Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Januar 2007
Das Manuskript
von Susanne Ruitenberg


Das Schrillen des Telefons durchdrang seine Konzentration. Seufzend riss Hubertus sich von seinem Text los und ergriff den Hörer. Wer konnte das so spät sein? „Hagemann.“
„Herr Professor, hier ist Peter Storkebaum-Riedmüller.“ Oh nein. Sein Verleger. Schon wieder.
„Herr Storkebaum-Riedmüller. Was kann ich am heutigen Mittwoch um 20:29 Uhr für Sie tun?“ Hätte er nicht eine Minute später anrufen können, dann wäre es eine runde Uhrzeit gewesen.
„Das wissen Sie, Herr Professor. Wann bekommen wir Ihr Manuskript?“ Hubertus verzog den Mund.
„Wie ich ihnen bereits mehrfach mitgeteilt habe, bin ich fast fertig. Am Montag werde ich es zur Post geben.“
„Das haben Sie letzte Woche schon gesagt, die Woche davor auch.“
„Es enthält gewisse Imperfektionen.“
„Darüber haben wir vor zwei Monaten gesprochen. Wir werden es lektorieren, es muss nicht perfekt sein.“
Im Gegenteil. Es musste. Das würde er diesem Banausen indessen nie begreiflich machen können. „Sie haben mein Wort.“
„Ich kann Ihnen keinen weiteren Aufschub gewähren. Das Buch ist fest eingeplant.“
„Das weiß ich. Montag.“
„Ich verlasse mich auf Sie.“

Hubertus stand auf und betrachtete die Wand über dem Schreibtisch. Dort hing sein großer Triumph, in einem Mahagonirahmen. Der Ernst-Wilhelm Jacobi Preis für außergewöhnliche Prosa im 21. Jahrhundert. Daneben, hinter Glas, prangten die Zeitungsartikel, nach Größe sortiert, identische Abstände zwischen den Ausschnitten. Hubertus, wie er in der Paulskirche den Preis entgegennahm. Auszüge aus Literaturzeitungen und Feuilletons:

„Professor für Germanistik und Literaturwissenschaften der große Gewinner.“ „Bedeutendster Roman des Jahrhunderts.“ „Ein deutscher Schlüsselroman.“ „Aufwachsen in den Sechzigern, ein deutscher Albtraum mit absoluter Perfektion beschrieben.“

Da war es, das Wort. Perfektion. Danach hatte er sein Leben lang gestrebt, seit frühester Kindheit. Sein Abitur, die Doktorarbeit, seine Lehrtätigkeit an der Universität – alles perfekt, fehlerfrei, nie hatte er Anlass zu einer Beanstandung gegeben.
Seinen Roman „Aufschwungsjahre“ hatte er mit zwanzig begonnen, mit fünfundvierzig veröffentlicht. Das Manuskript war tadellos gewesen. Nicht ein Wort wurde daran verändert. Von der allgemeinen Euphorie angesteckt, hatte er sich zum Unterschreiben eines Verlagsvertrages verleiten lassen. Er sollte in drei Jahren einen weiteren Roman abliefern, wieder über ein deutsches Thema. Vor zwei Jahren hätte das Buch fertig sein müssen. Aber das Manuskript war nicht perfekt, das war unmöglich ein einer solch kurzen Zeitspanne. In diesem Zustand konnte er es keinesfalls dem Verlag anvertrauen. Er setzte sich an seinen Rechner. Mechanisch richtete er Büroklammerspender, Spitzer und Utensilienhalter neu aus und rückte die Tastatur zurecht, damit sie parallel zur Tischkante lag. Er sah auf die Uhr. Es war Zeit für die abendlichen Vorbereitungen.

Hubertus ging in die Küche und deckte den Tisch für das Frühstück am nächsten Morgen: Platzdeckchen, Teller, Messer, Tasse, den Korb mit Honigglas und Zuckerdose. Beim Ausschalten des Lichts stutzte er und schaltete es wieder an. Das Messer lag nicht gerade. Hubertus korrigierte es umgehend. Er warf einen Blick in die Runde: die Küche war tadellos aufgeräumt, jede Oberfläche glänzte. Zufrieden nickte er und begab sich ins Schlafzimmer. Morgen war Donnerstag, der dunkelgraue Anzug demnach an der Reihe. Er nahm ihn aus dem Kleiderschrank, hielt ihn unter das Neonlicht für eine genaue Kontrolle und hängte ihn an den stummen Diener. Dazu gehörten ein weißes Hemd und die blaue Krawatte mit den schrägen Streifen. An geraden Donnerstagen trug er eine dunkelgraue Krawatte mit vertikalen Linien in Bordeauxrot. Er legte Wäsche und Socken auf die Ablage des Gestells und überprüfte die Schuhe. Entsetzt registrierte er einen kleinen Kratzer an der linken Ferse. Nicht perfekt! Er notierte für den kommenden Samstag im Kalender: „Neue schwarze Schuhe kaufen. Alte Schuhe wegwerfen.“

Am Sonntag lief er wie ein gefangenes Tier im Büro auf und ab. „Wie soll der Schlusssatz sein. Sag es mir“, rief er in die abgestandene Raumluft hinein. Der Bildschirm schien ihn anzugrinsen. Hubertus schob die Brille hoch. Er hielt es nicht aus. Der Schluss war nicht richtig. Dreihundertundfünf Mal hatte er das Manuskript überarbeitet. Es ging um einen Altachtundsechziger, Jakob Fröhlich, der als Student auf keiner Demo fehlte, für jede Ungerechtigkeit auf die Straße ging, die Welt verändern wollte. Aber sein Vater war Großindustrieller. Im ständigen Gewissenskonflikt zwischen seinen moralischen Ansprüchen an sich selbst und der Realität seiner Herkunft, vor allem den Aufgaben, die auf ihn warteten, zerbrach er fast. Bis er schließlich kapitulierte, seine Überzeugungen verriet und die Firma übernahm.
Hubertus setzte sich. Er las erneut den letzten Absatz:

„Selbst durch das geschlossene Fenster drang der Lärm der Demonstranten zu Jakob Fröhlich herauf. Einen Augenblick lang dachte er an früher zurück, er sah sich selbst in seiner alten Lederjacke mit dem ‚Atomkraft – Nein danke’ Aufnäher auf dem Rücken, das lange Haar unter der Schiebermütze hervorquellend; fast ist es ihm, als spüre er wieder die Aufregung, das Adrenalin; die lärmende Gruppe um ihn ist ein Schutzschild vor der Realität, vor der Welt, die er nicht haben will; er hält das Spruchband - zusammen mit Günther, dem Politologie-Studenten - sie rennen, flüchten vor den Uniformierten, und da steht SIE, es ist der Tag, an dem er Juliana kennen lernt, Juliana, Engel der Demo, ätherisch wie eine Elfe aus einer anderen Zeit steht sie da, das weite Kleid aus indischer Baumwolle umspielt sanft ihren perfekten Körper – Juliana, denkt er, die Bullen müssen sie gleich überrennen, und er, Jakob, das Söhnchen, wie sie ihn anfangs genannt haben, er wird sie retten. Seine Juliana!
Nächste Woche wird ihre Scheidung rechtskräftig sein und jetzt kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er greift zum Hörer. Die Demo vor seinem Fenster, sie gilt ihm. Für bessere Arbeitsbedingungen. Ein Witz. In den Hintern geblasen bekommen sie es, das ist die Realität. Und wollen immer mehr. Früher, als sein Vater hier saß, wären sie nicht einmal auf die Idee gekommen.
Jakob Fröhlich ruft an, um die Polizei auf seine eigenen Arbeiter zu hetzen.“


Nein, das ging nicht. Dieser Schlusssatz war zu schwach. Die Zerrissenheit des Protagonisten, das Leitmotiv seines Romans, sie kam nicht zum Ausdruck. Hubertus sprang auf und hechtete ins Wohnzimmer. Er goss sich einen Whiskey ein und stürzte ihn hinunter. Er war gescheitert! Das Manuskript war nicht perfekt. Seit fünf Monaten feilte er am Schlusssatz, änderte, strich, erwog jedes Wort sorgsam, verwarf und suchte aufs Neue. Nichts. Seine Tränen rannen, er spürte die gleiche Verzweiflung wie sein Protagonist im Schlussabsatz. Es war sinnlos, er konnte es nicht einreichen, er hatte versagt. Hubertus trank einen zweiten Whiskey, einen dritten und starrte in das Kaminfeuer. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Das Glas in der Hand, rannte er zum Rechner, löschte dort die Dateien von der Festplatte und vom USB-Stick. Mit fahrigen Bewegungen riss er den Ordner mit Manuskript und Notizen aus dem Regal, stapelte die zehn CDs mit den Sicherheitskopien darauf; das Glas fiel zu Boden, er achtete nicht darauf. Er trug alles vor den Kamin, legte mehrere Holzscheite nach und wartete. Als das Feuer hoch genug loderte, warf er die CDs und den Ordner hinein und schloss die Glastür. Die silbernfarbigen Scheiben begannen zu knistern und schmolzen zu Klumpen, zäher Rauch quoll heraus. Während Hubertus lautlos weinend zusah, wie die Flammen hungrig am Ordner leckten, der Ordnerrücken sich verbog, das schneeweiße Papier sich erst kringelte, schwarz wurde; schließlich entflammte, fiel ihm der perfekte Schluss ein:

„Jakob Fröhlich steht auf. Er betrachtet das Portrait seines Vaters, den dunklen Anzug, die Weste, die Uhrenkette. Das Glas wirft sein Spiegelbild zurück. Vater und Sohn, Sohn und Vater, es ist kein Unterschied mehr erkennbar. Er lässt seine Uhrenkette los und greift zum Hörer. ‚Kommissariat Wernerstraße? Kommen Sie bitte sofort zu PharmCo, Inc. Mit allen Einsatzwagen. Eine außer Kontrolle geratene Demonstration. Danke.’
Minuten später steht er am Fenster und beobachtet mit Genugtuung, wie die randalierenden Arbeiter mit Knüppeln zusammengetrieben werden.“


Hubertus schreckte aus seiner Trance auf. Was hatte er getan? Er würde zum Gespött – nein, alles, nur das nicht. Er sah nur einen Ausweg.

Er wog den Revolver seines Großvaters kurz in der Hand.
Was war der perfekte Ansatz: Schläfe, oder Mund?

Letzte Aktualisierung: 24.01.2007 - 21.46 Uhr
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