Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Du hattest es eilig, dir schien die herunter gewehte Kappe egal zu sein. Ich hob sie auf und blickte dir nach, deinem roten Kleid, in das der Wind fuhr und deinem winddurchwirbelten Rotschopf. Eine feine Kappe: wie ein Fes aus glutrotem Samt, umlaufend eine verschlungene Stickerei. Geschmeidig lag sie in meiner Hand. Die nächste Windböe trieb mich in den 109er Bus, dich trieb sie über den Winterhuder Marktplatz davon. Seitdem, seit nunmehr zwei Wochen, beult die gefaltete Kappe meine Jackentasche. Doch ich weiß, dass ich dir begegnen werde, ich habe es deutlich gesehen. Nur wann, das konnte ich nicht erkennen. Eine Kristallkugel mit Datumsanzeige muss schließlich noch erfunden werden.
Es ist nur eine kleine Kugel, gerade so groß, dass sie meine Handhöhle vollkommen ausfüllt. Einst fand mein Großvater sie während eines Landganges in Suez auf einem Gewürzmarkt zwischen Naphta und Kumin. Unscheinbar und gewürzstaubig habe sie auf ihn gewartet, so schwärmte mein Großvater, während in seinen Augen ein Abglanz des Finderglücks leuchtete und seine knotigen Hände nach der glatten Rundung seines Kleinods tasteten. Die Kugel sei ihm durch ein plötzliches Glimmen aufgefallen, gerade so, als habe sie ihm zugezwinkert. Nachdem er sie erhandelte und einsteckte habe sich eine wohltuende Wärme in ihm ausgebreitet. Nun war mein Großvater nie ein Spökenkieker. Er neigte weder zum Frömmeln noch zum Aberglauben. Doch er glaubte fest an die Magie der eigenen Vorstellungskraft, an positive Beeinflussung durch Phantasie und an die Kraft der Schönheit. Eine bloße Kugel schon war für ihn ein perfektes magisches Ding. Die Kraft dieser im Gewürzstaub gefundenen Kugel schien noch durch die Magie Ägyptens gesteigert. Die Kristallkugel begleitete ihn vom jungen Seemannsleben bis hin zu der Zeit, als er schließlich zu meinem Großvater wurde. Ich kannte ihn nur mit dieser typischen Ausbeulung in seiner Hosentasche. Und da ich der einzige Enkel blieb, ging der großväterliche Schatz auf mich über.
Du stehst, mir den Rücken zugekehrt, vor der Stirnseite des Flurs, die ganz vom Wort ‚Glück’ eingenommen wird. Edelstahlglänzendes Glück, dessen mit Stielen verbundene Ü-Pünktchen an die Fühler einer Comic-Raupe erinnern. Ob du deswegen kicherst? Das verräterische Summen meiner Kamera lässt dich aufschrecken und umwenden. Mit erschütternd ernsthaftem Blick sagst du:
„Verblüffend einfach, oder? Nur dieses kühle Silberweiß stört mich – wenn ‚Glück’ doch auf Rot stände! Rot wäre die Sensation.“
Unsere Augen sind auf gleicher Höhe, dein Blick trifft auf mich wie Nougat auf heiße Schokolade. Ehe ich noch einen halbwegs gelungenen Satz über die Lippen bringe, bist du in Richtung Fahrstuhl verschwunden. Dir hinterher hastend, erblicke ich nur noch einen roten Streifen, zu dem die Fahrstuhltür dich unaufhaltsam zusammenschiebt. Ich stürze zum Treppentrakt.
Sollten meine meditativen Sitzungen umsonst gewesen sein? Sollte mein kristalliner Ratgeber nur diese magere Szene gemeint haben? Ohne Hoffnung auf intensive Begegnung? Nein, das kann nicht sein. Ich beschließe, mein Schicksal offensiv zu gestalten. Ich habe ihn schließlich immer dabei, meinen Erbschatz, gehüllt in eben jenes Samttuch, in das er sich schon in meines Großvaters Hosenhöhle schmiegte.
Erst einmal aber hetze ich – ohne Blick für die Guckkästchen mit Schrumpeläpfeln oder für die in Weckgläser verschraubten, zerschnipselten Dessous einer Isländerin – jetzt eile ich von Etage zu Etage. Wo immer gerade eine Hotelsuite besichtigt wird, dränge ich mich durch die Schaulustigen, um nach deinem Rotschopf Ausschau zu halten. Blind für die in grün schimmerndes Glas gefrästen, beleuchteten Zeichnungen der Bettrücklehnen, für die großflächigen Gemälde, für die ganze elitäre Pracht. In der teuersten Suite – dennoch, wie alle Zimmer, überraschend eng - verblüfft mich ein Monsterfernseher, fest verankert vor dem Bett, die Aussicht auf die Alster versperrend. Da fällt mein Blick durch die verglaste Front auf eine kleine rote Gestalt: du überquerst gerade den Zebrastreifen vom Hotel zur Alster.
Heiße und kalte Wellen durchlaufen mich, ich greife links nach der Brusttasche, wie nach meinem Herzen, darin dein Samtkäppchen mich beruhigt, rechts umschließe ich Halt suchend meinen Kristall. Ich kann dir nicht nachblicken, ein Zimmermädchen scheucht die Besuchergruppe aus der Suite.
Voller Bedenken wiegt der Drucker seinen Kopf, als ich mit meinem Plakatwunsch komme: „Alles auf Rot? Was’n für’n Rot: Magenta? Zinnober? Geranium? Scharlachrot? Karminrot? Krapprot? Rubinrot? Granatrot?“
Meine Verwirrung ĂĽberspielend, entscheide ich mich rasch fĂĽr Scharlachrot, um gleich darauf auf Karminrot umzuschwenken. Scharlachrot klingt doch irgendwie krank.
„Ein Plakat bloß? Das wird nicht gedruckt, das wird geplottert!“ Klingt eher nachlässig, aber die zupackenden Hände des Druckers wirken vertrauenswürdig und das Resultat ist überzeugend. Das ‚Glück’ – ich habe das Wort säuberlich aus dem Foto ausgeschnitten, der Drucker hat es gescannt – es scheint vor dem Rubinrot der Fläche zu schweben. Unvermeidbar, dass ich mich fotografierend in der Edelstahlfläche der Buchstaben spiegele. Zunächst ärgert mich das Missgeschick, dann halte ich es geradezu für pfiffig, auf diese Weise deiner Erinnerung nachzuhelfen.
Meine Kugel schweigt, wirkt aber nicht verstimmt. Eher zufrieden-stumm. Sie ruht warm in meiner rechten Hosentasche. Sie ist einverstanden, das fĂĽhle ich.