöder
Als die Tür sich öffnete, trat Viviane vom Fenster zurück. Der Mann verließ das Haus gegenüber und ging zügig die Straße entlang, ohne sich umzudrehen oder zu ihr empor zu blicken. Viviane nahm Mantel und Schal von der Garderobe, im Hinausgehen griff sie nach den Handschuhen und ihrer Tasche. Am liebsten wäre sie das Geländer hinuntergerutscht, doch sie unterdrückte den Wunsch und sprang die Stufen hinab, immer zwei auf einmal. Als sie aus der Haustür hastete, sah sie seine unverkennbare Gestalt im Lichtkegel einer einsamen Laterne am Ende der Straße. Er nahm den üblichen Weg. Viviane knöpfte ihren Mantel zu, vergrub die Hände tief in den Taschen und folgte ihm. Die Luft war eisig und roch nach Schnee, vereinzelte Flocken schwebten zur Erde. Viviane zog den Schal vor Mund und Nase und lief schneller, als der Mann weiter vorne um die Ecke bog. Der Mann, der ihr seit zwei Monaten den Schlaf raubte. Eines Nachts, sie hatte wie so oft am Fenster gesessen und den Mond beobachtet, war er auf die Straße getreten. Er war kurz stehen geblieben und hatte sich umgesehen, dabei den Blick auch zu ihrem Fenster schweifen und kurz dort verweilen lassen. Und plötzlich war es da gewesen, hatte sie überrascht wie ein Regenschauer an einem sonnigen Tag, das unerklärliche, brennende Verlangen, mehr über diesen fremden Mann zu erfahren, ihm nahe zu sein, ganz nahe. In jener Nacht war sie ihm zum ersten Mal gefolgt. Er übte einen unbeschreiblichen Zauber auf sie aus.
Ihre Schritte ließen den frischen Schnee knirschen. Das Wissen, genau dort zu gehen, wo kurz zuvor er den Weg berührt hatte, erfüllte sie mit prickelnder Erregung. Ihre Füße wirkten verloren in den langen, schmalen Abdrücken seiner Schuhe. In ihren Gedanken blitzte sein Bild auf, wie er mit dem ihm eigenen katzenhaften Gang zügig ausschritt, den schlanken Körper in einen schwingenden Mantel gehüllt. Vivianes Herz schlug schneller.
Als sie an die Ecke kam, stieg ihr Atem in großen weißen Wolken auf. Soeben schloss sich die Tür des „Le Club“ hinter ihm. Viviane blieb stehen. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und ging entschlossen auf die Treppe zu. Sie würde alles tun, um ihr Ziel zu erreichen, denn noch nie hatte sie sich etwas so sehr gewünscht. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Knauf drehte und die Glastür aufzog.
Der Geruch von warmen Körpern und Alkohol brandete ihr in einer Woge entgegen. Sie verharrte und ließ ihren Blick durch den spärlich beleuchteten Raum wandern. Sein Stammplatz am Fenster war leer, auch im Gedränge an der Bar konnte sie seine hoch gewachsene Gestalt nicht entdecken.
„Guten Abend, ma belle, suchen Sie mich?“ Das Flüstern an ihrem Ohr wischte die aufkeimende Enttäuschung beiseite.
Viviane fuhr herum. Da stand er, keinen halben Meter entfernt, und sah sie lächelnd an. Sie schluckte. In welchem Winkel ihres Gedächtnisses hatte sich die sorgfältig einstudierte Rede verkrochen? Der Blick seiner grünen Augen brachte sie ins Stottern.
„Haben Sie mich erschreckt! Sie waren nicht an Ihrem gewohnten Platz.“
„Kommen Sie, Viviane, setzen wir uns …“ Er streifte ihren Arm. Seine Finger waren kühl, trotzdem brachte die sanfte Berührung ihre Haut zum Glühen.
Er kannte ihren Namen. In ihren Ohren rauschte es wie an den Niagarafällen, ihre Knie wurden weich.
‚Jetzt reiß dich zusammen! Du benimmst dich schlimmer als ein verknallter Teenie! So wird das nichts’, ermahnte Viviane sich, während sie ihm zu dem kleinen Tisch an der Fensterfront folgte.
Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, glitt dann mit einer fließenden Bewegung auf den Stuhl gegenüber und streckte die Hand aus.
„Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt – Léon Lunard ist mein Name.“
Sie zwang sich, seine Hand loszulassen. Wie kühl die Finger waren! Ein Lächeln stieg in ihr auf. Sie würde ihm helfen, die Hände aufzuwärmen. Und nicht nur die Hände.
„Woran denken Sie?“ Der Klang seiner Stimme war so angenehm, verführerisch.
Viviane holte tief Luft und begann.
„Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick, Léon? Ich nicht. Aber als ich Sie zum ersten Mal sah, hat es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Vielleicht nicht Liebe …“ Ihre Stimme wurde dunkler. „Begehren? Unerklärlich aber unaufhaltsam? Ein unbändiges Begehren.“ Viviane hob die gesenkten Lider, sein aufmerksamer Blick ermutigte sie fortzufahren. Ihre Wangen glühten, als sie weiter sprach.
„Ich bin Ihnen gefolgt. Ich musste einfach mehr über Sie erfahren! So bin ich das erste Mal hier her gekommen. Ich saß an der Bar und beobachtete, wie Sie andere Frauen in Ihren Bann zogen. Und Männer. Anfangs beruhigte es mich, dass nicht nur ich auf so magische Weise von Ihnen fasziniert war. Dann begann die Eifersucht zu nagen. Zaghaft erst, von Tag zu Tag nachdrücklicher.
Letzte Nacht sah ich Sie mit Ihrer Eroberung des Abends auf der Straße. Sie war die Königin der Nacht, hatte stolz erhobenen Hauptes an Ihrem Arm den Raum hier verlassen und uns andere von Neid zerfressen zurückgelassen. Ich habe gesehen, wie zärtlich Sie sie im Arm hielten. Ich weiß, es klingt kindisch, aber ich komme nicht dagegen an. Heute möchte ich die Erwählte sein!“
In seinem blassen Gesicht regte sich kein Muskel, die funkelnden Augen beobachteten sie nachdenklich. Sie kämpfte gegen den hypnotischen Sog seines Blicks. Noch nie war ihr ein Mann mit einer solchen Augenfarbe begegnet.
„Bitte, Léon“, flüsterte Viviane.
Er blinzelte. „Ich habe Sie oft hier gesehen. Und ich hatte gehofft, dass Sie mir fern bleiben.“
Viviane sprang auf, jetzt brannten ihre Wangen vor Scham. „Dann entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt …“
„Viviane, bitte, bleib!“ Sie hielt inne, betrachtete seine Hand, die ihre Finger sanft umschloss. Lange, wohlgeformte Finger. Sicher spielte er Klavier. Ihren Körper brachte er jedenfalls zum Klingen, die federleichte Berührung genügte. „Ich wollte dich nicht verletzen. Hör mir zu. Ich finde dich attraktiv. Sehr attraktiv sogar. Aber weißt du wirklich, was es bedeutet, die Erwählte zu sein? Verstehst du, dass man nur für eine Nacht meine Königin sein kann? Du hast etwas Besseres verdient.“
Sie runzelte die Stirn. Präsentierte er seine Umschreibung eines One Night Stands? In diesem speziellen Fall war es ihr egal.
„Léon, mach mich zu deiner Königin für diese Nacht. Was danach kommt, werden wir sehen.“
„Und wenn danach nichts kommt?“
„Dann ist es eben so. Bitte, lass uns gehen.“ Schon sein Blick erregte sie, wie würde es erst sein, wenn er sie richtig berührte? Sie konnte es kaum erwarten, seinen Körper zu erforschen.
Er bot ihr den Arm. „Dann komm.“ Sein Lächeln war unergründlich, ließ die weißen Zähne aufblitzen. „Viviane, meine Königin.“ Sie fühlte sich ganz leicht vor Glück.
Eng umschlungen gingen sie die Straße entlang. Sie schmiegte sich an ihn, innerlich jubilierend.
Als er die Tür aufschloss, blickte sie zu ihrem dunklen Fenster hinauf. Wie oft hatte sie dort gestanden und sich gewünscht, mit ihm durch diese Tür zu treten.
Er führte sie ins Schlafzimmer. Das große Bett stand einladend in der Mitte des Raums. Léon nahm ihr den Mantel ab, dann umschlangen seine Arme sie, zogen sie zum Bett. Er küsste ihre Haare, die Stirn, die Augen, die Wange. Sie drehte den Kopf leicht zur Seite und malte eine Spur aus kleinen, heißen Küssen über sein Gesicht und den Hals entlang. Seine Haut schmeckte so gut! Léon stöhnte, ließ die Hand unter ihre Bluse gleiten.
„Küss mich“, flüsterte Viviane, und schickte ihre Hand auf Wanderschaft. Abwärts, über seine Brust, den Bauch und tiefer. Die Haut war so glatt und kühl wie Porzellan. Sie nestelte an den Knöpfen seiner Hose, ihre Finger schlüpften hinein. Hier war es wärmer. Sie lächelte.
Léon zuckte zurück.
„Was tust du da?“
Er keuchte, seine Augen funkelten wild.
„Léon Lunard, ich wärme deinen perfekten Körper, der optisch und von der Temperatur her einer antiken Marmorstatue gleicht.“ Viviane lachte leise auf. „Und glaub mir, ich merke, dass es dir gefällt.“
„Du ahnst nicht, wie wunderbar du das machst“, seufzte Léon.
Er widmete seine Aufmerksamkeit dem Verschluss ihres BHs, streifte die Träger von ihren Schultern, seine kühlen Hände liebkosten ihre Brüste.
Als er sie von allen Kleidungsstücken befreit hatte, trat er einen Schritt zurück und sah sie unter halb geschlossenen Lidern an, sein hungriger Blick ließ sie vor Erregung zittern.
Viviane streckte die Arme nach ihm aus, murmelte noch einmal „Küss mich!“.
Léon sank neben ihr auf die nachtblaue Decke, er presste sich an sie, warm und vibrierend.
„Bist du sicher?“ Seine Lippen bebten.
Viviane nickte. Sie schloss die Augen, öffnete die Lippen. Léon küsste ihre Schulter, den Hals.
„Du bringst mir tatsächlich die Wärme zurück“, flüsterte er. „Ich möchte dich behalten.“
Viviane fühlte einen stechenden Schmerz, als Léons spitze Eckzähne sich in ihr Fleisch bohrten. Sie versuchte, ihn wegzudrücken, doch seine Arme umschlangen sie unerbittlich. Léon trank in langen Zügen. Sie spürte, wie ihr Körper schwächer und kälter wurde, während in seinen Adern ihr heißes Blut pulsierte.
Vor ihren Augen blitzten helle Sterne in undurchdringlicher Dunkelheit auf, in ihren Ohren klang wieder und wieder seine Stimme: „Verstehst du, dass man nur für eine Nacht meine Königin sein kann? Für eine Nacht, nur für eine Nacht …“
***
Ein metallischer Geschmack in ihrem Mund. Viviane öffnete mühsam die Augen. Sie fühlte sich so schwach. Léon saß neben ihr auf dem Bett und wischte einen dünnen Blutfaden von seinem Handgelenk. Als hätte er gespürt, dass sie wach war, wandte er den Kopf und lächelte.
„Sei gegrüßt, meine Königin der Nacht. Lass uns ausgehen, du musst lernen, dich an den Erwählten zu nähren, damit du zu Kräften kommst. Und später …“ Sein Blick suchte den ihren, dann senkte er die Lider. „Bitte bring später wieder die Wärme zu mir. In dieser Nacht, und in allen, die noch kommen. Sei meine Gefährtin, Viviane. Für immer.“
Letzte Aktualisierung: 26.12.2006 - 07.26 Uhr Dieser Text enthält 10140 Zeichen.
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