Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Januar 2007
Seitenspringen
von Chris Bendig

Heute ist es anders als sonst. Sie liegen Haut an Haut, Stefanies Hand streicht über seine Hüfte, seinen Po. Sie lassen sich Zeit, genießen die Wärme unter der Decke in dem kalten Zimmer. Oskar fragt, woran sie denkt.
Sie antwortet nicht mit dem üblichen „Nichts“. Vielleicht ist es heute möglich, ein Gespräch.
„An früher, als wir uns kennen gelernt haben.“
Oskar sagt nichts. Vermutlich spürt er, was sie meint. Früher, als es noch schön war.
Stefanie beißt sich auf die Lippe. War es doch ein Fehler, damit anzufangen? Sie spürt seine Kränkung, und ihr Bauch zieht sich zusammen.

Früher war es toll im Bett! Er war der erfahrene Liebhaber, der reife Mann. Und sie, das junge Mädchen, das vorher nur kurze Liebschaften erlebt hatte. Endlich konnte sich ihm ganz hingeben, intim, nah, auf Dauer.
„Ich fühle mich wieder lebendig mit dir“, sagte er fröhlich und küsste ihre Nasenspitze. „Heirate mich!“
Er verließ seine Familie zu einem Neuanfang, und sie war froh über die perfekte Beziehung. Er spürte, was sie brauchte, gab ihr Halt, wenn nötig, oder Freiraum, wenn sie danach verlangte. Sie liebte ihn leidenschaftlich dafür, mit Haut und Haaren und ihrer ganzen Seele. Immer wieder neu.

Ihm muss es doch auch fehlen. Diese Leichtigkeit! Sie schluckt einmal und meint:
„Weißt du noch, nach der Ü30-Party, in die du mich geschmuggelt hast? Wir waren so high vom Tanzen und sind dann schon in der Küche ...“
„Lange her!“, fällt er ihr ins Wort und dreht sich von ihr weg. Ein wenig nur, aber sie nimmt es wahr.

Als sie den Kinderwunsch äußerte, war er verständnisvoll und fair. Schließlich hatte sie das alles noch nicht erlebt, konnte seinen Nachwuchs, kaum jünger als sie, nicht an Kindes Statt lieben. Sie wollte es selbst erleben, in ihrem eigenen Körper, mit eigenen Genen, und er war wieder verlässlich, schaffte ihr ein Heim.

Ihr Blick fällt auf den Wecker am Bett. Kommt Jonathan gleich vom Sport? Ach nein, heute geht er ja mit zu Lutz. Und Judith ist auf Klassenfahrt. Sie haben also noch Zeit. Viel Zeit!

Irgendwann hat sich ihre Leidenschaft gewandelt. Es lag nicht an ihrem sich wandelnden Körper, an der Müdigkeit während der Zeit des Stillens, an den wenigen Momenten der ungestörten Zweisamkeit. Und nicht an den Schmerzen in seinem steifer werdenden Körper oder der Zunahme an Gewicht. Zumindest nicht an einer Sache allein. Sex, der sie beide verbunden hatte, wurde allmählich zur Last, zu einer Pflicht, die abgeleistet werden musste nach einem langen Arbeitstag. Und das schon seit so vielen Jahren!

Oskar putzt sich die Nase, laut und ausgiebig. Will er Zeit gewinnen? Hat er keine Lust mehr? Mit Lust hat das bestimmt nicht viel zu tun, was wir da so treiben, denkt Stefanie traurig. Auch für ihn kann das doch nicht mehr sein als ein Kratzen, damit das Jucken aufhört. Und doch besteht er immer wieder von neuem darauf, und sie gewährt es ihm.

Immer wenn die Woche um ist, hält sie ihm den Körper hin, bewegt sich mechanisch, filtert Gefühle. Sie hat ihn doch lieb, denkt sie sich, das Gesicht zu einer Maske verzerrt, die Lust vorgaukelt und Ekel und Langeweile dahinter verschließt. Bald ist es vorbei! singt sie mantragleich und stumm oder geht andere Wege: den Geist ausschalten, in der Ferne spazieren gehen oder das Essen für morgen planen. Er ahnt, er weiß es. Seine Fragen :“Na, war´s schön?“, werden immer seltener, und selbst dann schwingt die Bitte mit, ihm die Wahrheit zu ersparen. Dann schmerzt ihr Bauch besonders, und Übelkeit treibt sie aus dem Bett.

Und dann ist da noch etwas hinzugekommen, im Laufe der Jahre. Erst ein flüchtiger Verdacht, dann eine Frage, die immer wiederkam, immer schneller, bevor sich irgendein Fünkchen Lust in ihr rühren konnte, wie beim Hasen und Igel, immer war die Frage zuerst da. Ohne irgendeiner Leidenschaft eine Chance zu lassen, baute sich die Frage aller Fragen auf: „Kann ich mich noch hingeben?“ Anstelle von angenehmen Gefühlen spürte sie nur die Angst, für immer versehrt zu sein, nie wieder loslassen, genießen zu können. Gleichzeitig stieg ihre Scham, ihren Körper, ihre Seele zu entblößen, Gefühle zu zeigen und einfach sie selbst zu sein.

Heute aber ein anderes Programm! Stefanie durchforscht ihren Körper, sucht nach ihrer eigenen Lust. Irgendein Wunsch, ein Gefühl, ein Bild, irgendwas muss doch noch da sein. Sie spürt die Frage, die wie immer im Hintergrund lauert. Schon erstarrt Stefanie, ihr Atem stockt, doch dann verpufft ihre Angst. Die große Frage hat diesmal keine Macht. Sie kann. Sie weiß es.

Wie eine Maskerade hatte sie die Prozedur empfunden, sich zurecht zu machen: mit angenehmen Düften duschen, die dünne Unterwäsche und das enge Kostüm überstreifen, die Formen ihrer Lippen und ihrer grünen Augen zu betonen. Wie eine Fremde war sie in die Hotel-Lobby gestelzt auf Schuhen, die sie seit der ersten Schwangerschaft in einem Karton im Keller aufbewahrt hatte. Dort hatte sie sich ihr Opfer erwählt: nicht den dunkelgelockten Rocky-Verschnitt, unter dessen Hemd sich die Muskeln vielversprechend abzeichneten, sondern den unscheinbaren Geschäftsmann in der Ecke.

Er stellte sich als so passend heraus: nur kurz in der Stadt, beherrschte nur Brocken in Deutsch und Englisch. Sie stammelten bei einem Drink herum, er wirklich bemüht, sie ungeduldig, auf sein Zimmer zu gehen. Sie lehnte auch dort den Drink ab, zog ihn an sich heran, damit er ihren Hals und die Lippen küssen konnte, und sie knöpfte sein Hemd auf. Sein Kopf wirkte massig auf dem schmalen Körper, und ungeniert sagte sie:
„Eine Schönheit bist du wirklich nicht!“ Die Antwort des Mannes war ein angenehmer Singsang in unbekannter Sprache, und in einem warmen Ton fuhr sie fort: „Mal sehen, ob es mit dir klappt ...“ Ihre Sorgen waren unbegründet, das Eis gebrochen. Die angestaute Lust so vieler Jahre brach aus ihr heraus, durchflutete ihren Leib und trieb sie an. Ihre Hände erforschten seinen Körper, seine Lippen auf ihrer ganzen Haut. Plötzlich war sie wieder bei ihrer Lust angekommen, war alles neu und frei und lebendig.

Nachher lag sie noch in seinen Armen, und der Augenblick der Freiheit von Schuld und Scham war vorüber. Als hätte sein Samen das Kondom durchdrungen und ihren Körper infiziert, wurde sie sich des Mannes an ihrer Seite bewusst, drängte ihr Körper nach einem „Noch einmal“.
„Du bist ja doch ein süßer Knubbelknopf!“, sagte sie, selbst überrascht über ihre Worte.
„Knödelkopf?“, fragte er verwirrt, und sie lachte.
Es sollte nichts Persönliches sein, kein „Liebe machen“, nur ein kurzer Fick. Nur der Beweis, dass ihre Lust nicht abgestorben war.
Doch der weiche Blick ihres Gegenübers, seine zärtlichen Fingerspitzen auf ihrer Haut zeigten ihr mehr, als sie sehen wollte. Sie fühlte sich schäbig, doppelt untreu. Ein flüchtiger Kuss noch, dann anziehen und nichts wie weg.

Stefanie schlingt die Arme um Oskar. War es ihm damals auch so ergangen, als sie aufeinander trafen? Hatte er auch geglaubt, dass ein Seitensprung die Heilung wäre? Die Rettung für seine Ehe?
Sie will ihn nicht verlieren. Vor ihr baut sich eine Wand auf, ein vorhersehbares Gemisch von verletzten Gefühlen. Wenn sie sich traut ...
„Wir müssen miteinander reden!“, stammelt sie. Es ist heute anders als sonst.
Sie haben Zeit. Sie ist bereit.











Letzte Aktualisierung: 27.01.2007 - 20.07 Uhr
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