So schlich er denn traurig,
Jammernd um sein väterlich Land, entlang dem Gestade
Am vielerschütternden Meer. Da trat ihm Athene vor Augen.
Odyssee 13, 219-221
Du sitzt in einem Park auf einer Bank, zerknittert, ungewaschen, aber nicht würdelos. Deine Augen sind geschlossen. Wie alt bist du? Du träumst von deiner Mutter. „Es war alles falsch. Wir haben alles falsch gemacht mit dir“, sagt sie, und streckt dir ihre Hand entgegen, durch die halbgeöffnete Tür, hinter der es flammend hell ist. Ihr Blick ist klar und tief. Du greifst nach der von Schmerzen verkrümmten Hand, willst sie auf deine Wange legen, aber lautlos schließt sich die Tür.
Die Augen öffnen sich. Müde ist dein Blick, so unbarmherzig müde. Du gehst durch die fremde, große Stadt, immer auf der Suche. Früher auf diesem Weg bist du mir begegnet. Du hast mich erschreckt, weil ich deine Angst in mir gefunden habe, und bist weiter gegangen. Ich schaue dir nach, aber ich werde nicht weinen um dich.
Du läufst durch ein heruntergekommenes Viertel und triffst Kyra, die du aus der Schule kennst, bald zwanzig Jahre her, Kyra, blond, schlank, mit runden Brüsten und einer schmalen, ein wenig langen Nase. Sie erzählt dir ihre Geschichte. Sie ist Büroangestellte, hat ein Gehalt, eine Wohnung, Freunde, Feten, Urlaube. Sie verliebt sich in einen Stripper. Er sorgt dafür, dass sie ihre Arbeit aufgibt und anfängt, gegen Geld Männergelüste zu befriedigen. Ihr ehemaliger Chef kommt oft. Kyra wacht eines Morgens auf, im Sommer, und weiß, dass der Stripper von ihr lebt. Die Sonne ist verblasst und sie ein im Käfig gehaltenes Tier, starrend von Exkrementen. Sie nimmt ihre Kräfte zusammen, verlässt ihn und geht in eine andere Stadt. Den Beruf behält sie. Sie klingt nicht traurig, als sie davon erzählt.
Kyra lädt dich ein, bei ihr zu wohnen. Wenn sie ihre Besuche empfängt, machst du lange Spaziergänge. Du hast eine Lust in dir, diesen Männern mit einem scharfen Messer die Kehle aufzuschneiden und sie auslaufen zu lassen. „Sänftige Dich!“, möchte ich in dein Ohr flüstern auf deinen langen Wegen durch den Nebel. „Ich habe Angst, verloren zu gehen.“ höre ich dich immer wieder und: „Ich bin nichts Besonderes.“
Drei junge Frauen aus Russland singen in einer Fußgängerzone. Du bleibst stehen und wirfst eine Münze in die Gitarrenhülle. Sie singen von der Heimat. Immer wieder nimmst du Geld aus deiner Hosentasche. Du gehst weiter zu einem großen, schlanken Farbigen mit einer weißen Zipfelmütze. Er spielt auf einer Blockflöte. Es klingt nicht wie Musik. Du denkst an die Kinder, die du nicht hast und die Arbeit, die du nicht tust. Er bekommt nichts. „Ach, du!“, möchte ich sagen, neben dir stehen und mit dem Daumen warm über die Härchen auf deinem Handrücken fahren. Wie gerne möchte ich ihn lichten für dich, deinen Nebel. Wieder ein paar Meter weiter steht ein junger Mann, der die Hand aufhält. Nichts weiter. Du hast einen Geldschein in deiner Hand, als sein Handy klingelt.
In der Nacht schläfst du das erste Mal mit Kyra. Du bezahlst nicht. „Jeder Mensch ist etwas Besonderes“, höre ich mich zu dir sagen. Ich wollte es gern glauben, will es noch. Wie gern. Du kannst nicht schlafen und gehst hinaus, auf einen kleinen, mit Platanen bestandenen Platz, schaust die paar Sterne an, die durch den Nebel zu dir dringen, gehst zurück, trinkst in der Küche Wein und hinterlässt eine Zeichnung, ein paar Bleistiftstriche auf Papier, nichts weiter; vielleicht die Ahnung eines Segelschiffs, beseelt, aber so unfertig, dass es sich während der Betrachtung hinter den Horizont zu entfernen scheint.
Du ziehst in ein Hotel, wäschst dir die Hände, schläfst dich aus, nimmst am Frühstücksbuffet teil und gehst in den Park. Auf deiner Bank sitzt ein einäugiger Mann. Du ziehst einen Zahnstocher aus der Hosentasche und lässt den Einäugigen die Spitze sehen. Er lächelt.
Du gehst in eine Telephonzelle und rufst deinen Vater an und gibst dich als Stellvertreter seines Anlageberaters aus. Ihr sprecht zwanzig Minuten über Aktienfonds, dann hältst du es nicht mehr aus, deine Stimme zittert, als du sagst: „Ich bin es, Dein Sohn. Kann ich nachhause kommen?“ Die Antwort ist Stille. Du willst schon auflegen, da hörst du deinen Vater atmen: „Natürlich. Hier ist dein Zuhause. Dein Zimmer wartet auf dich.“ Du gehst wieder an der Bank vorbei. Es sitzen zwei Frauen darauf, die eine rechts, die andere links. Du passt nicht zwischen sie. Es ist zu eng. Du kaufst dir einen Stadtplan. Ein letztes Mal gehst du in den Park. Wieder sitzt jemand auf der Bank, hübsch anzusehen, schaut dir ins Gesicht, lächelt dich an. Warum erkennst du mich nicht? Was habe ich dir angetan? Du lehnst dich an eine Eiche und schlägst den Stadtplan auf, steigst in ein Taxi und lässt dich zum höchsten Haus der Stadt chauffieren. Der Taxifahrer sieht dich ernst an. Du beruhigst ihn: „Ich will nur jemanden besuchen.“ Und setzt noch hinzu, weil es notwendig scheint: „im 11.Stock“. Er bekommt ein sehr hohes Trinkgeld. Er schaut dich noch einmal an, warnend und verstehend. Ich könnte dich nicht so anschauen.
Du steigst die 46 Stockwerke über die Feuertreppe hinauf. Deine Oberschenkel brennen. Du betrittst die Dachfläche und nimmst das gewaltige Häusermeer wahr, begrenzt in weiter Ferne von grünen Feldern und Wolken verunreinigter Luft. Hier ist kein Nebel. Langsam tastest du dich vor. Ich sehe, wie du etwa einen Meter vor dem Rand stehen bleibst, deine Füße scheinen Blei geworden zu sein. Du zwingst sie vorwärts, schwer, unendlich langsam. Als du endlich ganz am Rand stehst, bemerkst du, wie in der grauen Welt der Straßen und Gebäude nach und nach die Lichter angehen. Du siehst zu, versonnen, beinahe lächelnd, vergisst fast, wo du bist, und warum. Eine starke Windböe erhebt sich, ich will nach dir fassen, dich halten, fest, deinen Kopf an meiner Brust bergen, nein, umgekehrt, mich an dir. Meine Fingerkuppen vibrieren, sie wollen dich zart berühren, nur ganz flüchtig. Die Zirkulation deines Blutes erfühlen, vielleicht an deiner Hüfte, an deinen Lenden hinab gleiten, warm, segnend, keusch. Geil. Doch du breitest die Arme aus, gelassene Endgültigkeit tanzt über dein Gesicht. Jetzt ist der Moment, so geht es also zuende, du siehst in den Abgrund...
... und hörst schrille, holzige Pfeiftöne. Der Neger mit der weißen Zipfelmütze. Das politisch Korrekte ist unwichtig geworden. Er hat kein Geld bekommen. Du siehst auf das Weiß auf seinem Kopf. Alles ist klar. Es gibt keine Möglichkeit, einfach aufzuwachen und alles war nur ein böser, warnender Traum. Weder so, noch so. Also weitermachen.
Ja! Danke, oh, danke, mein Liebster, mein Einziger. Du steigst die 46 Stockwerke hinunter und setzt dich auf die Bank im Park, und der Zipfelmützenflötist setzt sich dazu und ihr macht keine Musik zusammen. Du schreibst an Kyra und legst eine Zeichnung bei - zwei einzelne Menschen, weit voneinander, und ganz am Ende eine vielfach abgelenkte Linie, ein Gebirgskamm oder eine Küste. Du fährst in deine Heimatstadt, ziehst in das Zimmer bei deinem Vater und bist behaust und eingeengt. Du suchst dir eine bezahlte Tätigkeit, du nimmst eine Frau. Kyra bekommt deinen Sohn, von dem sie dir nichts sagt. Wenn er 16,17,18 Jahre alt ist, wird er seine Mutter zwingen von dir zu erzählen. Er wird die Zeichnungen sehen und heraus bekommen, wo er dich finden kann. Er wird mit seinem neuen Auto, auf das er so stolz ist, in deine Stadt, in dein Viertel fahren. Er fährt zu schnell, und du mit einer frisch gekauften Zeitung ignorierst eine rote Ampel, und er kann nicht so schnell bremsen, ich bin nicht da, ich kann nicht immer und überall sein, auch nicht für dich, schöner Geliebter. Die Tür, hinter der es flammend hell ist, öffnet und schließt sich für dich und du triffst deine Mutter.
Letzte Aktualisierung: 20.01.2007 - 20.53 Uhr Dieser Text enthält 7882 Zeichen.