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Januar 2007
LebenslÀnglich
von Astrid Steiner

Lautlos hinter GitterstÀben
Wandert rastlos sie umher
RĂŒttelt an den EisenstĂ€ben
Findet keinen Ausgang mehr
All ihr Suchen
All ihr Fluchen
StÀrkt den Kerker nur noch mehr

Lautlos hinter GitterstÀben
Wandert rastlos sie umher
Und nach jahrelangem KĂ€mpfen
Will ihr Körper nun nicht mehr
MĂŒde beugt sie sich dem Schicksal
Nur noch selten
Wandert hinter StÀben
Rastlos
Lautlos sie umher.


Flora saß aufrecht im Bett. Nach Luft ringend schlug sie um sich. Langsam fand sie zurĂŒck in die RealitĂ€t.
Seit Wochen lag sie hier, angeschlossen an SchlÀuche und Infusionen, schwach, abgemagert.
Immer wieder ratterten die Worte, angelehnt an ihr Lebensgedicht „Der Panther“ von Rilke, durch ihr Denken. Warum ließ man sie nicht in Ruhe sterben? Erschöpft schloss sie die Augen und wie so oft begann sich ihr Leben wie ein Film in ihrem Inneren abzuspulen:
Es war im Sommer 1965.

Ein MĂ€dchen- gesund, schön, etwas schĂŒchtern, gerade dabei eine Frau zu werden.
Gleich zu Ferienbeginn war sie fĂŒr eine Woche in einem Ferienlager der Katholischen Jungschar. Das bedeutete Gebete, Vorschriften, aber natĂŒrlich auch Spaß, besonders abends im Matratzenlager. Ihre Freundinnen waren zu allerlei Unfug aufgelegt. Jede Nacht wurden kleine Streiche gespielt, unter Bettdecken getuschelt, gelesen, gekichert. Eines Nachts schreckte Flora hoch. BeschĂ€mt stellte sie fest, dass ihr Bettlaken nass war. So etwas war ihr schon lange nicht passiert! Voll Ekel riss sie das Tuch von der Matratze. Plötzlich ging das Licht an. Aus jedem Bett tönte ein Kichern und Gackern. „Ätsch, reingefallen! Das ist ja nur Wasser! Wir wollten dich nur ein bisschen necken!“ quietschte Johanna, die JĂŒngste der Gruppe, in der Hoffnung auch Flora wĂŒrde nun einstimmen in das fröhliche Lachen. Zum Entsetzen aller aber fing Flora an zu schreien, riss sich das Nachthemd vom Leibe, stĂŒrzte in die Dusche und begann sich wie wild zu schrubben. Immer wieder heulte sie laut auf ----Nie wieder werde ich sauber, nie wieder“ immer panischer wurde ihr Reinigungsritual, bis sie schließlich von der herbeigerufenen Gruppenleiterin weggeholt wurde. Schluchzend brach Flora zusammen. ErzĂ€hlte, dass die MĂ€dchen fremden Urin in ihr Bett geschĂŒttet hĂ€tten. Dass es sich nur um warmes Wasser gehandelt hatte, davon war sie nicht zu ĂŒberzeugen. Flora weigerte sich in der Unterkunft zu bleiben. Ihre Eltern mussten sie noch in der Nacht nach Hause holen.
Ahnungsvolles Grauen erfĂŒllte das MĂ€dchen: eine dunkle Macht, ein DĂ€mon hatte von ihr Besitz ergriffen.
Noch war sie jung, konnte ihm zeitweise widerstehen, auch wenn er Tag fĂŒr Tag seinen Tribut forderte, sie unzĂ€hlige Male die HĂ€nde waschen ließ, bis ihr die Haut in Fetzen von den Fingern hing. Sie spĂŒrte den Schmerz nicht, sie wusste nur, sie musste den Hunger des DĂ€mons stillen, der immer fordernder wurde. Er verlangte von ihr GegenstĂ€nde, die sie
„unrein“ berĂŒhrt hatte, zu vernichten, ließ sie im Glauben, dass sonst durch ihre Schuld ein UnglĂŒck passieren wĂŒrde.
Er weckte sie mitten in der Nacht, wenn sie erschöpft meinte, endlich Ruhe gefunden zu haben, um sie mit Zahlenreihen, die ununterbrochen im Kopf tickten, zu quĂ€len. Nie, aber wirklich nie war er zufrieden mit dem, was sie tat, dachte oder fĂŒhlte.
Immer stÀrker vereinnahmte er ihr Leben.
Ihre ehemals ausgezeichneten Leistungen in der Schule reichten gerade noch, dass sie den Abschluss schaffte. Sie schlief wenig, aß vor Erschöpfung kaum noch.
Wurde zur Außenseiterin.
Alles drehte sich nur noch darum den DĂ€mon zufrieden zustellen.
Monat fĂŒr Monat wurde Flora stiller, magerer, schwĂ€cher.
Schließlich ernĂ€hrte sie sich nur noch von Wasser und SalatblĂ€ttern. Ihre wirren Gedanken gaukelten ihr vor, dass, wenn sie nur dĂŒnn genug wĂ€re, der DĂ€mon vielleicht sein Interesse an ihr verlieren wĂŒrde. Doch genau das Gegenteil geschah. Je schwĂ€cher die junge Frau wurde, desto krĂ€ftiger spielte der DĂ€mon seine Macht gegen sie aus.
Flora zĂ€hlte, wusch, kontrollierte, hungerte, erbrach sich, bis sie eines Tages einfach in sich zusammensackte. Ihre verzweifelten Eltern, die hilflos den Verfall ihres Kindes mit ansehen hatten mĂŒssen, brachten sie in eine Klinik, in der sie mĂŒhselig lernte, wie man sich gegen den DĂ€mon stellen kann, darf und muss.
Nach einem Jahr schien es ihr besser zu gehen. Sie durfte die Klinik verlassen. Dachte schon, der DÀmon hÀtte nun endlich das Weite gesucht. So schien es auch. Eine Woche, ein Monat, ja sogar fast drei Jahre vergingen, in denen sie nur selten heimgesucht wurde von den dunklen MÀchten, die immer noch irgendwo in ihr schlummerten.
Bis zu dem Tag, drei Jahre nach ihrer Entlassung aus der Klinik, als sie von einer Freundin zu einer Gartenparty eingeladen wurde. Der Abend wurde immer fröhlicher, ausgelassener.
Gegen Mitternacht –es war eine laue Julinacht- begannen einige der Partybesucher in den Pool zu springen. Der Alkohol zeigte seine Wirkung. Ehe sich Flora ins Haus retten konnte,
wurde auch sie in die warmen Fluten gestoßen. Panik ĂŒberfiel sie. Erinnerungen tauchten auf.
Fluchtartig verließ sie unter lautem Gegröle und Buhgerufe den Ort des Geschehens.
Daheim stellte sie sich fĂŒr Stunden unters heiße Wasser, bis ihre Haut wie Feuer brannte. Da war er wieder der DĂ€mon. Mit aller Macht war er zurĂŒck, war aus seinem Schlaf erwacht und forderte sein Recht. Unerbittlich begann die verhĂ€ngnisvolle Spirale sich erneut zu drehen: waschen, putzen, zĂ€hlen- ohne Unterbrechung, ohne Aussicht darauf den DĂ€mon jemals zufrieden zu stellen.
Wieder magerte sie ab, der Stress in ihrem Kopf ließ kein normales Essen zu.
Nach einem Jahr Klinik. Entlassung ein halbes Jahr spÀter.
Erneut der Vorsatz, es diesmal zu schaffen.
Sie konnte ihr Gewicht halten, doch der DĂ€mon des Zwanges blieb in ihr.
Es kamen Jahre, in denen er stiller war, sie fast normal leben ließ. Sie heiratete, bekam eine Tochter, ĂŒbte ihren Beruf aus. Als ihre Tochter fĂŒnfzehn war, wurde Flora wieder schwanger.
Doch sie wollte dieses Kind nicht, wollte nicht zunehmen. Sie erbrach sich nach jeder Mahlzeit, beschwichtigte den besorgten Ehemann mit SchwangerschaftsĂŒbelkeit. Schließlich verlor sie das Kind. SchuldgefĂŒhle gaben dem DĂ€mon neue Nahrung.
Drei Jahre spĂ€ter zog Gloria, ihre Tochter zum Studieren in eine andere Stadt. Ihr Mann hatte sich lĂ€ngst von ihr zurĂŒckgezogen. Der DĂ€mon herrschte nun uneingeschrĂ€nkt.
Eines Tages brach Flora wieder zusammen. Sie wog nur noch 38 kg. FĂŒhlte sich zu dick, zu minderwertig, zu hĂ€sslich, zu ausgelaugt fĂŒr das Leben. Wurde wieder gegen ihren Willen in die Klinik eingewiesen.

Doch diesmal wollte sie nicht mehr. Sie war am Ende. Wollte endlich den KÀfig ihres Lebens hinter sich lassen. Sie nahm Stift und Papier und schrieb die Zeilen, die ihr immer und immer wieder durch den Kopf gegangen waren nieder. Lautlos hinter GitterstÀben
.
AllmĂ€hlich wurde es still in ihr. BedĂ€chtig löste Flora die SchlĂ€uche, mit denen sie an die lebenserhaltenden Infusionen angeschlossen war, verließ ihr Bett, strich die Laken glatt, öffnete das Fenster, breitete die Arme aus und flog, flog endlich in die so lange ersehnte Freiheit.

Astrid Steiner

Letzte Aktualisierung: 23.01.2007 - 21.11 Uhr
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