Der Tod aus der Teekiste
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Dezember 2006
Der erste Kuss
von Christoph Berk


Wenn Muse, Ruhmsucht oder eine vorgehaltene Pistole zur
Veröffentlichung eines Textes zum Thema „Kuss" zwingen, heißt es,
Vorsicht walten zu lassen.
Schon manch einer musste sich anlässlich allzu schwärmerischer
Ausführungen über den schönsten Kuss oder die sinnlichsten Lippen
kritische Fragen des sich hiervon irgendwie nicht betroffen fühlenden
Partners gefallen lassen. Und dass es mit dem Nachtisch an solchen
Tagen Essig ist, versteht sich wohl von selbst.

Als bekennender Dessertliebhaber konzentriere ich mich deshalb auf
den „ersten Kuss", der sich ja wohl hoffentlich in jede in
Liebesdingen auch noch so bescheidene Biographie hineinverfügt hat,
in der Regel länger zurückliegt und daher im Allgemeinen unkritisch
ist.

Wagen wir also einen Rückblick, wozu mir der weltberühmte Hodscha
Nazredin einfällt, der, wie jedermann weiß, stets rückwärts auf
seinem Esel ritt. Auf die Frage, warum er das tue, antwortete
er: „Mich interessiert, woher ich komme. Wohin ich gehe, ist
schließlich die Sache Allahs".
Nun weiß ich nicht genau, ob auch die Pfade meines Lebens auf den
Landkarten Allahs verzeichnet sind, alldieweil meine monatlichen
Gehaltsnachweise mich als Angehörigen der Gemeinschaft römisch-
katholischer Steuerzahler und mithin einer konkurrierenden Instanz im
Landkartengewerbe ausweisen. Nichts desto trotz interessiert auch
mich die Frage, wo ich mal war, und so möchte ich es dem weisen Manne
nachtun und mich für einen Augenblick auf meinem Esel herum wenden.

Was sehe ich? Zunächst nichts. Dann – doch! Da hinten, ganz am
anderen Ende des Bildes – ein kleiner, schwarzer Punkt. Er wird
größer und größer, nimmt langsam die Kontur einer Person an, welche
mir erstaunlich ähnlich sieht. Bei noch genauerer Betrachtung – es
handelt sich um mich, wie ich gerade vor einem Friseurladen stehe,
vor ca. 2 Wochen.
‚Vor einem Friseurladen? Vor 2 Wochen? Der erste Kuss? Von einer
Reise in die Vergangenheit kann da ja wohl kaum die Rede sein! Eher
von einer Kaffeefahrt ins Kurzzeitgedächtnis!'

So rufen sie, die Ungeduldigen, doch der Friseur ist ein absolut
notwendiger Zwischenschritt, um mich ganz und gar in die
Vergangenheit zu versetzen. Diesbezüglich wird ja viel Unsinn
getrieben. Manche basteln in Garagen und Kellern an komplizierten
Zeitmaschinen und laufen Gefahr, das Raum-Zeit-Kontinuum zu stören
oder ihre eigene Mutter zu knutschen, andere treiben sich in den
finanziellen Ruin durch die Jagd auf seltene, fünfzig Jahre alte
Schallplatten, und wieder andere haben ihre Staubsauger verkauft,
weil sie wegen der vielen Kisten mit Briefen aus der Schulzeit keinen
Platz mehr haben, den sie saubermachen könnten.
Ich brauche das alles nicht. Die Probleme des Raum-Zeit-Kontinuums
sind meine nicht, das Konto ist prall gefüllt und mein Staubsauger
hat so viel Auslauf, dass man, wenn Staubsauger Hühner wären, meine
Wohnung ein Freigehege nennen müsste.
Mir reicht für den Schluck aus der Tasse gewesener Befindlichkeit,
für diesen unverwechselbaren und der Jugend eigenen Geschmack von
Unsicherheit, Fehlplatziertheit und Scham ein einfacher Gang zum
Friseur.

Treten wir also ein. Es bimmelt, die Tür fällt zu. Die
Aufgabenstellung: sich als Mensch mit eigenen Wünschen und
Bedürfnissen bemerkbar machen, in diesem Fall einem Haarschnitt. Eine
ganze Weile passiert überhaupt nichts. Schon stellt sich ein
unangenehmes Gefühl in der Magengegend ein, die Zeitreise
funktioniert tadellos. Endlich ertönt eine Stimme aus dem hinteren
Teil des Raumes: „Ja?" Es ist dasjenige „Ja", welches Chefs für
Untergebene reservieren, die wiederholt in einen allzu privaten
Termin mit der Sekretärin hereinplatzen. Der dazu gehörende Blick
verrät die Erwartung, man sei ein Störenfried und Einfaltspinsel, und
werde nun wohl um eine Fahrplanauskunft bitten, um 2 Pfund frische
Mettwurst oder ein paar Zigaretten, wofür ein Friseursalon ja nun
kaum den richtigen Ort darstelle.
Grundsätzlich begrüße ich diese Auf-alles-gefasst-Haltung, und wenn
dereinst im Rhythmus der Buschtrommeln meine Stunde schlägt, werde
ich auf dem Sterbebett liegend und von meinen Abkömmlingen sowie dem
Dorfschamanen umtanzt gerne Bilder derjenigen Menschen Revue
passieren lassen, welche sich auch durch die kühnsten Anmutungen des
Lebens und meiner Person nicht hatten aus der Ruhe bringen lassen.
Ein bisschen weniger Gefasstheit auf alles und ein bisschen mehr auf
den meiner Meinung nach in einem Friseursalon nicht völlig abwegig
platzierten Wunsch, mir nur mal eben den Kopfputz stutzen zu lassen,
würde mich allerdings weniger scheu hier herumstehen lassen.

Stattdessen murmele ich ein Einmalhaareschneidenbitte hinaus und
klinge wie ein Zwölfjähriger, der in der Dorfapotheke zum ersten Mal
Kondome kauft und merkt, dass neben ihm die Klassenlehrerin steht.
Auch hernach nimmt das jugendliche Dauergefühl des Zur-falschen-Zeit-
am-falschen-Ort-Seins nicht ab: Immer wieder Missfallen scheint meine
schüchterne Bitte zu erregen, man möge doch aufs Haarewaschen
verzichten und gleich zur Tat schreiten. Schließlich will ich es ja
nur hier und da ein wenig kürzer haben und verlange mitnichten eine
komplexe Reorganisation meines Erscheinungsbildes von der Wimper bis
zu Haarwurzel. Trotzdem wird man mit Blicken bedacht, als mute man
dem diensttuenden Maitre ein von Dschungelcamp und Fritteuse
gezeichnetes Betätigungsfeld zu.
Ist auch diese Probe bestanden, heißt es Zittern und Beten in der
Hoffnung, hernach mit einem nicht zu Spott und Hohn animierenden
Haargewerk zurück in die frisierte Menschheit geschickt zu werden.
Und dann kommt die Rechnung.

Und genau so ist es in der Jugend: Missachtung, unbefriedigte
Bedürfnisse, Kämpfe, Missgeschicke. Alles ist komplizierter als
gedacht. Und am Schluss muss man bezahlen.

Alles ist wieder da. Und ich bin zurück. In meiner Jugend. Auf dem
Spielplatz neben der Bahnstation von X, an ein waghalsig
konstruiertes Klettergerüst gelehnt. Mit ihr. Ich bin nervös, mir ist
kalt und ich muss auf die Toilette. Und dann passiert es. Eigentlich
habe ich es nicht darauf angelegt. Ich glaube, sie auch nicht.
Trotzdem erfüllen wir die Pflicht des Augenblicks, tun, was
Menschheitsgeschichte, holllywoodfilmisches Vorbild und Gegenüber uns
abfordern. Es soll eben sein, da kann man gar nichts machen.
Anschließend muss ich überraschend und dringend nach Hause (jetzt
bloß nicht auch noch was sagen müssen) und habe während der gesamten
Bahnfahrt das Gefühl einer belegten Zunge im Mund.

Das Beste kommt hinterher: das gute Gefühl, es „geschafft" zu haben
und die Gewissheit, den Freunden am nächsten Tag Bericht erstatten zu
können.

Weshalb man den ersten Kuss wie die Jugend auch mit einer Kreuzfahrt
zum Nordkap vergleichen kann. Alles schwankt und schaukelt und
eigentlich wäre man lieber auf einem Piratenschiff in die Südsee
unterwegs. Ständig muss man sich übergeben. Ist man endlich
angekommen, stellt man fest, dass es nichts zu sehen gibt und der
kleine Touristenshop völlig überteuert ist. Hinterher erzählt man
allen von einer großartigen Reise.

Weshalb die Teenagerzeit noch eher einer Safari gleicht, genauer
gesagt einer Fotosafari durch den Safaripark Hodenhagen. Man sitzt
eingequetscht zwischen jammernden Großtanten im Auto und wartet auf
die Löwen. Die kommen aber nicht, und keiner weiß, ob es überhaupt
noch welche gibt oder ob die verbliebenen Exemplare gehäutet beim
Parkdirektor vor dem Kamin liegen. Stattdessen gibt es Eichhörnchen
und zwischendurch Caprisonne. Wird man älter und blickt bewegt
zurück, erinnert man sich weder an die alten Leute, noch an die
Caprisonne und denkt nur: „Ui, Löwen. Wie aufregend!" Und dann wird
einem warm ums Herz.

Und so ist das mit den Jugenderinnerungen. Die meisten liegen
gehäutet beim Parkdirektor vor dem Kamin, und machen sich dort
ausnehmend gut aus. Tatsächlich passiert ist aber nicht viel. Wer
ehrlich ist kann von Glück sagen, wenn es zu Weihnachten mal eine
Apfelsine gab. Oder einen Zeppelin. Sonst nichts. Vor allem keine
Löwen. Es gab ja nichts. Wir hatten ja nichts. Es war ja nach dem
Krieg. Aber wir waren dankbar. Hinterher jedenfalls. Denn wir haben
überlebt.

Weswegen die Jugend und die ersten Küsse dann doch unbedingt
begrüßenswerte Ereignisse im Leben eines jeden Menschen sind.
Zumindest in der Rückschau. Währenddessen sind sie lediglich
unvermeidlich.

Und da sitze ich nun wieder auf meinem Esel, verkehrt herum wie einst
der weise Hodscha Nazredin. Vor meinen Augen macht der Esel einen
großen Haufen und ich drehe mich angewidert nach vorne. Vielleicht
ist nach vorne schauen doch interessanter. Immerhin wartet mein
letzter Kuss dort irgendwo auf mich.

Ich hoffe, er wartet noch recht lange.


Letzte Aktualisierung: 06.12.2006 - 13.04 Uhr
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