Mainhattan Moments
Mainhattan Moments
Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Astrid Steiner IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Februar 2007
Raunacht
von Astrid Steiner


Die geheimnisvolle Zeit der Raunächte hatte Anna schon immer fasziniert. Als Tochter eines Tiroler Bergbauern kannte sie die Bräuche rund um den Jahreswechsel gut. Genüsslich erschaudernd, gleichzeitig voll neugieriger Erwartung sah sie jedes Jahr dieser mystischen Zeit entgegen. In der Nacht der Wintersonnenwende ging der Vater räuchernd durch alle Gebäude, über Felder und Wiesen, um die bösen Geister zu vertreiben, damit diese die heilige Zeit nicht störten. In den zwölf Nächten zwischen den Jahren gibt es auch sonst allerlei Magisches. So wird erzählt, dass alles, was mit Zauberei, Weissagungen, Karten legen zu tun hat, besonders wirkungsvoll sei. Schon seit Urzeiten ist jeder dieser Tage ein Lostag mit orakelhafter Bedeutung. Besonders im ländlichen Bereich glauben die Menschen auch heute noch daran.
In dem Dorf, in dem Anna geboren wurde, lebte eine hellsichtige Frau. Ihr Name war Kathi. Jedes Jahr blickte sie für alle, die im kommenden Jahr ihren achtzehnten Geburtstag feierten, in die Zukunft. Niemals aber erzählte sie dem Ratsuchenden direkt, was sie sah. Die Wahrsagerin schrieb alles in ihrer klaren, akkuraten Schrift auf feinstes Papier.
Als Annas großer Festtag bevorstand, bereitete sich diese schon seit dem Sommer auf den Besuch bei Kathi vor. Die weise Frau verlangte als Gabe für ihre Voraussage von den Mädchen ein Glas selbst gekochte Marmelade, ein Paar handgestrickte Socken, eine Näharbeit nach Wahl und einen Strauß getrockneter Kräuter. Die Burschen brachten als Gegenleistung ein Klafter klein gehacktes Holz, einen Korb vollgefüllt mit Holzspänen zum Anheizen des Feuers und einen Sack voll Kartoffeln. Niemals hätte es jemand gewagt auch nur eines der Geschenke nicht eigenhändig zu sammeln oder anzufertigen. Zur Wintersonnenwende gegen Mitternacht trat Anna mit gefülltem
Weidenkorb in Kathis heimelige Stube. Nachdem Kathi aus Annas linker Hand, den Karten und in tiefer Meditation den Lebensweg der jungen Frau vorausgesehen und niedergeschrieben hatte, versiegelte sie den Brief und übergab ihn Anna mit den Worten: „Du weißt, dass ich dir heute noch nicht verrate, was ich gesehen habe. Du wirst es fühlen, wann die Zeit gekommen ist den Umschlag zu öffnen. Lass vierundzwanzig Stunden verstreichen. Solltest du dann immer noch dasselbe empfinden, öffne ihn. Darin wirst du die Antwort auf deine Frage finden. “Mit diesen Worten entließ Kathi die junge Frau.
Im Frühling des kommenden Jahres verließ Anna kurz nach ihrem Geburtstag ihr Heimatdorf um
eine Stelle als Stubenmädchen in einem Hotel im Tal anzunehmen. Ein paar Monate später
verliebte sie sich in den Hotelmanager Peter. Aus Verliebtheit wurde Liebe. Ein Jahr später heirateten die beiden. Nur fünf Monate danach brachte Anna ihren ersten Sohn zur Welt. Die Freude der kleinen Familie war groß. In den nächsten drei Jahren gesellten sich noch zwei Geschwister dazu. Nach der Geburt des zweiten Kindes hörte Anna auf zu arbeiten. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass der Besitzer des Hotels keinen Erben für seinen Betrieb hatte. Er machte Peter ein faires Angebot und so konnte das junge Paar mit Unterstützung von Peters Eltern das Ganze übernehmen. Jahre harter Arbeit folgten, in der wenig, aber dafür umso liebevollere, Zeit für die Familie blieb. Annas und Peters Liebe war stark genug. Nach ein paar Jahren florierte der Betrieb. Das Paar wollte sich wieder mehr Zeit füreinander nehmen. Das Schicksal hatte anderes
vor. Im Alter von nur vierunddreißig Jahren verstarb Peter bei einem Verkehrsunfall. Damals dachte Anna, dass auch ihr Leben vorbei wäre. In diesen Tagen war sie nahe dran den Brief zu öffnen. Doch als die vierundzwanzig Stunden verstrichen waren, ließ sie das Schriftstück wieder zurück in die Schublade des alten Schreibtisches gleiten. Für die Zeit des Überdenkens hatte Anna sich in die Berghütte ihrer Eltern zurückgezogen. Sie betete, meditierte, haderte, weinte, schrie sich ihren Kummer von der Seele. Doch dann wusste sie, was sie zu tun hatte. Schließlich warteten drei kleine Kinder, die gerade ihren Vater verloren hatten und nun ihre Fürsorge umso mehr brauchten, auf sie. Der Betrieb musste weitergeführt werden, da blieb nicht viel Zeit um lange in Trauer zu versinken. Es folgten viele Jahre, in denen Anna ausschließlich für ihre Kinder und die Arbeit lebte. Die Liebe zu ihren Kindern gab Anna ihren Lebensmut zurück. So kam es, dass sie trotz allem ein reiches, erfülltes Leben führte. Das Hotel lief ausgezeichnet, die Kinder entwickelten sich prächtig. Sie konnte allen ein Studium ermöglichen. Anna war bei Gästen und Freunden beliebt, die inzwischen erwachsenen Kinder erfolgreich und der Mutter in Liebe zugetan. Anna war dankbar für all dies und dennoch gab es etwas in ihr, das nach dem frühen Tod ihres Mannes mit stiller Trauer erfüllt war. So wunderte es sie nicht wirklich, als ihr der Arzt eines Tages mitteilen musste, dass sie Krebs hätte und dieser schon sehr weit fortgeschritten wäre, denn auch für einen früheren Arztbesuch hatte sie sich nie die Zeit genommen. Ein langer Krankenhaus- und Kuraufenthalt folgten. Als Anna schließlich ein paar Monate später wieder nach Hause kam, wusste sie, dass der Krebs wiederkommen würde. Nur wie lange sie noch zu leben hatte, konnte ihr niemand sagen. Nun schien ihr der Zeitpunkt gekommen den Brief zu öffnen. Wieder zog sie sich in die Berghütte ihrer inzwischen greisen Eltern zurück. Doch diesmal bestärkte sie die vierundzwanzig Stunden währende Bedenkzeit in ihrem Vorhaben. Am frühen Morgen, die Sonne krabbelte gerade hinter dem gegenüberliegenden Bergrücken hervor, setzte sich Anna auf die verwitterte Bank vor der Hütte, meditierte und öffnete schließlich feierlich den Umschlag. In Kathis unverkennbarer Schrift stand zu lesen:Vertraue der Stimme deiner Seele. Folge der Spur deiner Träume und sie werden Wirklichkeit werden! Nütze die Zeit, die dir noch geschenkt wird!. Sie würde leben! Anna wusste nun was zu tun war. Als Erstes verkaufte sie ihren Besitz. Keines der Kinder hatte Interesse am Hoteliersgewerbe gezeigt. Anna ließ alles hinter sich. Als neues Zuhause wählte sie die Insel Hiddensee, in die sie sich schon vor Jahren verliebt und wo sie auch schon einige Urlaube verbracht hatte. Hier kaufte sie ein kleines Reet gedecktes Häuschen nur wenige Meter vom Meer entfernt. Ihr neues Leben konnte beginnen.
Nach einer Zeit der Ruhe meldete sich ihre verschüttete Kreativität zurück. Malen, schreiben,
lesen, lange Strandwanderungen bestimmten ihren Alltag. Sie lebte! Freude, Dankbarkeit,
Angenommensein. Sie war der Spur ihrer Träume gefolgt. Sie fühlte sich rundum wohl.
Eines Abends im Spätherbst ihres zweiten Inseljahres geschah etwas, das ihr Leben noch einmal verändern sollte. Anna war am Strand vor Müdigkeit eingeschlafen. Zum Glück fand sie ein Fischer, denn die Nächte konnten schon empfindlich kalt werden. Er rüttelte sanft an ihren Schultern. Abwehrend hob sie zunächst ihr Arme, doch da sah sie in seine warmen, graugrünen Augen und wusste plötzlich WARUM sie noch immer lebte. Ihm schien es ähnlich zu ergehen und so lud er sie auf eine Tasse wärmenden Hollunderblütentee ein. Dankend nahm Anna an. Ein seltsames Gefühl der Vertrautheit und der Zusammengehörigkeit verband die beiden von der ersten Minute an. Viele Abende verbrachten sie nun schweigend aneinander gekuschelt oder auch angeregt diskutierend vor Jans Fischerhütte oder in Annas gemütlichem Häuschen. So erfuhr Anna von Jans Leben, das dem ihrigen nicht unähnlich gewesen war und auch warum er sich Hiddensee als Ort für seinen Lebensabend ausgesucht hatte. Manchmal fuhr Jan mit den Fischern aufs Meer und half ein wenig mit. Daheim las er sich quer durch die Weltliteratur und genoss jeden Tag, den er erleben durfte. Sie wussten, es war kein Zufall, dass sie einander begegnet waren. Das Schicksal hatte es noch einmal gut mit ihnen gemeint. Die Gefühle für einander waren getragen von großer Wertschätzung, Liebe und Wärme. Jan und sie verlebten vier wunderbare, glückliche Jahre. Sie wussten beide, dass ihre Zeit miteinander nur von kurzer Dauer war und nützten jede gemeinsame Minute. Jan war um Einiges älter als Anna, sein Herz nach zwei Herzinfarkten geschwächt. Eines Morgens erwachte Anna, wie immer eng an den Geliebten gekuschelt. Sie fühlte, dass etwas anders war. Jan war tot. Vermutlich erst seit wenigen Minuten, denn sein Körper war noch warm und weich. Seinem letzten Willen entsprechend, ließ sie das, was von ihm an Irdischem verblieben war, verbrennen. Am Abend, als die Sonne gerade unterging, ließ sich Anna von einem der Fischer weit hinaus aufs offene Meer fahren, wo sie seine Asche verstreute. Das war vor einem Jahr gewesen. Bald nach Jans Tod war der Krebs zurückgekehrt. Sie hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Starke Medikamente machten die letzten Monate erträglich. In ihr waren Frieden und Ruhe eingekehrt. Von Tag zu Tag wurde sie müder und schwächer, sie aß kaum noch, schlief viel, saß stundenlang am Strand um dem Lied des Meeres zu lauschen, ihre Gedanken mit den Wogen ziehen zu lassen. Eines Morgens im Herbst, der Zeit, die sie so sehr liebte, spürte Anna, dass nun auch ihr irdisches Leben zu Ende ging. Sie war bereit weiterzuwandern. Mit ruhiger Gelassenheit schlüpfte sie in ein weich fallendes, lichtblaues Kleid, ließ ihr langes weißes Haar über die Schultern fließen und machte sich auf den Weg. Tief versunken und ganz eins mit sich und dem Universum wanderte sie durch die Dünen bis zu der Bucht, in der Jan und sie einander das erste Mal begegnet waren. Bevor sie sich zum Sterben ans Meeresufer legte, verbeugte sie sich in alle vier Himmelsrichtungen, bedankte sich bei Mutter Erde, den Winden, den Fluten. Sie spürte ihre Kräfte schwinden, sackte in sich zusammen. Ihre Seele hatte sich auf den Weg gemacht.
Fischer, die sie ein paar Stunden später fanden, erzählten, dass sie noch nie eine so glücklich lächelnde Tote gesehen hätten.

Astrid Steiner
14.Februar 2007

Letzte Aktualisierung: 14.02.2007 - 20.42 Uhr
Dieser Text enthält 10093 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.