Der Tod aus der Teekiste
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Dezember 2006
Alles Theater
von Katharina Joanowitsch

‚Wie schockgefroren saß ich da. Vor mir ragte der Busfahrerbuckel – von herannahenden Autoscheinwerfern wie mit Gloriolen umflort – links huschten Lichter über meine Schulter, von meinen geradeaus starrenden Augen nur reflexartig wahrgenommen. Rechts saß das Problem.

Der Tag hatte verheißungsvoll begonnen, er versprach das pure Glück: ein Theaterausflug nach Bremen! Im Knüllzettel – unsere Form kleiner Botschaften während das Unterrichts – stand in seiner steilen Schrift nur ‚bis nachher’, doch im langen Blick unter seinen Ponyfransen hervor schienen unaussprechliche Worte auf mich zu warten. Sein Mund, gerade vom Kauen an englischen Vokabeln verzogen, würde sie endlich aussprechen, diese unerhörten Worte. Sein Mund, dieser akkurate Schnitt, brachte mich nicht zum Träumen, es waren seine Augen, diese unvergleichlichen – Herr Thiele stellte sich in unsere Sichttangente, wippte auffordernd auf seinen Kreppsohlen und wiederholte seine Frage. Ich stotterte unwissend. Herr Thiele suchte sich ein neues Opfer und gab unseren Blickkorridor frei, doch über die ersehnten Augen hatten sich beschämte Lider gesenkt. Ach, Hans-Georg!

Unsere Liebe führte eine fast reine Knüllzettelexistenz. In den Pausen drückten wir uns zwischen den anderen herum, mit ihnen in wildes Gelächter ausbrechend aber stets besorgt die Wirkung auf den anderen überprüfend. Gingen wir nach der Schule ein Stück Wegs miteinander, fanden sich unsere Hände schnell, gerieten wohl auch in ausgelassenes Schlenkern. Doch blieben wir stehen, entflochten sie sich zögernd, um in unsere Hosen- oder Jackentaschen zu flüchten. Die schmale Luftschicht zwischen uns schien von zäher, undurchdringlicher Substanz.
‚Ach, Hans-Georg’ schmachtete ich stumm durch den Tag. ‚Ach, Hans-Georg’ bohrte mein Blick. ‚Hans-Georg, Hans-Georg, Hans-Georg’ pumpte mein Herz.

Auf der Hinfahrt war die vorletzte Bank unsere, die hohe Vorderlehne verbarg uns gut. Es war ein Fest für unsere Hände. Sie hielten sich umschlungen wie verloren geglaubte, nun sich wieder findende Wesen, von unseren mäandernden Blicken scheu und flüchtig gestreift. Sprachen wir miteinander? Mein Kopf quoll über voll unbrauchbarer Worte, unpassender Fragen, doch mein Hals war wie verschnürt. Ich erinnere deutlich unsre flehenden Blicke. Blicke, die an Dringlichkeit zunahmen, je näher wir Bremen kamen.

Es gab ‚Die Kaktusblüte’, ein lächerliches Stück, das ganz ohne meine innere Beteiligung auskam. Ein uralter Greis, dennoch praktizierender Zahnarzt, umgarnte ekelhaft aufdringlich ein Mädchen, kaum älter als ich, machte aber auch seiner steinalten Praxishilfe Avancen und so entstand ein fürchterliches Kuddelmuddel. Während ich verständnislos das Bühnendurcheinander verfolgte, lagen meine Hände verwaist auf meinen Schenkeln. Unerreichbar saß Hans-Georg zwei Reihen entfernt. Seine Silhouette stach wie ein schmerzlich schöner Schnitt aus dem diffusen Dunkel hervor.

Heilfroh war ich, als es eine Pause gab, in der ich meine selbstgebackenen Haselnussmakronen mit Hans-Georg teilen konnte. Noch während die fünfte Makrone zwischen seinen Zähnen zerbröselte, entflammte sein blasses Gesicht. Im Nu ähnelte seine Haut einem gärenden Teig. Seine Augäpfel zitterten. Sein Mund, nun kein Ort ersehnter Zärtlichkeiten, klaffte wie ein zugiger Spalt. Taumelnd griff Hans-Georg in die Luft, erwischte meinen Pullover, lehnte sich umklammernd an mich, röchelte beängstigend. Sein ungebremstes Gewicht zog uns zu Boden. Unsere erste Umarmung hatte ich mir anders vorgestellt. Einige Umstehende hielten dies für einen Akt hemmungsloser Begierde und feixten. Nicht so unser Lehrer Wicke. Wütend stürmte er heran und riss Hans-Georg hoch von mir, um sogleich entsetzt nach Sanitätern zu rufen. Verwirrt und vergessen blieb ich im darauf folgenden Chaos am Boden und spürte der unerwarteten Umarmung nach. Stundenlang hätte ich so liegen können, wenn nicht zwei Sanitäter auch mich auf eine Trage hätten legen wollen.

Eine Haselnussallergie hatte unsere lähmende Bewegungslosigkeit gesprengt und Hans-Georg außerplanmäßig ins Krankenhaus gebracht. Wicke trommelte uns Schüler zusammen, sein hochroter Kopf konnte es ohne weiteres mit Hans-Georg aufnehmen. Die ‚Kaktusblüte’ musste sich ohne uns weiter entwickeln, denn wir fuhren vorzeitig zurück.

Strafversetzt befand ich mich auf der Sitzbank hinter dem Busfahrer. Das Licht war gelöscht außer ein paar Funzeln entlang des Ganges. Die schwach erhellten Vorstädte Bremens lagen bereits hinter uns, wir fuhren durch tiefdunkle Äcker, da schob sich jemand auf den leeren Sitz neben mich. Ausgerechnet Christian! Christian fand ich schon auf Distanz unappetitlich. Unwillig tauchte ich aus meinem Selbstmitleidsbad auf, starrte aber beharrlich in die blinde Schwärze.
Da packt mich Christian bei den Schultern, zwingt mein Gesicht nah an seines, stülpt seinen geöffneten Mund auf meinen, schiebt ein nasses, drängelndes Tier hinein, das sich im Speichel suhlt und wie ein Derwisch zwischen meinen Zähnen herum schießt bis in den Rachen hinein, sich abrupt wieder zurück zieht. Wie im Schock verharrte ich mit offenem Mund, der ekelhaft nass und fremd war. Ich spüre es noch, als sei es gestern gewesen.’

Ich lasse die Blätter sinken. Kaum zu glauben, dass meine Schwester diese Zeilen geschrieben hat.
„Na, was sagste ‚n?“ fragt sie fordernd in ihrem typisch schnoddrigen Ton, während sie sich den dornbespickten Ledergürtel stramm zieht.
„Kaum zu glauben.“ antworte ich verblüfft.
„War aber so, einfach eklich, sach ich dir.“
„Nein, ich meine: kaum zu glauben, dass du das so geschrieben hast.“ erkläre ich.
“Hei, danke,“ strahlt mich meine Schwester an und schlüpft in ein gewebtes Fast-Nichts.
„Aber wehe, du nimmst es ausn’nander!“ funkelt sie mich an. Mein Beruf – ich lasse mich zur Psychotherapeutin ausbilden – ist ihr immer noch unheimlich.
„ Hans-Georg, die Flasche, also falls dich das inneressiert“ kommt sie noch mal auf ihre Geschichte zurück, „Hans-Georg, nich ein’ Blick für mich danach mehr damals, nich ein’!, Luft war ich für den. Na, is’ ja nich so, dass ich kein’ mehr geküsst habe, aber es war nich annähernd so schön, wie ich gedacht hatte.“
„Glücklicherweise“, sie bleckt ihre schönen Zähne, um einen feurigen Lippenstiftstrich fortzuwischen, „is’ bei uns ja Küssen verboten.“
Meine Schwester dreht ihre in einem Netz-Catsuit gefangenen Formen zufrieden vor dem wandhohen Spiegel, platziert ihren Lederstring ritzengenau und zieht die Latexstiefelstulpen über ihre Knie. Perfekt.
Ihren Auftritt in ihrem speziellen Straßentheater werde ich, nachdem wir uns verabschiedet haben, wie so oft heimlich und aus verborgener Distanz betrachten.

Letzte Aktualisierung: 11.12.2006 - 21.43 Uhr
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