Das war der Mann! Sergej erkannte ihn sofort wieder: die bulligen Schultern, den muskulösen, kompakten Körper, das rundliche Gesicht. Nur die Narbe auf der Wange fehlte, aber Sergej hatte keinen Zweifel, dass der Mann diese Narbe früher oder später erhalten würde. Und dann? Ja dann würde sich der Traum erfüllen – der Alptraum, der ihn schon als Kind aus dem Schlaf gerissen und ihm kalten Schweiß aus allen Poren getrieben hatte:
[i]Der Mann drängt ihn gegen die Wand, presst ihn mit der Kraft seines massigen Körpers schmerzhaft gegen den Beton. Das böse Grinsen nähert sich seinem Gesicht. Sergej riecht den Schweiß des Mannes, riecht seinen eigenen Urin, der ihm warm die Beine hinab rinnt. Und er hört die triumphierende Stimme: „Jetzt wirst du bluten, du Schwein!“. Dann spürt er das Messer, fühlt die kalte Klinge in seinen Unterleib eindringen, sein Fleisch zerschneiden. Zuerst ist da nur das verstörende Gefühl eines fremden Gegenstandes in seinem Körper, aber dann kommt der Schmerz, trifft ihn mit Wucht und der furchtbaren Gewissheit des Todes, und reißt ihn aus dem Schlaf.[/i]
Der Traum hatte sich nie geändert, nicht einmal in Einzelheiten. Er war immer der gleiche geblieben. Als Kind hatte Sergej geweint. Später akzeptierte er den Traum als einen Teil seiner selbst, als Ausdruck seiner Ängste. Niemals hatte er gedacht, dass er dem Mann tatsächlich begegnen würde. Aber jetzt lud er direkt vor ihm verschlissene Möbel aus einem Transporter.
Sergejs Blick wanderte das Hochhaus hinauf und er versuchte auszumachen, in welcher Wohnun der Neue einzog. Das würde sich herausfinden lassen.
Hochhaussiedlung – das bedeutete eine unüberschaubare Fülle von Menschen. Doch Sergej war hier aufgewachsen. Er kannte die lärmenden Kinderhorden, die herumlungernden Halbstarken, die hinter ihren Gardinen lauernden Alten. Nach zwei Tagen wusste Sergej, dass der Mann Heinrich Kaslov hieß: ein alleinstehender Russlanddeutscher und arbeitsloser ...
Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Geschichte gehört zu den Siegergeschichten und erscheint in unserer Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print. Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir uns nicht selbst Konkurrenz machen möchten, indem wir die Geschichte ebenfalls hier komplett veröffentlichen.
Vielen Dank!
Andreas Schröter
Letzte Aktualisierung: 28.02.2007 - 22.04 Uhr Dieser Text enthält 4640 Zeichen.