Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Januar 2007
Die Welt in der Kiste
von Manuela Gantzer

Schwungvoll reiĂźt Martin die HaustĂĽr auf.
„Hallooo! Jemand da?“
Er hält den Atem an und lauscht angestrengt. Alles ruhig.
Niemand wird merken, dass er eine Stunde früher nach Hause gegangen ist. Ein kurzer Blick in die Küche verrät, es wird heute Tiefkühlpizza geben.

Während sein Mittagessen im Ofen langsam auftaut, sitzt Martin längst vor dem Monitor und begrüßt seine Freunde.

Hi Leute! I’m back!

He Kumpel! Wurde auch Zeit.

Tom, voll Verlass auf dich. Bist immer da. Hatte echt ätzenden Tag.

Why? Stress mit Alten?

Keiner da der nervt *freu*. Oller Prof in Schule nölte rum. Hab nicht gecheckt was er will. War total in new Strategie für Clan vertieft. Apropos Strategie …


Einige Zeit später, nach hitzigen Diskussionen mit Tom während des Spiels, macht sich Martins Hunger mit einem deutlichen Knurren bemerkbar.
„Shit! Die Pizza!“, entfährt es ihm. Er sprintet die Treppe hinunter, wo er hustend in eine dicke Rauchwolke eintaucht. Bevor Martin den Ofen ausschaltet, öffnet er das Fenster und ringt nach Luft.
Seine Pizza sieht wie eine verkohlte Frisbee-Scheibe aus. Am besten gleich draußen in der Mülltonne entsorgen. Als er noch immer leicht hustend die Haustür aufstößt, kommt ihm seine Mutter entgegen.
„Martin! Um Himmels willen! Was hast du jetzt wieder angestellt?“
„Ähh ... Die Pizza ist nur etwas zu kross geworden.“
„Sehr witzig. Sieh dir den Ofen an, der ist komplett verrußt. Wo warst du mit deinen Gedanken? Sicher wieder bei deinem Online-Spiel. Was anderes geht nicht mehr in deinen Kopf. Na warte, wenn das dein Vater hört, dann schmeißt er deinen Computer aus dem Fenster.“
Beinahe hätte Martin etwas erwidert, überlegt es sich jedoch anders. Da quatscht er lieber mit Tom, der versteht ihn wenigstens.

Na, missing me?

Martin! Fuck! Kannst doch nicht mitten im talk abbiegen.

Sorry, aber Pizza rief. Zu lang im Ofen gewesen. Dann kam meine Ma und machte Terror :-(

Shit happens. Wennst Station zum Untertauchen suchst – ruf ich krass „Hallo“

Wow echt???? Das wär geil! Ma hetzt 100pro meinen Dad auf mich. Der sperrt PC und ich bin out. Das ALLERLETZTE!!!! Nee, nicht mit mir!

Dann pack und hau heute Nacht ab. Ich hab eine eigene Bude. Wird sicher cool!


Per Chat tauschen sie ihre Handynummern und Martin erhält eine detaillierte Wegbeschreibung zu Toms Wohnung.

Als Martin zum Abendessen in die Küche kommt, sitzen seine Eltern bei Tisch. Seine Mutter wischt schnell ihre Tränen weg.
Martins Vater steht auf, streicht dabei liebevoll ĂĽber die Schulter seiner Frau.
„Professor Stein hat angerufen.“
Die Stimme seines Vaters klingt gepresst.
„Sag mal spinnst du jetzt komplett, einfach eine Stunde früher von der Schule heimzugehen?“
„Wieso? Mir war schlecht. Bei den ganzen Idioten dort kommt einem das Kotzen.“
Der strafende Blick seines Vaters bringt ihn zum Schweigen.
„Deine Mutter hat mir erzählt, was heute Mittag passiert ist. Alles nur wegen des blöden Online-Spiels. Deine Noten werden immer schlechter, weil du jede freie Minute vor dem PC verbringst. Damit ist jetzt Schluss.“
„Klar. Alles, was ihr nicht kennt, ist blöd. Bei diesem Spiel sind wir eine Gemeinschaft. Meine Freunde bewundern und respektieren mich. Für euch bin ich nur der Trottel, der nichts zustande bringt. Die Leute meines Clans sind mehr Familie für mich als ihr.“
„Hast du den Verstand verloren? Dein Vater und ich arbeiten bis zum Umfallen, damit wir dir etwas bieten können, und was ist der Dank? Ständig nörgelst du an allem herum und ein richtiges Gespräch kann man seit Monaten nicht mehr mit dir führen.“, schreit seine Mutter.
„Was faselst du überhaupt von einem Clan und die sind mehr Familie als wir? Spinnst du? Wer bezahlt deinen Computer, deine Klamotten, dein Essen? Sicher nicht dieser Clan oder habe ich etwas verpasst?“
„Ihr habt keine Ahnung. Wir sind dort in Gruppen zusammen, die nennen sich Clans und jedes Mitglied unterstützt das andere. Ohne wenn und aber. Das sind Leute aus der ganzen Welt. Da geht es nicht um Alter, Religion, Hautfarbe oder ähnliches. Dort sind Leute dabei, die so alt sind wie ihr, aber bei weitem nicht so spießig und verbohrt. Ihr …“
Die Faust seines Vaters saust mit voller Wucht auf den Tisch. Die Gläser schwanken gefährlich.
„Spießig! Verbohrt! Ach ja? Auf jeden Fall dumm genug dir einen neuen PC zu kaufen. Aber das ändert sich. Versprochen!“

Sein Vater rennt wutentbrannt in Martins Zimmer und konfisziert den Computer. Eine Woche ohne PC lautet das Urteil.
Ohne viel Gegenwehr nimmt Martin seine Strafe entgegen und verabschiedet sich mit der Ausrede, dass er einfach viel zu mĂĽde fĂĽr weitere Diskussionen ist.
Nach wenigen Stunden Schlaf macht Martin sich auf den Weg. Er kann es gar nicht erwarten, endlich seinen besten Freund zu treffen. Leider kann Tom ihn nicht von der Bushaltestelle abholen. Martin ist etwas enttäuscht, aber es gibt bestimmt einen triftigen Grund dafür.

***

Der lange ersehnte Augenblick ist da. Martin steht vor dem Haus, in dem Tom lebt.
Er atmet noch einmal tief durch, bevor er auf die Klingel drĂĽckt.
Aus der Gegensprechanlage ertönt eine leise Stimme.
„Martin?“
„Natürlich. Erwartest du sonst noch jemanden um diese Uhrzeit?“, flüstert dieser zurück.
„Geh in den ersten Stock. Die zweite Tür links ist für dich geöffnet.“
Quietschend geht das Tor auf. Unsicher blickt Martin sich um, bevor er das Haus betritt. Langsam steigt er die Treppen hinauf und sieht die fĂĽr ihn offen stehende TĂĽr.
Tom ist nicht zu sehen.
Martin stößt die Tür weiter auf. Ein Schwall abgestandene Luft vermischt mit dem Geruch alter Pizza strömt ihm entgegen. Übelkeit steigt in Martin auf und lässt ihn kurz stocken, bevor er sich endgültig ins Innere der Wohnung wagt.

„Hallo? – Tom?“
„Hierher, Martin. Immer meiner Stimme nach. Bin am Ende des Flurs.“
‚Verdammtes Versteckspiel, was der mit mir treibt. Noch dazu um diese Uhrzeit.
Jetzt ist aber Schluss!’ Zielstrebig geht Martin den Gang entlang und betritt einen in schummriges Licht getauchten Raum.
Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen, schweift sein Blick durch das Zimmer und wird sofort von dem gigantischen Monitor in Bann gezogen. Dieser lässt selbst den Schreibtisch, der sich beinahe über das halbe Zimmer erstreckt, kümmerlich wirken.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs steht ein zweiter Bildschirm, der aber nicht annähernd so groß ist. Weitere elektronische Geräte, die auf dem Tisch verstreut liegen, kann er nicht genau erkennen.
Widerwillig löst sich sein Blick und setzt den Streifzug durch ein Zimmer ohne Bilder und Pflanzen fort. Selbst in diesem Licht wirkt der Raum kalt und leer.
Links von Martin steht ein Regal mit Flaschen. Neben dem Schreibtisch entdeckt er einen KĂĽhlschrank und endlich lugt hinter dem riesigen Monitor das Gesicht von Tom hervor.

„He Martin! Komm rein und schau dich ruhig um. Nur nicht schüchtern. Du kannst hier alles benutzen, dir Getränke nehmen, was immer du willst und brauchst.“
„Der Monitor ist echt der Hammer!“, mehr bringt Martin nicht hervor.
Ehrfurchtsvoll nähert er sich diesem anbetungswürdigem Gerät.
„Mein neuestes Baby.“ Tom streicht grinsend über den Bildschirm.
„Und cool dich mal live zu sehen! Aber jetzt hock dich hin und geh online. Dann lassen wir es krachen.“
„Ich dachte eigentlich, wir quatschen erst bisschen.“
„Sicher. Machen wir nebenbei.“
Martin greift sich eine der Flaschen aus dem Regal und nimmt auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Tom verschwindet hinter dem Bildschirm völlig aus seinem Blickfeld.
„Sag mal, wie kannst du dir das alles leisten?“
„Brauch doch nicht viel. Mein Alter hat die Wohnung für mich gekauft – schlechtes Gewissen, schätz ich mal. Er war nie da. Bei keiner Geburtstagsfete oder so. Jetzt zahlt sich das für mich aus. Außerdem krieg ich Kohle für Zugänge, Gegenstände und sowas. Ich geh nie aus. Das bisschen Futter und ein paar Klamotten sind locker drin.“
„Du hockst ständig in deiner Bude? Echt immer?“
„Na ja, einmal pro Jahr mach ich nen Pflichtbesuch bei meiner Mam. Weihnachten.“
„Mehr nicht? Keine Party? Willst du nicht einfach so mal raus?“
„Wozu? Meine Mam kommt an meinem Geburtstag vorbei. Dann versucht sie mich zu überreden wieder in die reale Welt zurückzukehren. Ha! Guter Witz, was?“
„Deshalb bist du immer online … Sag mal, was ist das eigentlich für ein komischer Apfelsaft. Der schmeckt irgendwie – ähh.“
„Apfelsaft? Ich habe überhaupt keinen … Hast du den vom Regal dort drüben genommen?“
„Ja. Wieso?“
Tom prustet los.
„Mann, du kippst dir gerade meine Pisse rein. Das Badezimmer ist übrigens hinter dir.“
Martin rennt würgend ins Bad. Während er sich übergibt, hört er Tom noch immer lachen.
Kreidebleich kehrt Martin ins Zimmer zurĂĽck.
„Verdammt! Warum hast du deinen Urin in Flaschen rum stehen? Bist du meschugge?“
„Nee, quatsch doch nicht. Ich verlasse den Raum fast nie. Während des Spiels pinkle ich nebenher in Flaschen. Einmal pro Woche kommt eine Putzfrau und leert die Dinger aus.“
„Sorry, aber DAS ist selbst mir zu viel. Ich hau ab. Das ist mir alles zu gruselig.“
Endlich blickt Tom kurz vom Spiel auf.
„Schade. Ich dachte, du wärst so wie ich. Aber bisher hat es keiner lange bei mir ausgehalten. Wünsch dir was! See you on…“

Martin stolpert die Treppe hinunter. Er läuft und läuft, bis er atemlos die Bushaltestelle erreicht. Dort sinkt er erschöpft zu Boden. Toms bleiches Gesicht taucht vor ihm auf. Er denkt an den düsteren Raum, die kargen Wände. Unwillkürlich fallen ihm die Flaschen ein und er hört Toms Lachen. Martin schüttelt sich und würgt. Die Scheinwerfer des ankommenden Busses blenden ihn. Er springt auf. Bloß weg von hier!



Letzte Aktualisierung: 27.01.2007 - 20.04 Uhr
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