Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Januar 2007
Erdbeerroter Ruhestand
von Jasmin Seidl

Oberschullehrerin Madame P. saß im Zimmer des Direktors und wagte kaum zu atmen. Sie wusste, weswegen sie hier war und hielt beschämt die Augen niedergeschlagen. In ihrer Hand drehte sie ein leeres Erdbeermarmeladenglas. Hier und da schimmerte es rot um ihren Mund.
„Sehr verehrte Kollegin, ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll“, setzte Monsieur Q. an. „Wie Sie wissen, haben ich, sowie die komplette Belegschaft unseres Collège, in all ihren Dienstjahren keinen Anlass zur Kritik an ihrer Person gefunden. Jedoch haben sich in den letzten Wochen Bedenken angehäuft, die mir nicht nur von ihren Kollegen, sondern auch von den Eltern der Schüler, ja sogar von dem einen oder anderen verantwortungsvollen Elève vorgetragen wurden. Um es kurz zu machen, Madame P., wir haben in unserem Collège keinen Platz für Abartigkeit. Mir fällt es äußerst schwer, gerade Sie in diesem Zusammenhang konfrontieren zu müssen, wo wir doch alle wissen, wie rigoros Sie das schlechte Benehmen der Schüler stets mit Hartnäckigkeit bekämpft haben. Ich muss Sie bitten, Ihre Kündigung einzureichen.“
Die Peinlichkeit der Situation gebot äußerste Diskretion und so unterschrieb Madame P. ihren Austritt aus der Belegschaft des Collège Planace.
Madame P. ärgerte sich über Monsieur Q. Er nannte den „Zusammenhang“ nicht einmal ihr gegenüber beim Namen und dabei war es doch offensichtlich: Die Erdbeermarmelade war ihr zum Verhängnis geworden.
Sie gab es nur ungern zu, doch seit einigen Monaten brachte ihr die rote Leckerei eine derart überwältigende Zufriedenheit, dass sie immer hemmungsloser zum Marmeladenglas gegriffen hatte.
Schweigend erhob sich Madame P. und trottete aus dem Zimmer. Sie würde ihre Ordner abholen und die Fächer leeren, die kleine Ecke im Pausenraum der
Belegschaft räumen und ihre Schlüssel abgeben.
Als sie das Lehrerzimmer betrat, verstummte das allgemeine Palaver. Nacheinander gingen die Lehrer zur Seite, wie ein Schiff teilte Madame P. die Gruppe in zwei Hälften. Alle Augen folgten ihr. Köpfe senkten sich oder drehten sich weg. Madame P. vermied es, auch nur einen ihrer ehemaligen Kollegen anzusehen.
Endlich kam sie zu dem Ecktisch am Fenster. Madame P. wünschte sich, die
Anderen nähmen ihre Gespräche wieder auf. Doch die wollten ihr den Gefallen
nicht tun und so begann sie, unter den teils entsetzten, teils mitleidigen Blicken, die
Unzahl leerer Marmeladengläsern vom Tisch in eine große Tasche zu packen.

Ganz allmählich hatte sich die Leidenschaft für Erdbeermarmelade eingeschlichen.
Eines Tages kam Madame P. aufgelöst vom Collège nach Hause und konnte sich nicht mehr beruhigen. Seit ihrem Dienstantritt vor vielen Jahren führte sie ihre Arbeit mit der größtmöglichen Disziplin und Ordnungsliebe aus und war dabei nicht ein einziges Mal an ihre Grenzen gestoßen. Doch das sollte sich ändern.
Es war ungeheuerlich gewesen, wie sich der Bengel Jonathan ihrer Zurechtweisung widersetzt hatte! Nach langem Zetern trat er ihr vors Schienbein und fügte sich auch einem Verweis aus dem Klassenraum nicht. Schließlich zerrte sie den Jungen am Arm und unter großem Geschrei in Monsieur Q.s Zimmer. Die Haare hingen wild in ihre Stirn, als sie die Tür schwer atmend hinter sich schloss. Mit wenigen Worten erklärte sie dem Direktor den Sachverhalt und ließ den Jungen zur Strafe gleich dort.
Damit hätte sie den Fall eigentlich abschließen können. Doch seltsamerweise ging ihr der Streit mit dem Jungen nach und diese plötzliche emotionale Regung war ganz
außergewöhnlich! Madame P. meldete sich umgehend bei der Sekretärin des
Direktors krank und verließ das Schulgebäude im Sturmschritt.
Nun hatte sie nicht nur die Beherrschung verloren, sondern auch ihr Gesicht vor den Kollegen. Nie ließ sie sich mitten in einem Schultag beurlauben, schon gar nicht, weil sie anscheinend ein wenig aus der Façon geraten war! Doch Madame P. war dankbar, dass sie nach Hause gehen konnte. Sekretärin Demoiselle C. hatte sich sehr diskret verhalten.
Zu Hause musste sich Madame P. erst einmal setzen. Immer noch schnaufend streifte sie die Lederpumps von den Füßen und öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Kopfschüttelnd erinnerte sie sich an den Vorfall.
Du liebe Güte, was ist das nur für ein Morgen! Ich muss wahnsinnig gewesen sein, die Klasse ohne Aufsicht zurück zu lassen! Vielleicht rufe ich Monsieur Q. an und entschuldige mich für mein Verhalten?
Doch Madame P. entschied sich dagegen.
Nein, das wird nicht gehen. Ich kann es jetzt nicht wieder geradebiegen. Warum habe ich nur die Beherrschung verloren?
Beim Gedanken an den zeternden Lausebengel zuckte Madame P. zusammen.
Das ist mir ja noch nie passiert! Ich muss mir etwas zur Beruhigung suchen!
Tatsächlich war dies weniger ein eigener Entschluss, als vielmehr eine unbewusste
Reaktion. Wie von äußeren Mächten beeinflusst, zog Madame P. ein Glas Erdbeermarmelade aus dem Regal.
Erdbeermarmelade? dachte Madame P., als sich ein kleiner Kaffeelöffel bereits in die klebrige Konsistenz bohrte.
Ich kann doch nicht herum sitzen und Marmelade aus dem Glas essen!
Aber da verschwand die erste Portion bereits zwischen ihren Lippen. Immer öfter fand der kleine Löffel den Weg ins Glas und immer schneller flog er hinauf zum Mund der erstaunten Madame P. Bald ergab sie sich willenlos dem Verlangen ihrer Zunge nach mehr von der süßen Köstlichkeit, noch nie hatten ihre Geschmacksknospen derart jubiliert. Der Rücken straffte sich und die Brust hob sich unter der weißen Bluse. Madame P.s Augen weiteten sich und immer lautere Seufzer entschlüpften ihrer Kehle.
„Einfach göttlich, diese Erdbeermarmelade!“, stöhnte Madame P., als sie den Löffel beiseite legte. Das Glas war komplett leer gegessen.
Später hätte Madame P. nicht sagen können, wie lange sie in stiller Andacht dasaß. Unliebsame Gedanken verschwanden wie eine Landstraße in dichtem Nebel, die Auseinandersetzung mit dem Schüler Jonathan lag weit zurück und auch den Gefühlsausbruch schien es nie gegeben zu haben. Zufrieden machte sich Madame P. bettfertig und schlief bis in die frühen Morgenstunden ohne Unterbrechung durch.
Der nächste Schultag verging wie im Flug. So unbeschwert hatte sich Madame P. noch nie gefühlt! Einige Male musste sie ein Lächeln unterdrücken und acht
geben, dass sie nicht versäumte, besonders böse auf Jonathan herab zu schauen. Als die Schulglocke ertönte, fiel es ihr schwer, nicht sofort den Raum zu verlassen, sondern wie gewöhnlich den letzten Nachzügler abzuwarten. Endlich hatten alle das Klassenzimmer verlassen. Sie schloss in Windeseile ab und stürzte nach Hause.
Erdbeermarmelade!
Noch vor Unterrichtsbeginn hatte sie sich auf den Weg zum Supermarkt gemacht und drei weitere Gläser gekauft. Drei Gläser, sie konnte es kaum erwarten! Als sie an der Kasse bezahlte, merkte sie, wie sich ihre Wangen röteten.
Madame P. zog ein Glas aus ihrer Schultasche, langte nach dem Kaffeelöffel, setzte sich an den Küchentisch und begann sofort zu essen. In den folgenden Wochen steigerte sich Madame P.s Marmeladenverbrauch von einem auf vier Gläser pro Tag und schließlich von achtundzwanzig Gläsern die Woche auf fünfzig. Bald war sie nicht mehr dieselbe. Das alt gediente Kostüm, das Madame P. seit fünfundzwanzig Jahren trug, war an den Nähten aufgeplatzt und die Lederpumps passten nicht mehr. Doch die genannten Mengen Erdbeermarmelade bezogen sich nicht ausschließlich auf Madame P.s Verzehr. Sie hatte bald ganz andere Ideen.
Madame P. merkte, dass es ihr immer unwichtiger erschien, den Schülern Disziplin beizubringen oder sie zur Ordnung zu rufen, wenn sie in ihrem Benehmen entgleisten. Das lag nicht allein an der Schwerfälligkeit, zu der ihr neuer Leibesumfang sie nötigte. Madame P. erlebte vielmehr eine innere Revolution! Was sie früher erzürnen ließ, reizte sie nun zum Lachen; wo sie sonst verärgert das Kinn gereckt hatte, zuckte sie gleichgültig mit den Achseln. Ihre Nachmittage verbrachte sie damit, sich körperlicher Pflege zu unterziehen. Nichts auf der Welt interessierte sie mehr, als täglich viele Stunden lang zu baden, sich zu massieren oder Gesichtsmasken aufzulegen. Zu alledem verwendete sie nur eine Zutat. Madame P. schwor auf die Tiefen reinigende Wirkung der klebrigen Erdbeermarmelade und aalte sich ausgiebig in der gefüllten Badewanne. Aus der hageren, verhärmten Oberschullehrerin war ein rotes Walross geworden.
Das Klima in der Belegschaft des Collège Planace hatte sich nicht weniger verändert. Die anderen Lehrer hielten die neu entbrannte Leidenschaft der Madame P. anfangs noch für gut. Endlich schien diese strenge Person menschlicher zu werden. Doch die Zügellosigkeit, mit der die Kollegin seit Neuem auch im Lehrerzimmer ihre Bedürfnisse befriedigte, machte ihnen zunehmend Angst. Auch erfuhren sie von den heftigen Beschwerden der Eltern, die die neuen Erziehungsmethoden für äußerst schlecht hielten. Als ein Sonderrat einberufen wurde, stimmte das gesamte Kollegium für die Entlassung der Madame P.

Scheppernd landete endlich auch das letzte Glas in Madame P.s Tragetasche. Unter ihren nervösen Händen waren drei Gläser zu Bruch gegangen und als sie sich ohne ein weiteres Wort ihren Weg aus dem Lehrerzimmer bahnte, knirschte es unter ihren Schuhsohlen.
Doch Madame P. lächelte, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Der Gedanke an den bevorstehenden erdbeerroten Ruhestand hatte die Scham verpuffen lassen und erfüllte sie mit einer Ruhe, die ihr Mut machte.
Zu spät bemerkten die Lehrer unterdessen die feine rote Spur, die von der
Zimmerecke zur Tür führte und verteilten im Verlauf des Tages überall im Haus kleine Reste von Erdbeermarmelade.

Letzte Aktualisierung: 25.01.2007 - 21.18 Uhr
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