Der Tod aus der Teekiste
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Januar 2007
Sheritas Methode
von Gertraude Schreiber

„Halt! Vorsicht!“
Ein gellender Schrei, quietschende Bremsen, ein Hund jault auf. Lena fährt aus dem Schlaf hoch, tastet nach der Brille. 06.07 Uhr verrät der Digitalwecker.

„So was nennt man ruhige Anwohnerstraße!“ knurrt Lena, während sie sich aus dem Bett schält. Sie fährt mit den Fingern durch die wirren Haare und tappt zur Terrassenbrüstung. Ihre Zehen krümmen sich vor Kälte, die Morgenbrise bläst ihr T-Shirt auf. Lena bibbert. Ein Blick auf das Nebenhaus verrät, dass sich Lehmanns samt Hund kurz vor dem Start in den Urlaub befinden. Dem Sammelsurium nach zu urteilen, das sich um die Familienkutsche auftürmt, wird es noch ein Weilchen dauern, bis es los geht. In diesem Moment stolpert Klein-Benjamin mit einer Plastikkiste aus der Haustür, übersieht ein Gepäckstück, und ein Schauer bunter Duplosteine prasselt auf Gehweg und Straße. Sherita, Lehmanns graue Katze, sucht kreischend das Weite. Frau Lehmann stürzt aus der Garage hervor. „Benniiieee!“

Lena flüchtet ins Haus. Sie schwört zum x-ten Mal: “Keine Kinder! Keinen Hund! Keine Katze! Niemals!“

Als sie gefrühstückt hat, ist die Familie verschwunden und auf der Straße Ruhe eingekehrt. Nur zwei Duplosteine sind zurück geblieben. Und Sherita. Sie schnuppert, reibt ihren Kopf an einem der Klötzchen und legt sich daneben. Ihr Blick wandert umher, bleibt an Lenas Terrasse hängen. Irgendwie sieht sie nachdenklich aus.

Lena begibt sich an ihre Arbeit. Der Artikel ‚Obsession – intensiv betriebene Leidenschaft oder psychopathologische Zwangsstörung?’ muss fertig werden. Sie beginnt zu tippen:
‚In der Psychologie wird Obsession als eine mit Angst verbundene Zwangsvorstellung oder -handlung bezeichnet. Es kann sich dabei auch um die Besessenheit eines Menschen von Personen, Tieren oder Gegenständen handeln. Diese kann den Betroffenen immer wieder dazu zwingen, dem verehrten Objekt nahe zu sein, es zu besitzen und zu kontrollieren. Das Opfer ...’

Blitzartig taucht von links ein Schatten auf. Ehe Lena weiß, wie ihr geschieht, steht Sherita auf dem Schreibtisch, dreht sich zweimal um die eigene Achse und lässt sich neben der Tischlampe nieder. Sie drapiert ihren Schwanz über die rechte Pfote und blinzelt. Das „Verschwinde!“ gelingt Lena angesichts dieser Dreistigkeit nur pantomimisch. Sie greift nach dem Lineal, um die Katze damit vom Tisch zu schubsen. Sherita stellt sich auf die Hinterbeine und spielt Boxkampf. Doch Lena ist nicht nach Spielen zu Mute. Sherita guckt sie aus goldgelben Augen schräg an, mit einer Pfote hangelt sie das Lineal zu sich heran. Lena nimmt es ihr weg. Die Katze spaziert über den Schreibtisch, kickt im Vorbeigehen den Anspitzer beiseite und verschwindet hinter dem Monitor. Nur die Ohren und eine zitternde Schwanzspitze lugen hervor.

Entschlossen steht Lena auf, um den Eindringling hinaus zu befördern. Sie ergreift die Katze mit beiden Händen und hievt sie über den Monitor. Sherita wehrt sich wütend und fährt die Krallen aus. „Aua! Mistvieh!“ Die Katze landet auf der Tastatur, was ein wildes Durcheinander auf dem Bildschirm zur Folge hat. Dann springt sie zu Boden, dreht Lena mit gesträubtem Fell die Flanke zu und veranschaulicht, wie gefährlich groß sie ist. Ihrem weit geöffneten Raubtierrachen entfährt ein „Kchchch!“

Frau und Katze kreuzen die Blicke, bis die Klügere von beiden die Augen zu Schlitzen schließt, ein Weilchen abwartet und dann mit hoch erhobenem Schwanz um Lenas nackte Beine streicht. Unglaublich, wie sehr ein Katzenfell schmeichelt. Lena hockt sich vor Sherita hin.
„Geh zu Frau Scholl, die kümmert sich um dich, hat dein Frauchen gesagt. Ich kann dich nicht gebrauchen, hörst du? Niemand darf mich beim Arbeiten stören. Und überhaupt kann ich Katzen nicht leiden.“ Sherita reibt ihren Pelzkopf an Lenas Arm und schnurrt.

In diesem Moment klingelt das Telefon. Es ist Lenas Freund Alex, und sie vergisst ihren aufdringlichen Gast. „Ich kann dich am Wochenende nicht besuchen“, informiert er sie, „ich habe Freitagabend einen Termin. Willst du nicht zu mir kommen? Dann hätten wir trotzdem das Wochenende für uns.“ Lena ist einverstanden.
„Tschüss bis Morgen! Ich liebe dich!“
„Ich dich auch!“

Die Katze ist in einen Sessel gesprungen und beobachtet Lena aufmerksam. Erst nachdem das Gespräch beendet ist, klappt sie die Pfoten ein und schließt die Augen.
‚Sammelleidenschaft, künstlerisches Schaffen, auch die Liebe bzw. Hingabe an einen Menschen, an Tiere kann zur Obsession werden.’ schreibt Lena weiter. Wie üblich hat sie den Text beim Tippen leise mit gesprochen. Die Katze liegt mucksmäuschenstill, die Ohren in Horchstellung.
Ob auch Tiere eine obsessive Zuneigung entwickeln können? Das sollte ich noch recherchieren, nimmt sich Lena vor. Während sie sich auf ihre Arbeit konzentriert, schläft Sherita ein.

Die Sonne ist in der Zwischenzeit weiter gewandert und schickt ihre Strahlen durchs Westfenster. Lenas Magen vermeldet Hunger. Zögernd löst sie sich von ihrer Arbeit und steht auf, um sich etwas zum Essen vorzubereiten. Augenblicklich erwacht Sherita. Sie reckt sich, dehnt nacheinander alle vier Beine und will ihr in die Küche folgen. „Nein!“ Da ist Lena eigen. Sie wirft die Katze hinaus. Sherita kratzt eine Weile an der Tür, quengelt und keift, doch die Küche bleibt verschlossen.

Als Lena das Tablett mit dem dampfenden Essen auf die Terrasse trägt, sitzt die Katze auf dem Tisch und putzt sich. Das linke Hinterbein elegant ausgestreckt fährt sie mit ihrer Zunge daran entlang. Sie hält inne, als sie Lena entdeckt. „Hau ab!“ raunzt diese sie an. Stattdessen kommt Sherita näher, drückt ihren Kopf gegen Lenas Hüfte und hebt den Blick. Aus ihrer Kehle dringt ein leises Gurren. Lena ignoriert die Liebeserklärung. Sherita wird ihr lästig, sie will, dass sie verschwindet. Sherita faucht und haut zu. Aus Lenas Hand quellen Blutstropfen. Sie schlägt zurück, hat aber nicht denselben Erfolg. Die Katze springt zu Boden. Sie stellt sich auf die Hinterbeine, hakt eine Kralle in die Tischplatte und schnuppert am Tablett. Dann sinkt sie auf die Vorderpfoten und wendet sich ab, vegetarisch ist offensichtlich nicht ihr Fall. Sie schnellt auf die Brüstung und verschwindet durch das Gitter in den Hanggarten. Na endlich, Lena atmet auf.

Nach dem Essen arbeitet sie weiter. ‚Die Grenzen einer Obsession zur psychopathologischen Zwangsstörung sind fließend. Im Hintergrund lauert eine Aggressivität, die jederzeit unkontrolliert ausbrechen kann.’ Gedankenverloren betrachtet Lena die Kratzer auf ihrem Handrücken.

Dreitausend Wörter später liegt sie zufrieden und mit einem Buch vor der Nase im Sessel, als heran nahendes Katzengeplärre Sheritas Rückkehr verkündet. Mit einem letzten „Miau“ stolziert sie ins Zimmer und nimmt Lena ins Visier. Sie springt auf die Sessellehne und von dort auf ihren Schoß. Mit dunklen Pupillen blickt sie Lena an, während ihre Vorderpfoten emsig kneten. Dann kreiselt sie, ihr Schwanz fährt Lena durchs Gesicht - einmal, zweimal, noch einmal. Nach drei Umdrehungen lässt sich Sherita niederplumpsen.
„Du bist wirklich frech“, empört sich Lena. „Ich sollte dich hinaus werfen.“ Aber das klingt nur noch halbherzig. Unwillkürlich streichelt sie das seidige Fell. Sherita surrt wie eine Nähmaschine. Katzen haben ein gutes Gespür für Siege.

Lena vertieft sich wieder in ihren Krimi. La Capra, der psychopathische Sammler antiker Kunstschätze wird Opfer seiner Obsession. Wäre das nicht ein passender Aufhänger für ihren Artikel? Lena gähnt. Darüber wird sie morgen nachdenken.

Als sie sich erheben will, krallt sich die Katze an ihr fest, dann springt sie mit einem Unmutslaut auf den Boden. Lenas Versuch, sie nach draußen zu scheuchen, misslingt, da Sherita genügend Tricks kennt, um ihr zu entwischen. Schließlich resigniert Lena und geht ins Bad, gefolgt von der Katze, die sie nicht aus den Augen lässt. Später versucht sie, an Lena vorbei ins Schlafzimmer zu schlüpfen. Ein Aufschrei verrät, dass sie eine Pfote nicht schnell genug aus der Tür gezogen hat.

Endlich kehrt nächtliche Stille ein. Während von der Turmuhr zwölf Schläge herüber wehen, verschwindet die Mondsichel hinter dem Dächergewirr. Lena träumt von einem Verfolger, der ihr eine antike Vase aufdrängen will. Sie rennt weg, versteckt sich hinter einer Tür. Der Mann lässt sich nicht abschütteln. Er wummert gegen die Tür, immer wieder. Lena wacht schlagartig auf. Das ist kein Traum! Der Kerl steht vor ihrer Schlafzimmertür, wirft sich dagegen. Voller Entsetzen erinnert sie sich, dass sie die Terrassentür offen gelassen hat, damit die Katze hinaus kann. Nur langsam sickert der Verstand durch die Schlafreste in ihr Gehirn zurück. „Einbrecher? So ein Blödsinn!“ Lena atmet tief durch und wischt sich die feuchten Hände an der Bettdecke ab. Sie schleicht zur Tür, um nach der Ursache für das Gepolter zu sehen. Kaum hat sie sie einen Spalt weit geöffnet, witscht Sherita herein. Sie springt aufs Bett, lässt sich fallen und vergräbt ihre Schnauze zwischen den Pfoten. Lena klappt den Mund zu, kriecht ebenfalls ins Bett zurück und erkämpft sich ihre Zudecke. Nur diese eine Nacht, schwört sie sich, morgen bin ich sowieso bei Alex.

Am nächsten Morgen steckt Lena voller Tatendrang. Sie freut sich auf das Wochenende mit ihrem Geliebten. Vormittags arbeitet sie an ihrem Artikel und erledigt verschiedene Einkäufe. Sherita ist zum Glück verschwunden. Sie taucht jedoch auf, als Lena ihre Reisetasche aufs Bett stellt und anfängt einzupacken. Die Katze beobachtet die Szene. Sie schnuppert, guckt in die Tasche, angelt ein Seidenhöschen heraus. Ständig umstreicht sie Lenas Beine, maunzt, ist sichtlich nervös. Lena beachtet sie nicht, ihre Gedanken sind bereits auf dem Weg zu Alex. Sie holt ihre Windjacke aus der Garderobe und legt sie zum Schluss auf die gepackte Tasche. Mit einem „Ratsch!“ zieht sie den Reißverschluss zu.

Ziemlich schwer, die Tasche, wundert sie sich auf dem Weg zum Auto. Dabei hat sie diesmal wirklich nicht viel eingepackt.

Letzte Aktualisierung: 19.01.2007 - 20.15 Uhr
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